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BERICHT/142: XVIII. Rosa-Luxemburg-Konferenz - Drum links, zwei, drei! (SB)


Strategien gegen sozialen Widerstand kritisch in den Blick genommen


Podium mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern - Foto: © 2013 by Schattenblick

Abendliche Podiumsdiskussion
Foto: © 2013 by Schattenblick

Drangvolle Enge in den Gängen und Ausstellungsbereichen, die Urania platzt aus allen Nähten. Wie jedes Jahr um diese Zeit, findet am 12. Januar 2013 im Veranstaltungsgebäude des Vereins Urania Berlin e. V. die Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz statt. Auch ihre 18. Ausgabe ist mit mehr als 1800 Besucherinnen und Besuchern ein Treffpunkt für Linke zwar nicht aller Couleur, aber doch eindeutig rot gefärbter Provenienz. So befinden sich unter dem Publikum, das am Samstagmorgen zu diesem seit 1962 als Vereinszentrum fungierenden Treffpunkt in Berlin-Schöneberg strömt, viele Jugendliche, denen man bereits von weitem ansieht, daß sie tags darauf die alljährliche Liebknecht-Luxemburg-Demo mit Abschluß auf der Gedenkstätte der Sozialisten auf dem Friedhof Friedrichsfelde besuchen werden. Für eine radikale und revolutionäre Linke, die sich bei allen nicht zu vernachlässigenden Kämpfen ökologischer, genderbewegter oder stadtpolitischer Art zur Tradition des antikapitalistischen Antifaschismus und Internationalismus bekennt, sind Konferenz und Demonstration nicht nur Pflichttermine, sondern Ausdruck eines sozialen Widerstands, der bei aller Aggressivität der antikommunistischen Leitdoktrin nicht seiner klassenkämpferischen Substanz entledigt werden konnte.

Gastronomiebereich mit Grafik von Thomas J. Richter - Foto: © 2013 by Schattenblick

Treffpunkt mit aktivistischem Walfisch
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So sind zahlreiche linke Projekte, Gruppen, Unterstützerorganisationen und Parteien auf der Konferenz mit Ständen präsent, die neben dem offiziellen Programm ihrerseits zu Foren intensiver Gespräche und Diskussionen werden. Darunter befanden sich sowohl viele Organisationen aus dem Ausland als auch Organisationen in der Bundesrepublik lebender Migrantinnen und Migranten, was staatlicherseits nicht etwa als Beweis gelungener Integration betrachtet, sondern als ganz und gar unerwünschtes Engagement observiert und verfolgt wird. Darüberhinaus herrscht an den Tischen der Urania-Gastronomie im ersten Stock ein reges Kommen und Gehen, scheinen doch dem Bedürfnis, sich mit alten Genossinnen und Genossen wie neuen Freundinnen und Freunden auszutauschen, keine Grenzen gesetzt zu sein. Die persönliche Begegnung ist bei aller Erweiterung, die individuelle Kontakt- und Kommunikationsmöglichkeiten durch das social networking im Internet erfahren haben, nicht zu ersetzen.

Foyer der Urania - Foto: © 2013 by Schattenblick

Reger Austausch an den Büchertischen
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Fast könnte man meinen, daß sie um so wertvoller werden, als die Virtualisierung des Sozialen in einer von großen IKT-Konzernen kontrollierten und den Interessen der Werbewirtschaft durchdrungenen Sphäre nur scheinbar neutralen, im konkreten Vollzug sozialtechnokratischer Verfügungsgewalt jedoch sehr staats- und kapitalkonformen Instanzen unterliegt. Entwicklungen wie die Verlagerung sozialer Proteste in netzgestützte Unterschriftenaktionen professionalisierter Kampagnennetzwerke bieten Befriedungsoptionen innovativer Art an, deren Kritik unter dem Begriff des Clicktivism bislang nicht so viel Aufmerksamkeit erhalten hat, daß die Korrumpierbarkeit der Medialisierung demokratischer Intervention durch institutionelle und finanzstarke Akteure in angemessener Weise problematisiert wird.

Bücher aus aller Welt - Foto: © 2013 by Schattenblick

Kein Lesewunsch bleibt unbefriedigt
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Wie konventionell die aktivistischen Praktiken des Verteilens von Flugblättern, des Auslegens gedruckter Schriften, des persönlichen Gesprächs und der öffentlichen Diskussion auch erscheinen mögen, der von der Konferenz ausgehende Impuls, sich Gedanken über den Stand der Linken und die Notwendigkeit zu machen, auf der Höhe der Zeit und darüber hinaus streitbar Position zu beziehen, ist in seiner Wirksamkeit nicht zu unterschätzen. Dabei geht es nicht nur um das erhebende Gefühl der Gemeinsamkeit beim abschließenden Singen der Internationalen oder andere Effekte massenwirksamer Inszenierung. Von der einzigen marxistisch orientierten Tageszeitung der Republik veranstaltet, ist die Rosa-Luxemburg-Konferenz auch ein Forum gesellschaftskritischer Debatte und Publizistik, auf dem zentrale Fragen der Durchsetzung herrschender Interessen und des dagegen gerichteten Widerstands greifbar und entwickelbar gemacht werden.

Am Rednerpult - Foto: © 2013 by Schattenblick

Dietmar Koschmieder freut sich über vorerst gesichertes Erscheinen der jW
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So meldete sich jW-Geschäftsführer Dietmar Koschmieder im November 2012 mit einem Beitrag in eigener Sache zu Wort, um angesichts der angespannten Finanzlage der Zeitung zu begründen, warum dennoch nicht auf die sehr aufwendige und teure Ausrichtung der Konferenz verzichtet werden soll. Was seiner Ansicht nach heute nicht mehr neu initiiert werden könnte, weil es schlicht unbezahlbar wäre, und nur aufgrund der ausgebauten und bewährten Infrastruktur mit kostenlos arbeitenden Unterstützerinnen und Unterstützern Bestand haben kann, sei

"eine Ausgabe der jungen Welt mit anderen Mitteln: Innen- wie außenpolitische Momente werden aufgegriffen, Kultur und linke Analyse sind Gegenstand des Treffens und der Zeitung. Die Besucher der Veranstaltung sind wie die Leser der jW: Sie kommen aus allen Altersgruppen, aus Ost und West, dem In- und Ausland, es sind Gutverdienende bis Mittellose, Lehrende und Lernende. Eine Kombination, die es ansonsten bei Tageszeitungen - aber auch bei solchen Veranstaltungen - nicht gibt. Denn meistens bleiben die einzelnen Gruppen lieber unter sich. Bei junge Welt und der Konferenz ist das anders: Es eint die Überzeugung, daß bestehende Verhältnisse nicht nur zu kritisieren, sondern durch bessere abzulösen sind. Wenn auch über das Wie, Wann und Mit wem noch heftig gestritten wird. Dieses Treffen und diese Tageszeitung sind wichtig, um bestehende Verhältnisse zu durchschauen, den Blick nicht nur auf deutsche und europäische Verhältnisse, sondern auch auf internationale Entwicklungen zu richten." [1]

