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BERICHT/252: Aufbruch demokratisch - kleinster Nenner ... (SB)


Ein Licht in der Finsternis droht zu blenden

"Die gegenwärtige Europapolitik und die Demokratisierung der EU"

DiEM25-Podiumsdiskussion am 15. November 2016 in Hamburg


Die paneuropäische Demokratiebewegung DiEM25 hat sich auf ihre Fahnen geschrieben, die Desintegration der Europäischen Union aufzuhalten, dem Aufstieg der Rechten etwas entgegenzusetzen und eine radikale Demokratisierung der EU und ihrer Institutionen herbeizuführen. Inspiriert von ihrem Hoffnungsträger Yanis Varoufakis will sie dem "europäischen Geist" zur Durchsetzung verhelfen, der internationalistisch sei und sich überall zu Hause fühle. Getragen von einem breiten Bündnis fortschrittlicher Kräfte, die sich grenzübergreifend und ungeachtet ihrer Parteizugehörigkeit zusammenschließen, um eine progressive Internationale ins Leben zu rufen, sollen Wut, Furcht, Unsicherheit und Perspektivlosigkeit wiedergewonnener Zuversicht weichen, Verwirrung und Zerfall durch Rationalität und Einheit aus dem Feld geschlagen werden:

Ich kann euch sagen, es ist ein unglaubliches Gefühl, während einer DiEM25-Versammlung zu merken, wie alle diese Lager unter dem Banner der Demokratie zusammenkommen und an einem Strang ziehen. Meine Frustration über konstant bestehende Verhältnisse hat sich in Hoffnung auf baldigen Wandel umgekehrt. Meine Angst vor einer ungewissen Zukunft hat sich in Zuversicht verwandelt, und dieses widerliche Gefühl der Isolation wurde zur Verbundenheit. Ich möchte euch dazu einladen, Teil dieser Bewegung, dieses Netzwerks zu werden. Bringt euch ein, organisiert euch, gründet DiEM-Kollektive in dieser Stadt und vernetzt euch mit uns!

Diese mit stürmischem Beifall aufgenommenen einleitenden Worte Sören Altstädts, des Koordinators von DiEM25 in Hamburg, brachten das zentrale Moment der Bewegung wie auch die Stimmung im mit gut 800 zumeist Studierenden randvoll gefüllten größten Hörsaal des Hauptgebäudes der Universität auf den Punkt. Unter dem Eindruck unabwendbar erscheinender multipler Krisen, zerfallender Ordnungsstrukturen und Werte wie auch dramatisch anwachsender Ungewißheit der Lebensverhältnisse mutet der mit dezidierter Zuversicht vorgetragene Weckruf wie ein kaum noch für möglich gehaltener fortschrittlicher Aufbruch mit greifbaren Erfolgsaussichten in überschaubaren Fristen an. Die Agenda sieht eine Schrittfolge zu absolvierender Etappen vor, die bis 2025 das Technokratenregime der EU überwinden und eine demokratisch verfaßte europäische Konstitution ins Leben rufen und in Kraft setzen soll.


Am Rednerpult - Foto: © 2016 by Schattenblick

Yanis Varoufakis
Foto: © 2016 by Schattenblick

Wie Varoufakis hervorhebt, zeichneten sich unabweisliche Parallelen zur epochalen Wirtschaftskrise zu Beginn der 1930er Jahre und deren verhängnisvollen Folgen ab. Damals habe der Zusammenbruch der Wall Street zu einem Verfall des Währungssystems geführt, der Europa in den Abgrund stürzen ließ. Wachsende Fremdenfeindlichkeit und aufbrechender Rassismus hätten den Aufstieg des Faschismus beflügelt. Heute befördere die systemische Strukturkrise eine Konstellation, in der sich eine stolze Nation gegen die andere wende und eine nationalistische Internationale überall in der westlichen Welt die Konfrontation mit dem politischen Establishment suche. Dabei handle es sich jedoch um einen Scheinwiderspruch: Zwar habe das Establishment nicht die geringste Ahnung, wie es den europäischen Kapitalismus stabilisieren könne, und nähre damit die rechtsgerichteten Kräfte, doch versuche es zugleich, seinen Vorteil daraus zu ziehen. Daher seien das Establishment und die Nationalisten de facto Komplizen, die einen finsteren Tango tanzten.

