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BERICHT/230: Treffen um Rosa Luxemburg - die Pläne des Feindes ... (2) (SB)


Reformismus kann die imperialistische Waffengewalt nicht brechen

Podiumsdiskussion "Antiimperialismus heute" am 9. Januar 2016 in Berlin


Der erste Teil des Berichts über die auf Einladung der Europäischen Linken veranstaltete Podiumsdiskussion zum Thema "Antiimperialismus heute" hatte sich mit den Beiträgen Diether Dehms, Maite Molas, Dov Khenins und Rainer Rupps befaßt. Im nun folgenden zweiten Teil sollen die Positionen des Völkerrechtlers Prof. Dr. Gregor Schirmer, des griechischen Sozialministers Prof. Dr. Georgios Katrougalos sowie des italienischen Marxisten Prof. Dr. Domenico Losurdo gewürdigt werden.


Auf dem Podium - Foto: © 2016 by Schattenblick

Gregor Schirmer
Foto: © 2016 by Schattenblick


Kämpft es sich mit dem Völkerrecht besser

Wie Gregor Schirmer unterstrich, brauche der Imperialismus von heute für sein Handeln Rechtfertigungsgründe, um seine Politik verdaulich zu machen. Er komme nicht ohne die Behauptung aus, seine Schandtaten würden auf Grundlage des geltenden Völkerrecht vollzogen. Dies sei jedoch nur unter dessen skrupelloser Verfälschung möglich. Die dafür am häufigsten benutzten Einfallstore seien die sogenannte humanitäre Intervention und die Berufung auf das Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung, wo eine Legitimierung durch den Sicherheitsrat nicht zu haben sei oder nicht ausreiche. Ob Jugoslawien, Afghanistan, Irak oder Syrien, stets seien solche Vorwände im Dienste ganz anderer Ziele fabriziert worden. In keinem dieser Fälle habe einen Angriff auf die USA oder einen anderen Staat stattgefunden. Im Syrienkrieg habe Assad das Selbstverteidigungsrecht auf seiner Seite, und Resolutionen des Sicherheitsrats zum Terror des IS gäben keine Auflassung für militärische Schläge irgendeiner von den USA oder gar Saudi-Arabien angeführten Koalition in Syrien.

Der Einwand, an das Völkerrecht halte sich ohnehin niemand mehr, zumal Macht vor Recht gehe, sei nicht ganz von der Hand zu weisen. Dennoch favorisiere er die Maxime, daß es sich mit dem Völkerrecht besser kämpfe als ohne dieses. Das Völkerrecht sei vor 70 Jahren in der historisch einmaligen Situation in der Charta der Vereinten Nationen ausgeformt worden und nach wie vor verbindlich. Seine Grundprinzipien machten es in mancher Hinsicht zu einem geradezu antiimperialistischen Recht, das man als Meßlatte für die Politik der Staaten und als Kampfinstrument nutzen sollte. Die 1948 verabschiedete allgemeine Erklärung der Menschenrechte spreche in Art. 28 jedem Menschen den Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung zu, in der weitreichende Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können. Lege man die detaillierte Auflistung der damals formulierten Rechte zugrunde, sei das fast schon ein Recht auf eine sozialistische Gesellschaftsordnung, schloß der Referent seinen Vortrag.

Wenngleich Schirmer zuzustimmen ist, daß in Verfolgung der eigenen Interessen auch eine rechtsgestützte Strategie zu Gebote stehen kann, greift doch der von ihm selbst zitierte Einwand zu kurz, Macht gehe vor Recht. Vielmehr bedarf Recht stets der juristischen, polizeilichen, administrativen oder auch militärischen Macht, es durchzusetzen, was es in seinem Wesenskern als ein zentrales Element von Herrschaft ausweist. Sich auf Recht zu berufen, wo es in Teilen die eigene Argumentation zu unterstützen scheint, hat den fatalen Pferdefuß, sich der Ideologie des Rechts als eine übergeordnete höchste Instanz, der alle gleichermaßen unterworfen seien, zu überantworten. Wie Schirmer einräumt, wird der Kodex geltenden Völkerrechts fortlaufend nach den Maßgaben imperialistischer Aggression verändert. Dies als Verfälschung zu geißeln, mutet zwar naheliegend an, verpaßt dem antiimperialistischen Kampf jedoch das Zwangskorsett einer der Legalität verpflichteten Rechtfertigungsnot.