Nämlicher Streit unter Linken ist inzwischen so entwickelt, daß nicht nur inhaltliche Welten etwa zwischen der Wochenzeitung Jungle World, die 1997 aus einem Streit um die Blattlinie der jungen Welt hervorgegangen ist, und der Tageszeitung selbst liegen, sondern regelrechte ideologische Unvereinbarkeiten. Das gesellschaftliche Spektrum, das sich zur Überwindung der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse bekennt, umfaßt denn auch längst nicht mehr die gesamte sogenannte Linke, sondern nurmehr einen allerdings inhaltlich weit in die mit dem manifesten Ausbruch der Krise des Kapitals aufgekommenen sozialen Protestbewegungen reichenden Flügel. Inwiefern dies etwa auch für die Gewerkschaften gilt, bleibt in Anbetracht der strikt auf sozialdemokratischen Kurs gebrachten Massenorganisationen der Arbeiterbewegung bestenfalls offen. Auch die kräftig zur politischen Mitte hin schielende Partei Die Linke ist nur noch bedingt Bündnispartnerin einer antikapitalistischen Linken, die sich mit der neoliberalen Paßform sozialfreundlicher Reformpolitik nicht zufriedengeben will.

Beim Vortrag - Foto: © 2013 by Schattenblick

Medienkritisches von Ignacio Ramonet
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Die Bestimmung des politischen Standortes ist mithin entscheidend für die gesellschaftliche Wirksamkeit einer Linken, die durch die hochentwickelten Adaptions- und Einbindungsstrategien des hegemonialen Blocks nicht zu vereinnahmen sein will. Daß diese auf konventioneller Repression basieren und die Grenzen der pluralistischen Demokratie und Rechtstaatlichkeit so eng gezogen sind, daß das Subjekt der Marktgesellschaft nicht folgenschwerer irren könnte, wenn es die propagierte Freiheit außerhalb der Privilegien der Kapitalmacht für bare Münze nimmt, war Gegenstand zentraler Themenstellungen der Konferenz.

Leuchtschrift 'Wer hat Angst vor wem?' - Foto: © 2013 by Schattenblick

Eine Frage verlangt nach Positionierung
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So konnte das Publikum unter der Frage "Wer hat Angst vor wem?" zum einen aus dem Munde lateinamerikanischer Referenten erfahren, wie der Stand der linken Gegenbewegungen ist, die sich auch unter den Regierungen mehrerer Länder im globalen Süden des amerikanischen Kontinents gebildet haben, und vor welchen Problemen sie stehen. Zum andern vermittelten mehrere Aktivistinnen und Aktivisten aus der US-amerikanischen Gefangenensolidarität am Beispiel der Opfer der brachialen politischen Justiz des Landes einen Eindruck davon, mit welchem Ausmaß an Menschenfeindlichkeit man es auch hierzulande zu tun bekäme, wenn der soziale Widerstand durch die Mechanismen und Methoden der repressiven Toleranz nicht mehr zu bändigen ist.

Der rassistische Charakter der US-Strafjustiz, die in Stein gemeißelten Grausamkeiten der Hochsicherheitstrakte und Supermax-Knäste, die kapitalistische Logik des gefängnisindustriellen Komplexes, die Aussichtslosigkeit der als Ersatz für die Todesstrafe verhängten lebenslangen Zeitstrafen ohne jegliche Begnadigungsmöglichkeit, die jahrzehntelang währende Isolation widerständiger Gefangener und die Folterung nicht nur sogenannter Terrorverdächtiger, sondern ganz normaler Strafgefangener sind Beispiele für einen staatlichen Unterdrückungsmechanismus, der immer unverhohlener in der Logik des antiterroristischen Ausnahmezustands gegen jeglichen demokratischen Rechtsanspruch durchgesetzt wird. Da die Aussetzung der Rechte von Gefangenen auf gesetzlicher Grundlage wie auf wiederrechtliche Weise nicht nur in den USA gang und gäbe ist, sondern auch NATO-Staaten wie die Türkei betrifft, gibt es keinen Grund, entsprechende Entwicklungen in den selbsternannten Kernstaaten der EU prinzipiell auszuschließen.

Podium mit Diaprojektion - Foto: © 2013 by Schattenblick

Zurichtung von Gefangenen anschaulich gemacht
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Der mit dem Mittel staatlicher Freiheitsberaubung geführte Klassenkampf von oben steht als massive Gewaltandrohung permanent im Raum und beeinflußt politische Richtungsentscheidungen, ohne daß die Konfrontation mit dem Staat eigens gesucht werden müßte. Doch auch diese archaische Zurichtung der Gesellschaft auf ihre Beherrschbarkeit bedarf der Zustimmung einer Bevölkerung, die die legitimatorische Suggestion der Herrschaftslogik, der sie sich unterwirft, nicht durchschaut. So sind Entsolidarisierung und Entdemokratisierung in ihrer Breitenwirkung nicht zu verstehen, wenn der durchweg als fortschrittlich empfundene Anspruch auf gesellschaftliche Partizipation nicht in der Ambivalenz einer Teilhaberschaft am gesellschaftlichen Wohlstand verstanden wird, die sich wiederum im sozialdarwinistischen, neokolonialistischen und imperialistischen Sinne gegen andere Menschen richten kann.

Transparent 'Freiheit für Bradley Manning' - Foto: © 2013 by Schattenblick

Mißhandelt und isoliert für mutige Aufklärung
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Die Ambivalenz gesellschaftlicher Teilhaberschaft

Der Kapitalismus hat viele Gesichter nationalstaatlicher und supranationaler Herrschaftssicherung, die vom demokratisch verfaßten Rechtsstaat bis zur faschistischen Diktatur reichen. In Abhängigkeit von historischen Verläufen der Klassenkämpfe und Verwertungsformen wie auch kriegerischen Auseinandersetzungen und Bündnissen etablieren sich für gewisse Fristen höchst unterschiedlich anmutende gesellschaftliche Bedingungen, denen doch eines gemeinsam ist: Maxime der Sachwalter und Profiteure einer kapitalistischen Eigentumsordnung bleibt stets die Bestandssicherung und Fortschreibung des Gewaltverhältnisses, mit dem die herrschende Klasse ihre Suprematie zu sichern trachtet.

