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BERICHT/271: Initiativvorschläge - Selbsthilfe revolutionär ... (SB)



Für revolutionär denkende und handelnde Menschen ist das Leben in der Türkei nicht erst heute hochgefährlich. Die Geschichte des Landes seit dem Zweiten Weltkrieg ist von der strategischen Stellung der Türkei als südöstlicher Pfeiler der NATO geprägt, der insbesondere gegen die Sowjetunion gerichtet war. Die Einbindung des Landes in die antikommunistische Front Westeuropas hat seine oppositionelle Kräfte viel Blut und Tränen gekostet, und das gilt über den Niedergang der Sowjetunion hinaus bis heute. Der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdogan hat zwar die offene wie versteckte Herrschaft der Generalität beendet, sie aber durch die nicht minder reaktionäre Herrschaft eines am politischen Islam orientierten Regimes beerbt.

Seit dem Gezi-Aufstand vor vier Jahren, in dem sich die Zivilgesellschaft des Landes letztlich vergeblich gegen die AKP-Regierung aufgelehnt hat, ist der türkische Staat Schritt für Schritt in eine immer repressivere Gangart verfallen. Für linke Revolutionäre türkischer wie kurdischer Herkunft hat sich womöglich weniger verändert als für die bürgerliche Mitte, die mit der anwachsenden Einschränkung liberaler Rechte konfrontiert ist, die für die radikale Linke stets Ausdruck eines bürgerlichen Kompromisses mit Staat und Kapital waren. So hat es in Istanbul seit jeher mit den sogenannten Gecekondus Viertel gegeben, in denen die Menschen eher illegal als legal lebten, weil sie Häuser ohne Baugenehmigung errichteten, das Stromnetz in Eigenregie anzapften oder den Vertretern öffentlicher Behörden keinen Zugang gewährten.

In einigen dieser Viertel war und ist die revolutionäre Linke besonders stark präsent, so zum Beispiel in dem auf europäischer Seite liegenden Stadtteil Kücük Armutlu. Dort ist die häufig der marxistisch-leninistischen Volksfront (Halk Cephesi) nahestehende Linke so zahlreich vertreten, daß die Staatsgewalt einen Einbruch in die dort aufgebauten Strukturen zumindest nicht auf die leichte Schulter nehmen kann. Schon aufgrund dieses virulenten Belagerungszustandes stoßen Ideen und Projekte des selbstorganisierten Lebens und Arbeitens, die dort von einem basisdemokratischen Volkskomitee initiiert werden, auf viel Zuspruch.


Grafitti mit Totenschädel und Lamm in Berlin-Kreuzberg - Foto: © 2017 by Schattenblick

Aus den Mauern der Städte ...
Foto: © 2017 by Schattenblick

Soziale Reproduktion lokal und autonom organisieren

Auf dem Kongreß "Selber machen - Konzepte von Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie", der vom 28. bis 30. April im Bethanien in Berlin-Kreuzberg stattfand, berichtete eine Aktivistin der in Kücük Armutlu aktiven Gruppe Ingenieure und Architekten des Volkes (Halkin Mühendis Mimarlari) davon, wie mit geringen Mitteln und wenig Geld in diesem Stadtteil konkrete Verbesserungen für die dort lebenden Menschen erreicht werden.

Eingangs betonte sie, daß die als Ingenieure und Architekten aktiven Genossinnen und Genossen nicht nur an der technischen Bewältigung von Problemen arbeiteten, sondern vor allem einen demokratischen, antifaschistischen und antikapitalistischen Kampf führten. Die Gruppe, der Menschen aus ganz unterschiedlichen Berufen angehören, verfolgt das Konzept des Selbstlernens, um aus eigenem Wissen und eigener Kraft heraus Technologien entwickeln zu können, zu deren Konstruktion aus finanziellen und ökologischen Gründen wie auch der Notwendigkeit, in einem gewissen Ausmaß autarke Strukturen aufzubauen, vor allem Restmaterial aus anderen Gebrauchsgegenständen wiederverwertet wird.

Da der Staat nicht erst seit dem gescheiterten Putsch, sondern seit jeher mit aller Härte gegen die kommunistische Opposition vorgeht, tragen die in Kücük Armutlu angesiedelten Projekte häufig die Namen der Todesopfer polizeilicher Gewalt. In einem Fall wurde einem Mann, der beim Verkauf der kommunistischen Zeitung Yürüyüs von der Polizei mit der Folge einer dauerhaften Lähmung der Beine angeschossen wurde, eine Gehhilfe konstruiert, die es ihm ermöglicht, wieder mit anderen auf Augenhöhe zu sprechen. Der Kauf eines neuen Gerätes zum Preis von 20.000 Euro wäre praktisch unerschwinglich gewesen, doch die selbstentwickelte Eigenkonstruktion wurde zu einem Preis von tausend Euro möglich gemacht.