Auf dem Podium - Foto: © 2016 by Schattenblick

Georgios Katrougalos
Foto: © 2016 by Schattenblick


Welche europäische Identität wird da verteidigt?

Georgios Katrougalos ging unter Bezug auf Marx und Lenin der Frage nach, wie sich der Zustand des Kapitalismus im Laufe der Zeit verändert habe und welche Konsequenzen daraus für eine angemessene Taktik der revolutionären Bewegung zu ziehen seien. Wenn Lenin den Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus ausgewiesen und beispielsweise vom internationalen Monopolkapital oder dem Übergang vom Bank- und Industriekapital zum Finanzkapital und dessen führender Rolle gesprochen habe, treffe das auch auf die heutigen Verhältnisse zu. Die Sowjetunion habe einen enormen Einfluß auf die Veränderung des Kapitalismus in den folgenden Jahrzehnten gehabt. Der Fordismus habe nicht nur Massenproduktion, sondern auch Massenkonsumption beinhaltet. Die wesentliche Transformation des Kapitalismus nach Einsetzen des Imperialismus sei der Wohlfahrtsstaat, der vor allem in Europa den Charakter eines historischen Kompromisses angenommen habe. Sowohl Roosevelts New Deal als auch Hitlers totalitärer Staat seien Reaktionen auf den Zustand des Kapitalismus ihrer Zeit, aber dennoch grundverschieden gewesen, so der Referent.

Er persönlich sei nicht der Auffassung, daß die Linke über eine strategische Lösung für die Frage nach dem wünschenswerten Sozialismus verfüge. Der Wohlfahrtsstaat sei beständig bedroht, der Neoliberalismus insofern eine revolutionäre Bewegung, als er die Beziehungen zwischen den Kapitalinteressen und dem Sozialstaat über den Haufen werfe. Die Verteidigung des Sozialstaats könne jedoch nicht den Kern linker Politik ausmachen. Es gelte vielmehr, die Konterrevolution des Neoliberalismus zu stoppen, und das betreffe nicht nur die Ökonomie, sondern den grundsätzlichen Zustand der Demokratie, die auf Ebene der EU praktisch nicht existiere. Die Verteidigung der sozialen Identität Europas sei per se keine revolutionäre Politik, da sie auch von Sozialdemokraten vertreten werde. Doch da man sich an einem Kreuzweg befinde, sei die Verteidigung der sozialen Werte Europas fast schon eine revolutionäre Perspektive. Der Neoliberalismus sei der Hauptfeind, da er ökonomische und staatliche Strukturen konterrevolutionär umforme. In Griechenland sei die Situation "vor dem erzwungenen Kompromiß vom Juli 2015" sehr schwierig gewesen. Dennoch setze Syriza den Kampf für die Gesellschaft fort, die seit fünf Jahren beispiellose Einbußen hinnehmen mußte. Man verteidige nach wie vor die europäische Identität, die in Jahrzehnten der Kämpfe der Arbeiterklasse, der kommunistischen und sozialistischen Parteien erreicht worden sei.