Das tritt in der jüngeren deutschen Geschichte mit ihrer unmittelbaren Abfolge von Nationalsozialismus, Trennung in BRD und DDR im Zuge der weltweiten Blockbildung und Angliederung des für besiegt erklärten östlichen Teils Deutschlands in relativ dichter zeitlicher Abfolge auf besonders konturierte Weise hervor. Es zeigt sich aber auch in aller Deutlichkeit, wenn man den Imperialismus als notwendige Expansion des Kapitalismus einbezieht: Westliche Demokratien paktieren ganz nach ökonomischem Bedarf und strategischem Kalkül mit despotischen Regimen und repressiven Fraktionen in aller Welt, wie sie auch ihre hegemonialen Interessen mit dem gesamten Arsenal der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Übermacht durchsetzen. Im globalen Zusammenhang sind Krieg und Frieden, Sklaverei und Lohnarbeit, Sozialstaat und tiefstes Elend, Wohlstand und Hungertod parallel auftretende Erscheinungsformen derselben kapitalistischen Verwertung.

So verschieden die konkreten Lebensverhältnisse all jener sein mögen, die nichts anderes feilzubieten haben als ihre Arbeitskraft, bleibt ihre Gemeinsamkeit doch die bloße Illusion eines Besitzstandes. Was immer ihnen heute versprochen und morgen vielleicht sogar gewährt wird, kann ihnen übermorgen wieder genommen werden. Dies dokumentiert die rasant fortschreitende Entsorgung des deutschen Sozialstaats wiederum auf krasse Weise, indem der Sturz wachsender Teile der Bevölkerung aus der Sphäre relativen Wohlstands in den Abgrund der Armut und Ausgrenzung besonders tief erscheint. Wer dagegen entschieden zu Felde zieht, kann nicht umhin, sich damit zu konfrontieren, daß er längst alles verloren hat. Was immer er noch sein eigen nennt, ist ein wiedergewährter Bruchteil des ursprünglich Geraubten und mithin ein bloßes Lehen, das ihn in der Fessel von Lohn und Entzug gefangenhält.

Herrschaft, die stets über vielfältige Zwangsinstrumente gebietet, kommt doch als institutionalisierte Vorteilsnahme weniger zu Lasten vieler nie ohne Beteiligung letzterer aus. Den eigenen Vorteil im Schaden des anderen zu erkennen, ist kein Prinzip, das der NS-Staat erfunden hätte. So brutal sein Machtstreben, so repressiv sein Regime und so ausgefeilt seine Propaganda auch war, jubelten die Massen doch nicht nur deshalb, weil sie in beträchtlichem Ausmaß getäuscht wurden. Es war ihr eigenes Streben nach stabilen Verhältnissen, Lohn für Brot, nationaler Größe und Ausmerzung des Schwachen, das ihre Beteiligung auf den Plan rief. So war der sogenannte Nationalsozialismus sowohl eine von maßgeblichen Fraktionen des deutschen Kapitals favorisierte Waffe gegen die drohende gesellschaftliche Umwälzung als auch zur gewaltsamen Eröffnung neuer Verwertungsmöglichkeiten. Er war zugleich eine von erheblichen Teilen der Bevölkerung gutgeheißene Variante einer Untertanenschaft, von der sie auf dem Rücken anderer reitend zu profitieren hofften.

Ob als Potential im Hintergrund oder an der Front gesellschaftlicher Auseinandersetzungen in Stellung gebracht, bleibt repressive Staatlichkeit durchweg eine Option. Daß sie ihr Erscheinungsbild fortlaufend modifiziert, liegt in der Natur innovativer Verfügungsgewalt, die ihre Ideologie und materielle Konkretisierung unablässig vorantreibt. Zugleich ist die Bereitschaft der Bürger beständig präsent, ihre Beteiligung an den daraus resultierenden Zwangsverhältnissen als Zugewinn und Fortschritt oder doch wenigstens Abwendung noch schlimmerer Lebenslagen durchzutragen. Sozialrassismus, Antiislamismus, Menschenrechtskriege und die doktrinäre Gleichsetzung von Sozialismus und Diktatur zeugen von einer denkkontrollierenden Durchdringung bis hinein in die vielzitierte Mitte der Gesellschaft.

Neonazistische Gesinnung und Praxis sind mithin weder die aktuelle Speerspitze, noch eine unabdingbare Komponente der Herrschaftssicherung nach dem Ende des deutschen Sozialstaats. Dennoch bleibt sie eine sowohl gezüchtete als auch instrumentalisierte Option, die sich direkt oder mittelbar gegen Bewegungen, Organisationen und Parteien der Linken zum Einsatz bringen läßt. Die Rechte hat so große Schnittmengen mit repressiver Staatlichkeit, daß man zwar nicht von Identität, doch ebensowenig von grundsätzlicher Gegnerschaft sprechen kann. Beider Feind sind und bleiben antikapitalistische Strömungen, die sich eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf die Fahne geschrieben haben. Wenn daher extremismustheoretisch und sicherheitsstaatlich die Hand pro forma gegen beide Enden des politischen Spektrums erhoben wird, trifft der Schlag letzten Endes doch stets die Linke.

Leuchtschrift 'Der Feind steht links' - Foto: © 2013 by Schattenblick

Der Kampfansage zuvorkommen
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Die Rechte steuern, um die Linke zu treffen

Unter dem Titel "Der Feind steht links" wurde am Beispiel des läßlichen Umgangs mit der NSU-Staatsaffäre in der abendlichen Podiumsdiskussion deutlich gemacht, daß die Verwicklungen bundesdeutscher Geheimdienste und Polizeikreise in neonazistische Strukturen allem anderen als bloßen "Fehlern" oder "Pannen" geschuldet waren. Nachdem der "Nationalsozialistische Untergrund" vierzehn Jahre lang unbehelligt Morde, Bombenanschläge und Banküberfälle verübt hatte, markierte der 4. November 2011 die Schnittstelle zur Vertuschung dieser Vorgeschichte und Perfektionierung des Inlandsgeheimdienstes. Fortan sprach man vom Versagen des Verfassungsschutzes und forderte vehement dessen Reform, wie auch eine generelle Zentralisierung von Geheimdiensten und Polizei.

Arnold Schölzel - Foto: © 2013 by Schattenblick

Führt durch den Treibsand brauner Umtriebe
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Unter Moderation von Arnold Schölzel (Chefredakteur junge Welt) nahmen Gabriele Heinecke (Rechtsanwältin), Susann Witt-Stahl (Publizistin), Sandra Bakutz (Aktivistin), Patrik Köbele (stellvertretender Vorsitzender der DKP) und Bodo Ramelow (Fraktionsvorsitzender Die Linke im Landtag Thüringen) zur Frage Stellung, was diese Vorgänge für die politische Linke bedeuten und wohin sich der bundesdeutsche Staat entwickelt.