Es sei ein historischer Fehler der Sozialdemokraten und Kommunisten in den frühen 1930er Jahren gewesen, sich nicht gegen den Faschismus zu verbünden, den man nicht wiederholen dürfe, so Varoufakis. Perioden der Deflation seien keine revolutionären Zeiten, welche die Linke begünstigten, den Kapitalismus zu destabilisieren. Sie begünstigten vielmehr Rassisten, Ultranationalisten und Faschisten. DiEM25 sei daher keine linksgerichtete Initiative, sondern eine temporäre Allianz mit Liberalen, progressiven Konservativen, Grünen und anderen Kräften, die das Interesse verbinde, die Talfahrt zu stoppen und Europa zu stabilisieren. Sei das erst einmal gelungen, könne man sich ausgiebig streiten. Progressive Linke wie er selbst hätten die Schuld für ihr Scheitern stets bei der Übermacht des Systems oder den Leitmedien gesucht, nicht aber bei ihrem eigenen Versagen, eine Position zu artikulieren, die von der Mehrheit unterstützt werde. DiEM25 werde nur dann signifikant, wenn es gelinge, über den Standard linker Rhetorik, Praxis und Illusion hinauszugehen. Trump und Farage hätten demonstriert, daß es möglich ist, sich gegen das Establishment durchzusetzen, jedoch mit einer falschen, menschenfeindlichen Agenda. "Es ist unsere Aufgabe, eine radikale, humanistische Agenda zu etablieren, um Europa wiederzugewinnen!"

Eine entschiedene Absage erteilt DiEM25 allen Diskursen und Plänen, die Eurozone oder die EU aus eigenem Antrieb zu verlassen: Dies forcierte den Zerfall und spiele den Rechten in die Hände. Es gelte vielmehr, in der EU zu bleiben, sie aber von innen heraus zu kritisieren und zu demokratisieren. Wie soll das vonstatten gehen? DiEM stehe für Konfrontation mit den Institutionen, nicht um sie zu zerstören, sondern in einem Prozeß radikaler Schritte dazu zu bewegen, die wohlüberlegten Einwände anzuerkennen und sich rekalibrieren zu lassen. Dem Konzept konstruktiven Ungehorsams folgend, entwickle man moderate Vorschläge und fordere das Establishment auf, sich dem anzuschließen. "Doch wenn es auf eine menschenfeindliche, gescheiterte Politik beharrt, müssen wir ungehorsam sein. Wie das durchzuführen ist, müssen wir dringend diskutieren", so Varoufakis.

Die progressive Agenda formuliere eine Wirtschaftspolitik für ganz Europa, die Vorschläge zu Banken, Steuern, Investitionen, Sozialökonomie, Migration, grüner Transition und einem verfassunggebenden Prozeß enthalte. Ende Februar in Paris beginnend, wolle man dieses Konzept vor allen anstehenden Wahlen in europäischen Ländern präsentieren. Ein paneuropäischer New Deal, der in grüne Technologien investierte und von der EZB unterstützt würde, könnte wie Roosevelt 1933 das Klima von grundauf ändern und die EU stabilisieren. Sobald das gelungen sei, könne man die alten Verträge durch eine neu ausdiskutierte Verfassung ersetzen. Es gelte, den Traum gemeinsamen Wohlstands wiederzubeleben, wie er nach 1945 existiert habe, diesmal jedoch eines grünen Wohlstands, der die Kapazitäten der Technologie nutze, ohne den Planeten und unsere Seele zu schädigen.


Podium in Reihenfolge der abgebildeten Personen - Foto: © 2016 by Schattenblick

Yanis Varoufakis, Philip Liste, Siri Keil (Moderatorin), Rahel (Moderatorin), Martin Sauber, Lisa Knoll
Foto: © 2016 by Schattenblick


Mitdiskutierende wohlwollend skeptisch

Die weiteren Diskutantinnen und Diskutanten auf dem Podium standen DiEM wohlwollend gegenüber, wiesen aber mit ihren ergänzenden bis skeptischen Beiträgen auf die eklatanten Lücken im Entwurf dieser Bewegung hin. Die Soziologin Lisa Knoll führte die Depolitisierung vieler Linker nicht zuletzt auf deren strikte Trennung von Staat und Markt zurück, als sei letzterer eine freie und natürliche Entität, die nicht bürokratisch organisiert werde. Der Sozialstaat werde abgebaut und durch eine Technokratie ersetzt, die Anreizstrukturen, Systeme der Leistungsmessung und Vergleichsinstrumente installiere. Die Marktförmigkeit bringe den Diskurs hervor, daß die Verhältnisse, in denen wir leben, unveränderbar seien.

Der Politologe Philip Liste ging auf die Problematik des verfassungsgebenden Prozesses ein, der im Manifesto von DiEM formuliert wird. Wie die amerikanische Unabhängigkeitserklärung oder die UN-Charta zeige, wurden diese Dokumente im Namen eines Volkes oder einer Völkergemeinschaft unterzeichnet, die zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht existierten. Dieser Zirkelschluß werde allenfalls in der Präambel der UN-Charta durchbrochen, wo von einer Übereinkunft der Regierungen die Rede ist. Die Frage des Referenten, was der von DiEM25 immer wieder gern zitierte Demos sei, in dessen Hände die politische Entscheidungsgewalt und Kontrolle zurückkehren müsse, blieb auf der Veranstaltung leider unbeantwortet. Ebensowenig Resonanz rief Listes Verweis auf den Ausnahmezustand wach, der bereits in der Türkei und in Frankreich verhängt wurde.