Wenn sich Katrougalos im Kreis dreht, wo er im selben Atemzug argumentiert, eine Verteidigung der sozialen Werte Europas sei für sich genommen keine revolutionäre Politik, aber angesichts der Konterrevolution des Neoliberalismus doch fast schon eine revolutionäre Perspektive, geschieht das nicht zufällig. Ausgehend von der These, daß die Linke über keine strategische Lösung für den Kampf um den wünschenswerten Sozialismus verfüge, plädiert er nicht dafür, gerade deswegen das Ringen um eine dezidiert antikapitalistische Ausrichtung voranzutreiben. Vielmehr attestiert er der reformistischen Anpassungsleistung Syrizas die Qualität, eine europäische Identität zu verteidigen, die von der Arbeiterklasse erkämpft worden sei. Die europäische Nachkriegsordnung, die EU und der Euro, noch dazu im Haus der NATO, waren jedoch nie etwas anderes als eine dezidiert antikommunistische und imperialistische Formierung der führenden westlichen Nationalstaaten und deren Kapitalfraktionen. Sie wurde ganz gewiß nicht von der Arbeiterklasse oder deren Parteien erkämpft, die ganz im Gegenteil gute Gründe hätten, sich in einem dezidiert internationalistischen Kampf dieses "Europas" zu entledigen.


Auf dem Podium - Foto: © 2016 by Schattenblick

Domenico Losurdo
Foto: © 2016 by Schattenblick


Koloniale Kriege mit den Zielscheiben China und Rußland

Domenico Losurdo ging eingangs der Frage nach, wann der große Krieg der Gegenwart begonnen habe. Seit dem Triumph des Westens im Kalten Krieg folge ein warmer Krieg dem anderen. Panama, Irak, Jugoslawien, Libyen, Syrien und die koloniale Expansion in Palästina - diese Kriege seien völkerrechtswidrig entfesselt worden und zielen stets auf Länder ab, die eine mehr oder weniger gelungene antikoloniale und antifeudale Revolution vollzogen hätten. Länder wie Saudi-Arabien, für die das nicht gelte, unterstützten und finanzierten heute den Islamischen Staat, dessen Barbarei zugleich und vor allem jene des westlichen Kolonialismus und Imperialismus sei. Der Krieg gegen Syrien sei schon 2003 von US-amerikanischen Neokonservativen mit dem Ziel eines Regimewechsel geplant worden. Welche Kritik an Assad man auch immer habe, ändere das doch nichts an der Tatsache, daß dies kein Bürgerkrieg, sondern in erster Linie ein imperialistischer Aggressionskrieg sei.

Angeführt von den USA versuche der westliche Imperialismus, die antikoloniale Weltrevolution des 20. Jahrhunderts in Frage zu stellen. Die neokolonialen Kriege seit 1989 kündigten größere Kriege an, wobei China die erste Zielscheibe sei. Heute strebten die Länder, die das politische Joch des Kolonialismus abgeschüttelt haben, danach, sich auch von der wirtschaftlichen und technologischen Abhängigkeit zu befreien, da ihre politische Unabhängigkeit andernfalls nur formell bestünde. Es gelte daher, nicht nur die politische, sondern auch die wirtschaftliche und technologische Annexion in einem antikolonialen Kampf abzuschütteln.

Die zweite Zielscheibe sei Rußland, ein Land mit einer komplizierten Geschichte, das eine imperialistische Macht, doch zugleich der Gefahr ausgesetzt gewesen sei, eine Kolonie zu werden. Viele Historiker seien der Auffassung, daß Hitlers Krieg im Osten der größte Kolonialkrieg der Weltgeschichte gewesen sei. Auch nach der Niederlage im Kalten Krieg wäre Rußland unter Jelzin im Zuge der massiven Privatisierung fast eine Halbkolonie des Westens geworden, da sich nicht nur die russische Oligarchie, sondern auch westliche Monopole den Sozialreichtum angeeignet hätten. Putin habe alledem ein Ende gesetzt, was den Haß des Westens auf ihn erkläre.