Arnold Schölzel erinnerte eingangs daran, daß Neonazis in der Bundesrepublik seit 1990 fast 200 Menschen umgebracht haben, ohne daß sich im staatlichen Verhalten etwas geändert hätte. Wie das BKA im vergangenen Jahr und das Bundesverfassungsgericht beim ersten NPD-Verbotsverfahren bestätigt haben, wurde der Neonazismus sogar gefördert. Wenngleich die Ideologie des Neofaschismus viele Schnittmengen mit deutschen Ausländerfeinden habe, werde unverdrossen die Extremismustheorie zur Grundlage staatlichen Handelns gemacht, die sich gegen die Linke richtet. Als das Treiben des NSU Ende 2011 publik wurde, hätten die Medien eine Art Schock in der Bundesrepublik konstatiert. Zugleich werde dieses Thema aber auch von der Linken nur selten grundsätzlich angefaßt. Warum das so ist, solle Thema des Podiums sein.

Gabriele Heinecke - Foto: © 2013 by Schattenblick

Kontinuität der Rechten ungebrochen
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Die Hamburger Rechtsanwältin Gabriele Heinecke war unter anderem Verteidigerin von Safwan Eid, der 1996 angeklagt wurde, seine eigene Flüchtlingsunterkunft in Lübeck angezündet zu haben, während drei am Tatort befindliche Neonazis trotz Brandlegerspuren nicht verfolgt wurden. Sie war Verteidigerin von Willi Stoph, vertrat die Nebenklage im Prozeß um den Feuertod von Oury Jalloh in einer Dessauer Polizeizelle und setzte sich für die Entschädigung von griechischen und italienischen Opfern von Massakern von Wehrmacht und SS ein.

Arnold Schölzel zitierte Gabriele Heinecke mit den Worten: "Es ist an der Zeit, über die Ursachen der Verquickung staatlicher und faschistischer Organisationen nachzudenken." In diesem Land habe es viele schöne Worte, aber nie einen Bruch mit der Vergangenheit gegeben. Der NSU sei keine Panne, sondern konsequente Folge dieser Politik. 1990 erklärte Antje Vollmer von den Grünen im Bundestag, ihre Generation habe diese deutsche Gesellschaft gründlich zivilisiert. Jürgen Habermas sprach von einer Fundamentalliberalisierung in der Geschichte der Bundesrepublik. Heinecke sage demgegenüber zur NSU-Aufklärung, die Öffentlichkeit werde am Nasenring herumgeführt.

Die Anwältin unterstrich, daß die Kontinuität des Schutzes Rechtsradikaler in dieser Republik jeder gründlichen Recherche zugänglich sei, aber dennoch abgestritten werde. Was also schütze der Verfassungsschutz? Die Verfassung sei seit 1949 oft verändert worden: Namentlich die Notstandsgesetze, die Berufsverbote, die faktische Abschaffung des Asylrechts und der Bundeswehreinsatz in aller Welt hätten neue Maßgaben geschaffen. Der Verfassungsschutz schütze nicht etwa die Verfassung, er sei vielmehr ein Geheimdienst und ausdrücklich gegen jene aufgebaut worden, die den Kapitalismus in Frage stellen. Hingegen sei Faschismus eine Herrschaftsform des Kapitalismus, weshalb kein antagonistischer Widerspruch zwischen jenen, die den Kapitalismus schützen, und denen, die ihn lediglich in anderer Form bevorzugten, existiere. Nach dem Zweiten Weltkrieg seien die drei Westzonen zu einem Vorzeigeprojekt gegen den Sozialismus ausgebaut worden.

Ab September 1950 wurde der Verfassungsschutz von dem Liberalen Otto John aufgebaut, der am 20. Juli 1954 zeitweise verschwand und angeblich entführt worden war. Ihm folgte Hubert Schrübbers, der von 1955 bis 1972 Präsident blieb. Er war früher SA-Mann und Staatsanwalt mit grausamsten Strafanträgen, in seine Präsidentschaft fällt die extensive Verfolgung von Kommunisten, Antifaschisten und Kriegsgegnern. Wie andere Institutionen wurde auch der Verfassungsschutz an allen wesentlichen Schaltstellen mit früheren Nazis aufgebaut. In den 50er Jahren trug er maßgeblich zur Verfolgung der Freien Deutschen Jugend, der KPD und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes bei. In den 60er Jahren verfolgte er Kommunisten und Antifaschisten, in den 70er und 80er Jahren beschaffte er die Handhabe für Berufsverbote. Er war maßgeblich beteiligt an der bleiernen Zeit mit ihrer Jagd auf Sympathisanten der RAF und in den 90ern involviert in Brandanschläge auf Migranten.

Seit 1990 habe eine weitere Verschärfung eingesetzt. 1993 warf der damalige BKA-Chef Hans-Ludwig Zachert dem Verfassungsschutz völliges Versagen hinsichtlich seiner Aufgabe vor, ein Frühwarnsystem gegen Rechts zu sein. Das Personal wurde aufgestockt, angeblich um die Rechten stärker unter Beobachtung zu stellen, doch blieben Resultate weitgehend aus. Rechte Organisationen und Vernetzungen wurden bagatellisiert, selbst wenn sie gewalttätig waren. Dies erinnere an die Weimarer Zeit mit den faschistischen Freicorps, der Ermordung Liebknechts, Luxemburgs wie auch vieler revolutionärer Arbeiterinnen und Arbeiter. Nach der Ermordung Walther Rathenaus erklärte der Staatsgerichtshof 1923, daß das Verbot politischer Parteien nach dem Republikschutzgesetz zulässig sei, das zum Kampf gegen rechten Terror verabschiedet worden war. Es gab in der Folge nur drei Prozesse gegen Rechts, jedoch Tausende gegen Links.

Seit 1990 wurde der Rassismus mit dem neuen Ausländergesetz, dem Asylgesetz 1993, mit den Rufen "Das Boot ist voll!" öffentlich gefördert. Es folgten die Anschläge in Mölln, Solingen, Lübeck, Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen - nichts davon habe der Verfassungsschutz kommen sehen oder zu verhindern versucht. Die Öffentlichkeit werde an der Nase herumgeführt: Geschredderte Akten, Heimlichtuerei, Vorenthalten von Informationen in den Untersuchungsausschüssen. Da könne man nur hoffen, daß der Prozeß vor dem Oberlandesgericht München zumindest hinsichtlich der systematischen Vertuschung öffentlich macht, in welchem Staat wir leben.

Blick ins Publikum - Foto: © 2013 by Schattenblick

© 2013 by Schattenblick

Susann Witt-Stahl schreibt für verschiedene Zeitungen, arbeitet in der Redaktion der Zeitschrift des Internetportals Hintergrund und befaßt sich seit längerem mit reaktionären Strömungen unter linkem Etikett. In der jungen Welt erschien im Oktober ein von ihr zusammen mit Michael Sommer verfaßter Artikel, in dessen Untertitel gewarnt wurde: "Die Einsicht, daß Antifaschismus und Antikapitalismus zusammengehören, droht verlorenzugehen."