Die weitreichendsten Einwände brachte der Ökonom Martin Sauber zum Ausdruck, der auf den Zusammenhang von Kapitalakkumulation und Verschuldung in der EU einging. Er thematisierte Privateigentum, Warenproduktion und Ausbeutung von Arbeit und Natur aufgrund der kapitalistischen Produktionsweise und imperialen Lebensweise. Wenngleich eine Demokratisierung der EU notwendig sei, schließe er aus, daß man zuerst den Kapitalismus stabilisieren und anschließend ökologische Probleme bewältigen könne. Er wünsche sich keinen neuen Klassenkompromiß, denn wenn der Kapitalismus durch reformierte europäische Institutionen stabilisiert werde, legitimiere dies die grundlegenden Machtstrukturen. Statt dessen favorisiere er die Selbstermächtigung frei assoziierter Menschen einschließlich einer Demokratisierung der Produktion und trete für eine sozioökologische Bestärkung ein, die über eine parlamentarische Demokratie, den Kapitalismus und Europa hinausgehe.


Publikum im Hörsaal von vorne - Foto: © 2016 by Schattenblick

Keim eines neuen Demos?
Foto: © 2016 by Schattenblick


Sammlungsbewegung auf der Suche nach dem Demos

Obgleich Sauber damit fast schon eine Grundsatzkritik am Konzept von DiEM25 formulierte, versagte ihm das Publikum ausgiebigen Beifall ebensowenig wie anderen Stimmen auf dem Podium oder bei der relativ kurzen Diskussion im Plenum. Die Begeisterung schlug an diesem Abend hohe Wogen, immer wieder angespornt durch Einlassungen von Yanis Varoufakis oder den Moderatorinnen, die Erwartungen auf erleuchtende Augenblicke schürten und die Gefühlslage im Saal erfragten. Der emotionsgetragene Schwung der Bewegung ist offensichtlich, die sich einen Parforceritt über alle Klippen und Klüfte leidiger Widerspruchslagen, mißlicher Kontroversen und insbesondere zu erwartender Hindernisse auszumalen scheint. Wo ein radikales, aber zugleich moderates Vorgehen postuliert wird und man niemandem in Feindschaft begegne, sondern an die Einsicht appelliere, ohne im Zweifelsfall auf Ungehorsam zu verzichten, verschwimmen die unüberbrückbaren Widersprüche einer Klassengesellschaft, die forciert ausgebaute Repression der Staatsgewalt und die herrschaftssichernden Entwürfe gesellschaftlicher Eliten zum Fahrwasser einer hoffnungsvoll gestimmten Bewegung, die unter der Flagge des nicht näher geklärten Demokratiebegriffs segelt.

Das Fanal der Demokratisierung beschwört in seiner Beliebigkeit einen Konsens, dem sich kein fortschrittlich denkender und für vernünftige Argumente offener Mensch entziehen könne: "Die wahre Opposition dagegen seid ihr!", rief Varoufakis seinem Publikum zu. "Wir sind nicht als Griechen, Franzosen oder Deutsche hier, nicht als Marxisten oder Liberale, progressive Konservative oder Grüne, sondern als geschichtsbewußte Menschen und Europäer, die verstehen, daß dies das 1930 unserer Generation ist." Zugleich schrumpft das Feindbild auf ein Technokratenregime in Brüssel zusammen, genannt die Institutionen, von deren Neukalibrierung man das Establishment überzeugen werde, dem der Boden unter den Füßen weggezogen worden sei. Mittels der Suggestion, man könne gesellschaftliche Mehrheiten gegen die für unfähig erklärte EU-Administration mobilisieren, wird die Frage ausgeblendet, wie es um die tatsächlichen Kräfteverhältnisse bestellt ist und der Kampf konkret zu führen sei.