Losurdo wies darauf hin, daß auch die Widersprüche innerhalb des westlichen Imperialismus zu berücksichtigen seien. An seiner Spitze stehe mit den USA die einzige Macht, welche ihre imperialistischen Ambitionen glorifiziere und sich von Gott auserwählt wähne, die Welt zu regieren. So habe auch Obama jüngst das Dogma bestätigt, wonach die USA die einzige "unentbehrliche Nation" der Welt seien. Selbst der konservative italienische Journalist und Botschafter in der Sowjetunion, Sergio Romano, habe den USA die Ambition attestiert, ungestraft den ersten nuklearen Schlag zu führen.

Europa sei zweifellos imperialistisch, berge aber diverse US-Stützpunkte mit Atomwaffen, über die nur Washington verfügen könne. Washington könne daher Italien oder ein anderes westeuropäisches Land in einen Atomkrieg stürzen. Im Zweiten Weltkrieg habe die Resistenza unter Führung der KPI Italien in einem nationalen Befreiungskampf vor dem Faschismus gerettet. Heute bedürfe es einer breiten Front im Kampf gegen den Krieg, gegen den Imperialismus. "Ich glaube, daß wir den Kampf auch gegen die NATO und deren Stützpunkte in Europa führen müssen, weil das für ganze Völker lebenswichtig ist", schloß Losurdo seinen Vortrag.


Podium der Veranstaltung - Foto: © 2016 by Schattenblick

Rainer Rupp, Dov Khenin, Diether Dehm, Maite Mola, Georgios Katrougalos, Domenico Losurdo, Gregor Schirmer
Foto: © 2016 by Schattenblick


Linkspartei unverrückbar antiimperialistisch?

Wenngleich die Podiumsdiskussion natürlich keine Strategiedebatte der Europäischen Linken war, setzte sie doch im Kontext des Rosa-Luxemburg-Wochenendes in Berlin bedeutsame Akzente, was die künftige Positionierung der deutschen Linkspartei und ihrer Schwesterparteien in anderen europäischen Ländern betrifft. So erinnerte ein Diskussionsteilnehmer aus dem Publikum daran, daß auf dem Europaparteitag in der Präambel die Aussage gestrichen wurde, Europa sei imperialistisch. Seiner Auffassung nach sei Die Linke entweder antiimperialistisch oder gar keine Linke. Dafür erntete er viel Beifall und zwangsläufig keinen Widerspruch, schien seine Forderung doch mit dem Thema der Veranstaltung konform zu gehen.

Die Linke ist in der Tat die einzige Antikriegspartei im Bundestag und festigt auch darüber das Bild einer Geschlossenheit, das sie in der Vergangenheit häufig vermissen ließ. Was die Frage ihrer Koalitions- oder gar Regierungsfähigkeit betrifft, sei eine Preisgabe dieser Position mit ihr nicht zu haben, heißt es einmütig an der Spitze und wohl auch an der Basis der Partei. Der Schwerpunkt "Antiimperialismus heute" am Vorabend des festlich-politischen Jahresauftakts schien diesen Eindruck nur um so mehr zu bestätigen, setzte er doch mit seiner inhaltlichen Ausrichtung und der hochwertigen Besetzung des Podiums ein klares Signal gegen den imperialistischen Krieg.

Da die Linkspartei jedoch mehrheitlich bereits den demokratischen Sozialismus und das imperialistische Europa entsorgt hat, muß sie sich die skeptische Frage gefallen lassen, wie felsenfest ihr vorgeblich antiimperialistischer Konsens gefügt ist. Wenn Diether Dehm den Antikapitalismus in den Nachrang verweist, in seinem Schlußwort die Abkehr von der "Engstirnigkeit mancher Linken und ihrer sektiererischen Dünnlippigkeit" begrüßt und eine "breite, populäre Front gegen Krieg" heraufziehen sieht, fällt es jedenfalls schwer, darin ein Plädoyer für eine offene Diskussion ohne mehrheitsfixierte Preisgabe genuin linker Positionen zu sehen.


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