Wie Arnold Schölzel anmerkte, hätten in der BRD Sicherheitsbehörden und ideologische Wächter von den Medien bis zu den Kirchen den Antifaschismus stets im Visier gehabt. Nach herrschender Ideologie sei nur ein antisozialistischer Antifaschismus legitim, und selbst unter erklärten Antifaschisten blendeten viele die Ursachen des Neofaschismus aus. Woher rühre dieses Versagen der Linken?

Susann Witt-Stahl nannte einen bekannten Neokonservativen als Beispiel, der sich gern als Kommunist camoufliert. Dieser brüste sich damit, daß er und seine Anhängerschaft das Abbruchunternehmen der internationalen Linken seien. Das sei in der Tat erfolgreich in diversen linken Bewegungen vollstreckt worden. Der Siegeszug des Neoliberalismus seit den 80er Jahren habe nicht nur radikale Deregulierung und drastischen Sozialabbau, sondern auch einen Überbau hervorgebracht, dessen Strategien bezweckten, Ideologiekritik nahezu unmöglich zu machen, indem traditionslinke Begriffe okkupiert und ihre Bedeutung auf den Kopf gestellt wurden. Die zweifache Forderung "Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!" wurde aufgebrochen und in einen aggressiven Bellizismus verwandelt.

Schon der erste Golfkrieg sei von der Zeitschrift Konkret und dem Hamburger Institut für Sozialforschung gutgeheißen worden. Friedrich August von Hayek, die Ikone des Neoliberalismus, beschrieb 1944 in seiner programmatischen Schrift "Der Weg zur Knechtschaft" den Faschismus als genuinen Sozialismus und sah in einer zu schwachen bürgerlichen Herrschaft die Ursache der faschistischen Ermächtigung. Als diese Ideologie in die Linke eingesickert sei, habe es an Gegenstrategien gefehlt. Ganz im Gegenteil habe sich ein erheblicher Teil der deutschen Linken auf einen neuen Antifaschismus festgelegt, wie er vom Neoliberalismus definiert werde. Faschismus wird mit Sozialismus gleichgesetzt oder gar als antikapitalistische Revolte von unten aufgefaßt. 2001 löste sich die bundesweite Antifaschistische Aktion auf und wurde in das Zeitschriftenprojekt Phase 2 überführt, das eine theoretische Grundlage für den neoliberal geprägten Antifaschismus ausbaute. Schon 2002 erklärte Phase 2 den Arbeitermarxismus für so gut wie entsorgt. Man könne inzwischen von einer welthistorischen Umschuldung von oben nach unten sprechen, so die Referentin, und gelange sogar zur Aussage, daß der NSU ein genuines Erbe der DDR sei - nachzulesen in der Jungle World.

1980 habe der US-Soziologe Bertram Gross in seinem Buch "Friendly Fascism" weitsichtig vor den zu erwartenden Entwicklungen in den nächsten zwei Jahrzehnten gewarnt. Der neue Faschismus komme mit einem Lächeln daher. Es werde Kreditkarten, eine multikulturelle Gesellschaft und eine hohe Konzentration von Big Government und Big Business geben. Heute diktierten Rechtsanwälte, Unternehmensberater und Finanzdienstleister der Bundesregierung nicht nur die Gesetzesentwürfe, sondern verfaßten sie gleich selber. Im Jahr 2009 seien 16 Gesetzesentwürfe von Unternehmen formuliert worden. Auf einer Sicherheitskonferenz der Wochenzeitung Die Zeit in Hamburg habe man darüber beraten, wie man das Grundgesetz an die Bedürfnisse der neuen Kriege und der Rüstungsindustrie anpassen könne.

Sandra Bakutz - Foto: © 2013 by Schattenblick

Deutsches Gesinnungsstrafrecht gegen Migrantinnen und Migranten
Foto: © 2013 by Schattenblick

Sandra Bakutz ist in der Internationalen Plattform gegen Isolation aktiv. Diese Initiative bildete sich 2000 gegen die Absicht der türkischen Behörden, politische Gefangene in Isolationszellen zu sperren. Der damalige Hungerstreik der Gefangenen endete mit einem Blutbad, bei dem 28 von ihnen ums Leben kamen.

Arnold Schölzel nahm Bezug auf eine aktuelle Feststellung des Oberlandesgerichts München, wonach die Terrorzelle NSU nicht mehr existiere. In der deutschen Justiz gelten demnach doppelte Standards im Umgang mit Beschuldigten. Der Paragraph 129a (Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung) sei bei seiner Einführung 1976 als Lex RAF bezeichnet worden. Auch Paragraph 129b (Mitglied in einer terroristischen Vereinigung im Ausland) richte sich gegen Linke und antifaschistische Exilorganisationen. Wie sieht der Umgang mit ausländischen Gefangenen aus?

Sandra Bakutz ging zunächst auf den Paragraphen 129b ein, der nach dem 11. September 2001 eingeführt worden sei und diverse Elemente des US Patriot Act enthalte. Inzwischen diskutiere man über 129c, um die bloße Planung einer Tat unter Strafe zu stellen. Mehr als die Hälfte der nach 129b Verurteilten gehöre der marxistisch-leninistischen Organisation DHKP-C aus der Türkei an. Prozesse seien auch gegen Tamilen aus Sri Lanka und Mitglieder der PKK geführt worden. Die Betroffenen hätten sich organisiert und gegen Rassismus, Nazistrukturen und Übergriffe auf Migrantinnen und Migranten, aber auch gegen Sozialabbau und insbesondere die repressive Situation in ihrem Land gewendet. Sie unterstützten politische Gefangene, wiesen in Veranstaltungen auf diese Situation hin und hielten Solidaritätskonzerte ab.

Die nach Paragraph 129b Beschuldigten können demnach bis zu 18 Monate ohne Anklage inhaftiert werden. Auf diese Weise werde jegliche Solidaritätsarbeit untergraben. Gefangene wie Nurhan Erdem in Köln sitzen in Isolationshaft, sie werden bei Gerichtsverhandlungen durch eine Trennscheibe von den Anwälten abgeschottet, Briefe werden zensiert, ihr Vater durfte sie in vier Jahren nur ein einziges Mal besuchen, ihr Ehemann überhaupt nicht.