Wenn Varoufakis versichert, er habe gemeinsam mit Wolfgang Schäuble festgestellt, wie furchtbar die Troika für Griechenland, Deutschland und Europa sei, doch sei man gleichermaßen machtlos gewesen, ihr Einhalt zu gebieten, deutet er die Interessen und Einflußmöglichkeiten in seinem Sinne um. In seiner verkürzten Analyse der EU ist diese nicht ihrem Wesen nach ein Projekt der führenden Nationalstaaten und Kapitalfraktionen, sondern vor allem deshalb keine integrative Union geworden, weil seit ihren Anfängen mit der Montanunion ein Kartell den Ton angegeben habe. Unter dem makroökonomischen Schutzschirm des hegemonialen Systems der USA habe das in guten Zeiten funktioniert. Kartelle seien jedoch nicht in der Lage, mit Krisen umzugehen, weil ihre Mitglieder einander dann heftig bekämpften. Mit Hilfe dieses Erklärungsmodells wird im vorgeblich begrüßenswerten Entwurf des europäischen Zusammenschlusses ein Kardinalfehler konstatiert, der sich gemeinsam mit den nationalen Regierungen und womöglich sogar den Brüsseler Institutionen beheben lasse, zumal eine praktikable Lösung der Krise in Reichweite liege.

Wenngleich Wirtschaftswissenschaftler und sogar Marxist, wie es Varoufakis für sich in Anspruch nimmt, überführt er eine aus Staatstheorie und politischer Ökonomie abzuleitende Analyse der EU und der Krise in ein Konstrukt angeblich falscher Weichenstellungen in Händen inkompetenter Bürokraten, was zwangsläufig zu unzulänglichen Schlußfolgerungen in Gestalt fiktiver Lösungsmöglichkeiten führt. Indem er die fortgesetzt an ihre Grenzen stoßende Kapitalverwertung, die daraus resultierenden Krisen wie auch die expansiven Strategien aggressiver Bestandssicherung und innovativer Fortschreibung der Herrschaftsverhältnisse und Wirtschaftsweise ausblendet, unterstellt er einen begrenzten Schadensfall, dessen Reparatur er für machbar erklärt und zugleich zum umfassenden Befreiungsschlag in Richtung eines humanen und prosperierenden Europa verklärt.

Was sich als genuin neue und frische Bewegung präsentiert, welche die für gescheitert erklärte Linke zurückläßt, um auf den kleinsten Nenner gebracht alle Demokraten ins Boot zu holen, hausiert doch nur mit aufpolierten Versatzstücken sattsam bekannter Entwürfe. Die Vorstellung, man könne mit den Institutionen der EU die Konditionen neu ausdiskutieren und eine vernünftige Lösung im Interesse aller herbeiführen, erinnert fatal an das Schicksal Syrizas. Deren Verhängnis, die Frage möglicher Druckmittel von vornherein auszublenden, scheint sich bei DiEM25 zu wiederholen, das sich von der Debatte um einen Plan B in Gestalt eines geordneten Rückzugs aus der Eurozone explizit distanziert. Auch der ausdrückliche Verzicht auf linke Positionen in der Bündnispolitik im Namen einer antifaschistischen Allianz ist aus der jüngeren Vergangenheit der Linken als einer ihrer maßgeblichen Aufweichungsprozesse bekannt. Wer Geschichtsbewußtsein für sich reklamiert, sollte zudem nicht versäumen, Roosevelts New Deal kritisch unter die Lupe zu nehmen. Als vorgeblicher Klassenkompromiß durchaus geeignet, das wachsende Aufbegehren zu befrieden, hatte sich sein ökonomisches Potential längst erschöpft, als die Kriegswirtschaft den entscheidenden Schub herbeiführte, der die USA in die Position der Weltmacht katapultierte. Bliebe noch der technologiegestützte Entwurf grünen Wohlstands zu erwähnen, der befürchten läßt, DiEM25 schwebe nichts anderes als ein Konzept des grünen Kapitalismus zur Rettung der herrschenden Verhältnisse vor, wie ihn freilich jene, welche die Farbe im Parteinamen tragen, längst weitaus entschiedener vorgedacht haben.

Der "europäische Geist" als Kosmopolit hat sicher seinen Reiz, zumal für eine Bewegung, die sich selbst erschafft und ihren Demos noch nicht gefunden hat. Im Stile einer säkularen Evangelisation wird sie uns sicher noch eine Weile begleiten, Mitstreiter gewinnen und nicht zuletzt prominente Andockstellen suchen und finden. Ob Hoffnung jedoch ein wünschenswerter Ratgeber ist, wo mehr denn je ein unverzögerter und entschiedener Schulterschluß der Schwachen das Gebot der Stunde ist, darf bezweifelt werden.


Fußnoten:

[1] Siehe auch die weiteren Beiträge zu der Veranstaltung im Schattenblick unter www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
BERICHT/252 /S: Aufbruch demokratisch - kleinster Nenner ... (SB)
INTERVIEW/329: Aufbruch demokratisch - Rechtsruck verhindern ...    Sören Altstädt im Gespräch (SB)

[2] Frei übersetzt würde dies in etwa bedeuten: über Europa, den Kapitalismus und die parlamentarisch-repräsentative Demokratie hinaus(gehend).

23. November 2016


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