Patrick Köbele - Foto: © 2013 by Schattenblick

Zum Feind des Kapitalismus erklärt ... was denn sonst?
Foto: © 2013 by Schattenblick

Patrik Köbele ist stellvertretender Vorsitzender der DKP und aktiv in der Kommunalpolitik in Essen. Im Januar 2012 stellte die dortige Lokalpresse fest, daß er Essener Rekordhalter mit fünf namentlichen Nennungen im Verfassungsschutzbericht ist. Er schrieb in der jungen Welt: "Ein Nährboden für Militarismus und faschistisches Gedankengut stellt der mangelnde Internationalismus dar. "

Arnold Schölzel zitierte eine Aussage Patrik Köbeles, wonach der bürgerliche Staat einen permanenten Widerspruch darstelle: Einerseits habe er seinen Klassenauftrag, andererseits versuche er zu vermitteln. Deshalb sei es gut und wichtig, an diesem Widerspruch anzusetzen. Die DKP werde permanent vom Verfassungsschutz unter Beobachtung gestellt. Wie müsse man sich als Mitglied einer verfolgten Partei positionieren?

Erfrischend kompromißlos eröffnete Patrik Köbele seinen Vortrag mit dem Motto: Der Feind steht links. Da wolle er hinzufügen, daß die Gegenseite doch hoffentlich recht habe, da er ein unversöhnlicher Feind des Kapitalismus sei. Die DKP sei zwar klein, doch schienen das die Herrschenden etwas anders einzuschätzen. Man sei kein Feind von Grundrechten, und die Aussage Max Reimanns bei der Verabschiedung des Grundgesetzes habe nichts von ihrer Aktualität eingebüßt: Wir lehnen dieses Grundgesetz ab, weil es die Spaltungsurkunde Deutschlands ist, aber wir werden zu den Ersten gehören, die die Grundrechte dieses Grundgesetzes gegen die, die es heute beschließen, verteidigen werden. Er habe das gesagt, weil in der BRD der Kapitalismus restauriert wurde und damit der Staat die zentrale Aufgabe habe, die Macht-, Eigentums- und Gesellschaftsverhältnisse zu verteidigen. Daher stehe der Feind logischerweise links.

Rechts stehe seine Ultima ratio, wenn es um die Machterhaltung des Kapitalismus geht, und das sei auch ein Mittel zur Spaltung der Arbeiterklasse, zum Umorientieren der Arbeiterbewegung auf angebliche Feinde oder heute ein Mittel zur Bekämpfung des Internationalismus. Man könne die Klassenfrage nicht von der Faschismusfrage lösen. Wer das dennoch tue, diene der Stabilisierung des Kapitalismus und laufe Gefahr, nicht genügend gegen Faschismus zu unternehmen. Er schätze die bürgerliche Demokratie gewiß nicht gering, die er für eine der humansten Formen kapitalistischer Machtausübung halte. Doch wenn man auf Grund der bürgerlichen Demokratie von den tatsächlichen Machtverhältnissen ablenke, gehe man in die Irre.

Man müsse an diesem Widerspruch ansetzen und die bürgerliche Demokratie verteidigen, ohne zu vergessen, wie sich diese verändert hat: Notstandsgesetze, Wehrpflicht, Abschaffung des Asylrechts oder aktuell die Schuldenbremse - insofern sei er ein Verfassungsfeind, weil er die Durchlöcherung des ursprünglich demokratischen Grundgesetzes ablehne: "Der Feind steht links - ja hoffentlich, und hoffentlich wird der Feind stärker!"

Bodo Ramelow - Foto: © 2013 by Schattenblick

Erlebte Geschichte politischer Nachstellung im demokratischen Rechtsstaat
Foto: © 2013 by Schattenblick

Bodo Ramelow war lange Jahre hauptamtlicher Gewerkschaftler in Hessen und Thüringen. 1999 wurde er erstmals in den Thüringer Landtag gewählt, von 2005 bis 2009 war er Bundestagsabgeordneter. Danach errang er ein Direktmandat für den Landtag und ist seitdem Fraktionsvorsitzender der Linken. 2003 wurde bekannt, daß der Thüringer Verfassungsschutzchef Helmut Roewer über ihn in den 90er Jahren eine Akte anlegen ließ, was Roewer heute bestreitet, obwohl es dieses Dokument laut Aktenführung gab. Ramelow wurde auch vom Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet, was mehrere Gerichte für rechtswidrig erklärten. Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig urteilte jedoch am 21. Juli 2010, die Beobachtung sei zulässig, weil sie sich aus allgemein zugänglichen Quellen speise. Ramelow sei führend in der Partei Die Linke tätig, in der es verfassungsfeindliche Bestrebungen gebe. Die Observation geht 2013 ins 30. Jahr. Sie begann seinerzeit in Essen, als er sich solidarisch mit dem Berufsverboteopfer Herbert Bastian erklärte.

Im Frühjahr will das Bundesverfassungsgericht die Beschwerde gegen das Leipziger Urteil mündlich verhandeln. Nun stellte sich heraus, daß durch den Fall des Neonazis und V-Manns des Thüringer Verfassungsschutzes Kai-Uwe Trinkaus eine neue Lage entstanden ist. Dieser war nämlich vom Verfassungsschutz beauftragt, gegen linke Abgeordnete notfalls sogar mit Gewalt vorzugehen. Bodo Ramelow schrieb in der jungen Welt: "Rassismus hat in einer Gesellschaft, in der soziale Brüche immer größer und dynamischer werden, eine Funktion: Man kann Feindbilder schaffen. Die Quellen des braunen Terrors sind vielfältig, es gibt keine monokausale Antwort."

Arnold Schölzel gab Bodo Ramelows Einschätzung wieder, daß der NSU ein Netzwerk sei, eingebettet in ein braunes Umfeld. Ramelow habe den langjährigen Vorsitzenden der jüdischen Landesgemeinde in Thüringen, Wolfgang Nossen, mit den Worten zitiert: "Der Feind steht links und deshalb wird er seit Gründung der Republik bekämpft - rechts ist bucklige Verwandtschaft." Habe sich daran seit Ende 2011 irgend etwas geändert?

Wie Bodo Ramelow berichtete, habe er als HBV-Vorsitzender in Thüringen erleben müssen, daß seinem Stellvertreter Angelo Lucifero die Bremsschläuche durchgeschnitten wurden, Neonazis das Hochhaus stürmten, in dem beide wohnten, in der HBV-Geschäftsstelle der Keller brannte und man einen Einbrecher auf frischer Tat im Büro ertappt habe. Die Polizei teilte lediglich mit, daß sie den Täter bereits in einer Datei mit Rechtsextremen führte. Der Vorfall wurde verharmlost, man eröffnete nicht einmal ein Verfahren. Nach dem Brandanschlag auf die Erfurter Synagoge habe er in den Medien dazu aufgerufen, dorthin zu kommen, um deutlich zu machen, daß man gemeinsam die Synagoge als Teil der Gesellschaft beschütze. Die CDU blieb zunächst fern und schickte erst, als das in der Presse skandalisiert wurde, die ortsansässigen Abgeordneten hin. Gegen ihn selbst sei ein Mordaufruf verbreitet worden, ohne daß der ihm bekannte Urheber belangt wurde.

"Nein, wir haben uns über den NSU nie gewundert. Ich wundere mich über alle, die sich wundern. Gibt es den NSU noch oder gibt es ihn nicht? Vielleicht hat es ihn nie gegeben." Der Thüringer Heimatschutz sei von hauptamtlichen Nazis, die mit Steuergeldern finanziert wurden, aufgebaut worden. Links gleich rechts sei Staatsdoktrin in Thüringen gewesen, von Bernhard Vogel entwickelt, von Dieter Althaus fortgesetzt. Links werde delegitimiert, rechts verharmlost. Thomas Dienel wäre ein bezahlter Spitzel gewesen, dessen Flugblätter gegen Angelo Lucifero vom Landesamt verfaßt worden seien.

Darüber hinaus wurde Bodo Ramelow im Verfassungsschutzbericht erwähnt, was wiederum zur Folge hatte, daß er nicht auf einen Posten der Hessischen Landesbank berufen wurde. Der damalige Innenminister Richard Dewes von der SPD habe persönlich dafür gesorgt, daß bei der zweiten großen Saalfeld-Demonstration die aus Berlin anreisenden Antifaschisten mit Hubschraubern abgefangen wurden.

Man versuche in den NSU-Ausschüssen, zumindest die Widersprüche herauszuarbeiten. Da schreibe ein sächsischer Nazi an einen Brandenburger Nazi: "Wo bleibt der Bumms?" - also wo bleiben die Waffen? Beate Zschäpe erwähnt, daß dieses Handy eines des Innenministeriums von Brandenburg sei. Heute wisse man, daß der Betreffende inhaftiert war und von seinem V-Mann-Führer zu Terminen ausgeführt wurde. Tino Brand erzähle heute völlig ungeschützt, daß die Störaktionen gegen die PDS mit seinem V-Mann-Führer besprochen wurden. Trinkaus habe drei Abgeordneten der Linkspartei willkürlich straf- und zivilrechtlich relevante Tatbestände zugeordnet, als er bezahlter V-Mann war. Die Kriminalisierung der Linken lasse sich in Thüringen klar dokumentieren. Deshalb fordere man die Auflösung des Landesamts für Verfassungsschutz.

Man spreche hier von Geheimdiensten mit gefälschten oder verschwundenen Akten. Dennoch sei es gelungen, Leute wie Brand, Dienel oder Trinkaus öffentlich erkennbar zu machen. Man müsse gemeinsam Widerstand leisten gegen die braune Brut und deren Schutz durch Behörden und Polizei weiterhin öffentlich dokumentieren. Er fürchte allerdings, daß der Prozeß gegen Zschäpe zu einer Ausblendung des Hintergrunds führen werde. Die Hinrichtung der Polizistin Michelle Kiesewetter sei bis heute ungeklärt und lasse sich nicht mit dem NSU erklären. In ihrem Umfeld befanden sich zwei Anhänger des Ku Klux Klan, deren Verbindungen bis nach Thüringen reichen. Alle bekannten westdeutschen Nazis wie Michael Kühnen und Manfred Roeder seien nach Thüringen gekommen, der staatliche Geheimdienst sei stets direkt oder indirekt dabei gewesen. Es gab seines Erachtens bei all diesen Maßnahmen eine ordnende Hand, so der Referent. Man spreche von einem internationalen Netzwerk, das beim sogenannten Fest der Völker in Thüringen stets versammelt war - Combat 18, Blood & Honour - und immer Tür und Tor offen vorgefunden habe, was den amtlichen Stellen bekannt gewesen sei.

Publikum steht beim Singen - Foto: © 2013 by Schattenblick

Die Internationale
Foto: © 2013 by Schattenblick

Arnold Schölzel leitete die zweite Diskussionsrunde mit der Frage ein, was man unter solchen Umständen überhaupt juristisch erwarten könne. Darauf erwiderte Gabriele Heinecke, sie halte die Juristerei für eine Bühne, auf der man unter Umständen etwas klarmachen könne. Sie fürchte allerdings, daß es sich bei den Akten, die dem Oberlandesgericht in München vorliegen, nur um Abfall handle, mit dem man nicht mehr viel aufklären könne. Zumindest könne man aber den Finger darauf legen, daß es einen Grund gebe müsse, das relevante Material verschwinden zu lassen. Grundsätzlich müsse man sagen: Es gibt das Potsdamer Abkommen, in dem steht, daß diesem Staat verboten wird, jemals wieder faschistische, militaristische Organisationen zuzulassen. Dennoch existierten jede Menge solcher Organisationen, und man streite sich um die Frage, ob die NPD verboten werden darf oder nicht. Sie halte es für sinnvoll, auf europäischer Ebene dafür zu sorgen, daß die damaligen Vorgaben der Alliierten tatsächlich durchgesetzt werden. Gerade jungen Menschen werde klar, daß die aktuelle Politik ihre Zukunft aufs Spiel setzt. Sie erhoffe sich internationale Solidarität und die Erkenntnis vieler, daß diese deutsche Politik Europa nicht vorwärts bringt, sondern ins Chaos stürzt.

Arnold Schölzel wandte sich mit der Frage, ob es eine Wechselwirkung zwischen deutscher Kriegsbeteiligung und den Ereignissen um den NSU gebe, an Susann Witt-Stahl. Diese erinnerte daran, daß sich Teile der Nazis inzwischen als Kriegsgegner darstellen, während umgekehrt Fraktionen der Antifa eine Kriegsbeteiligung befürworteten. Der "Friendly Fascism" werde von ehemaligen Nazis dominiert, die sich in der neuen Rechten formiert haben. Israel sei ein neues Identifikationsmodell geworden, mit dessen Hilfe man bellizistisch argumentieren könne. Die Parole "Deutschland in den Rücken fallen" hätte vor wenigen Tagen in Travemünde phantastisch umgesetzt werden können, als die Patriot-Raketen für die Türkei verladen wurden.

Ob die Linke zu zahm in ihrer Analyse und zu schwach in ihrer Mobilisierung sei, wollte Arnold Schölzel von Patrik Köbele wissen. Dieser warf daraufhin die Frage auf, ob man denn noch ausspreche, daß es wesentlich der deutsche Imperialismus und die deutschen Monopole seien, die an der Ausblutung Griechenlands, Portugals oder Spaniens beteiligt sind. Spreche man noch aus, daß es notwendig wäre, daß die deutsche Arbeiterbewegung für ihre Interessen gegen den Kapitalismus kämpfen und auf Internationalismus setzen müsse, um dem deutschen Imperialismus ein wesentliches Instrument bei der Ausbeutung der Peripherie Europas aus der Hand zu nehmen? Spreche man noch aus, daß die Angriffskriege ein riesiger Schritt für diesen deutschen Imperialismus sind, nach der Zerschlagung des Sozialismus in Europa endlich die Fessel loszuwerden, die daran hindere, selbst zwischenimperialistische Kriege zu führen? Das spreche man nicht aus, und deswegen folge aus der unscharfen Analyse ein weichgespültes Handeln.

Zudem kämpfe man zu wenig darum, daß die Linke in diesem Land in der sozialen Frage wieder die Hegemonie innehat. Schärfe in der Analyse und der Aktion, kämpfen "um das Teewasser", wie Lenin das gesagt hat, und führend werden als die Kraft, die den Kampf um das Teewasser mit jenem um das Große Ganze verbindet - das müsse die Grundlage für eine antifaschistische Strategie sein. Man müsse natürlich auch die konkreten Kämpfe gegen die Nazis organisieren, wobei er für breitestmögliche Bündnisse plädiere, solange gewahrt sei, daß ein antifaschistischer Inhalt Rassismus ausschließt und man sich nicht in gute und böse Antifaschisten spalten läßt. Wer vom Faschismus rede, dürfe vom Kapitalismus nicht schweigen.

Müsse man nicht langsam von der Tribüne der bloßen Beobachtung und Analyse herunterkommen, wandte sich Arnold Schölzel abschließend an Bodo Ramelow. Dieser nannte einige klare Positionen seiner Partei wie Verstaatlichung der großen Banken oder die Ablehnung von Militäreinsätzen. Er selbst habe stets die Friedenstaube am Revers getragen und sei beim Jugoslawienkrieg von Gewerkschaftern aufgefordert worden, sie abzulegen. SPD und Grüne seien in den Krieg hineingebombt worden, als Schröder die Vertrauensfrage stellte. An diesem Tag sei er der PDS beigetreten, um denen zu helfen, die eine gesamtdeutsche sozialistische Partei links von der SPD etablieren wollten. Man dürfe einander nicht ständig wechselseitig ausgrenzen und sich nicht einteilen lassen, sondern sollte einander aushalten. Auf der Tribüne zu bleiben oder zu glauben, die Parlamente seien die Bühne, auf der sich etwas bewegt, sei nicht sein Anliegen. Er sei im Parlament, um einige Dinge aufzuklären oder um Anträge zu stellen, die Veränderungen einleiten können. Er fühle sich all denen verbunden, die gemeinsam auf die Straße gehen und bei den Arbeitskämpfen draußen stehen. Leider hätten sich die Arbeitskämpfe in den letzten 20 Jahren extrem verschoben, und die Ost-West-Auseinandersetzung sei nicht besser geworden, was nicht zuletzt etwas mit dem Versagen der Gewerkschaften zu tun habe. "Es reicht", sagte Ramelow abschließend, und formulierte damit ein passendes Schlußwort der Podiumsdiskussion zu den rechten Umtrieben und deren staatlicher Förderung.

Veranstaltungsort Urania - Foto: © 2013 by Schattenblick

Alljährliches Treffen in der Urania
Foto: © 2013 by Schattenblick

So stehen Linke vor der Herausforderung, daß sich die Funktionseliten in Staat und Gesellschaft bestens darauf verstehen, die vom Faschismus ausgehende Bedrohung extremismus- und totalitarismustheoretisch in den Dienst eigener Machtambitionen zu stellen. Der in unmittelbarer Folge des Jugoslawienkriegs ausgerufene "Aufstand der Anständigen" unterstützte eine Regierungspolitik, die Auschwitz als Legitimationskapital zum Führen imperialistischer Kriege instrumentalisierte und Rassismus wie Antisemitismus von jeglicher inhaltlicher Verbindung zu den Konsequenzen kapitalistischer Vergesellschaftung löste. So kann die Etablierung einer menschenfeindlichen Flüchtlingsabwehr an und vor den Außengrenzen der EU und eines strikten Lager- und Abschiebungsregimes in der Bundesrepublik selbst scheinbar widerspruchsfrei mit einem Menschenrechtsuniversalismus in Einklang gebracht werden, der aggressiven Militarismus unter dem Vorwand des humanitären Interventionismus und der sogenannten Schutzverantwortung als Friedensdienst ausweist. Die Gültigkeit der herrschenden Eigentumsordnung in Frage zu stellen erscheint erst recht abenteuerlich, wenn von Lohnabhängigen Dankbarkeit dafür erwartet wird, daß sie sich zu fast jeder Bedingung verkaufen dürfen. All das geht mit grundgesetzlich verbrieften Rechten konform, die den Zwang zur Lohnarbeit zum Privileg einer Gleichbehandlung verdrehen, deren materielle Voraussetzungen nicht ungleicher sein könnten und daher keinesfalls aufgehoben werden dürfen.

Das Unterholz herrschaftskonformer Ideologieproduktion zu lichten und ihre massenmediale Vormachtstellung mit publizistischer Gegenaufklärung zu kontern, ist eine Aufgabe, die mit marxistischer Analyse und kapitalismuskritischer Theoriebildung allein nicht zu leisten ist. Dort anzugreifen, wo die Widersprüche, wie im Fall der NSU-Staatsaffäre, so eklatant werden, daß nicht einmal die bürgerliche Presse an dem Aussprechen naheliegender Schlußfolgerungen vorbeikommt, erscheint schon eher als probates Mittel, die eigene Stimme über den Zirkel Gleichgesinnter hinaus vernehmbar zu machen. Da die Bruchlinien in der Fassade herrschender Beschwichtigungs- und Befriedungspraxis immer offener zutage treten, herrscht an Anlässen kein Mangel. Dies in der Öffentlichkeit einer gutbesuchten Konferenz zu tun, die nicht von institutionell eingebundenen Akteuren wie Stiftungen und Parteien veranstaltet wird, sondern vom vitalen Interesse an grundlegender Auseinandersetzung mit den Zumutungen und Grausamkeiten herrschender Verhältnisse bestimmt ist, ist zweifellos ein Schritt in Richtung basisdemokratischer Aufklärung und Mobilisierung. Diese ist desto wichtiger, als die Agenturen administrativer, wissenschaftlicher und kulturindustrieller Verfügungsgewalt immer größere Anstrengungen darauf verwenden, den Mantel komplex und kompliziert gewebter Wirkzusammenhänge über die einfache Erkenntnis zu werfen, das kein Mensch Hunger und Durst, Schmerz und Not erleiden, daß niemand Sklave eines anderen sein will.

Auftritt vor Grafik von Thomas J. Richter - Foto: © 2013 by Schattenblick

Letztes Aufspielen der Gruppe ?Shmaltz!
Foto: © 2013 by Schattenblick

Fußnote:

[1] http://www.jungewelt.de/2012/11-10/022.php

1. Februar 2013