Die selbst aus dem Viertel stammenden Ingenieure und Architekten des Volkes haben auch das Zentrum der lokalen Selbstorganisation errichtet. Das Cemevi genannte Glaubenshaus der alewitischen Gemeinde dient als Begegnungsstätte und Kulturhaus für alle Bewohnerinnen und Bewohner des Viertels. Alewiten, die mit ihrer Weltanschauung eine für demokratische und emanzipatorische Werte besonders offene Form des Glaubens praktizieren, sind in der Bevölkerung Kücük Armutlus zahlreich vertreten. So wurde das Zentrum zusammen mit allen Interessierten gemeinsam geplant und errichtet. Die Eröffnung des Cemevi wurde mit einem Konzert der politischen Band Grup Yorum gefeiert, das wegen der Auftrittsverbote, mit der die oppositionelle Musikgruppe wegen ihrer großen Popularität häufig belegt wird, unter dem Motto "Grup Yorum ist das Volk und kann nicht stumm gemacht werden" stattfand.

2013 wurde das Projekt des Volksgartens ins Leben gerufen, um ein Zeichen für Selbstversorgung inmitten einer Türkei zu setzen, die, wie die Referentin erklärte, trotz der agrarischen Struktur des Landes einen Großteil des Saatgutes und der Nahrungsmittel aus anderen Ländern importiert. Erschwerend hinzu kommt die Tatsache, daß es sich meist um genetisch manipuliertes Saatgut handelt, das nur mit bestimmten Düngemitteln und Pestiziden angebaut werden kann. Orientiert an Modellen der Selbstversorgung in anderen Teilen der Welt wie in Kuba, wo 80 Prozent der Bevölkerung aus eigener Produktion ernährt werden, sollen die Volksgärten (halk bahceleri) hier und an anderen Orten des Landes ein Beispiel für Ernährungssouveränität geben. So wurde aus allen Teilen der Türkei Saatgut nach Kücük Armutlu geschickt, um verschiedene Sorten Gemüse, Obst und Hülsenfrüchte anzubauen. Die Referentin kritisierte ausdrücklich, daß die Landwirtschaft in der Türkei nicht unabhängig ist, sondern von monopolistischen Agrarkonzernen kontrolliert wird. Durch den agrarindustriellen Konzentrationsprozeß würden immer mehr landwirtschaftliche Flächen der Subsistenz entzogen, so daß eine unabhängige kleinteilige Produktionsweise nur gegen das Interesse von Staat und Kapital aufrechterhalten werden kann, die Verfügungsgewalt über die Ernährung der Bevölkerung als Herrschaftsmittel einzusetzen. So soll die selbstorganisierte Erzeugung von Nahrungsmitteln, für die zudem Kellerräume zur Produktion eiweißreicher Pilze genutzt werden, auch dem Widerstand gegen eine mögliche Belagerung des Viertels dienen.

Die bislang 1000 Quadratmeter große Fläche wurde von dem Volkskomitee bereitgestellt, in dem die Bewohnerinnen und Bewohner des Viertels auf demokratische Weise über die Verwendung des Bodens und den Einsatz vorhandener Mittel befinden. Auf der Fläche eines unbewohnten zerfallenen Hauses entstanden so Beete für Nahrungsmittel, die von den Menschen, die sie nutzen, selbst angebaut werden. Dabei versteht sich das Projekt, so die Referentin, nicht als eine Form des urban gardening, das in immer mehr Großstädten praktiziert wird, sondern ausdrücklich als Gegenentwurf zu entsprechenden Modellen der "urbanen Transformation". Benannt wurde der Volksgarten nach einem politischen Gefangenen, der im Hungerstreik gegen die berüchtigten F-Typ-Gefängnisse ums Leben gekommen ist.

Als weiteres Projekt wurde die Herstellung eines Windrades präsentiert, das aus alten Autoteilen konstruiert wurde. Es kann zwar nur eine einzige Familie mit Strom versorgen, doch das Pilotprojekt dient ebenfalls als Beispiel dafür, daß die Menschen sich mit einfachsten Mitteln von einer staatlich kontrollierten Infrastruktur unabhängig machen können, die mit Hilfe systematisch eingesetzter Stromabschaltungen auch als Mittel der Aufstandsbekämpfung verwendet werden kann. Doch auch die ökonomisch begründeten Stromabschaltungen bei bedürftigen Familien sind ein wichtiger Grund dafür, über Mittel und Wege einer autonomen Energieversorgung nachzudenken. Benannt wurde das Windrad nach Hasan Ferit Gedik, der aus Kücük Armutlu stammte und 2013 nach einer Demonstration gegen den organisierten Drogenhandel mit sechs Schüssen ermordet wurde. Wie die Referentin ausführte, versucht der Staat, unabhängige und wehrhafte Viertel wie dieses in Kooperation mit der Drogenmafia zu unterwandern, weil ein direkter Angriff auch für die Polizei verlustreich sein könnte.

Die Wassserpumpe im Volksgarten wiederum wurde nach Dilek Dogan benannt, die in Kücük Armutlu lebte und von der Polizei in der Wohnung der Familie, die mitten in der Nacht gestürmt wurde, vor den Augen ihrer Eltern von mehreren Schüssen getroffen wurde. Angeblich war der Zweck der Polizeiaktion, bei der die 21jährige Frau so schwer verletzt wurde, daß sie nach einigen Tagen im Krankenhaus starb, eine Hausdurchsuchung, bei der dem Verdacht nachgegangen werden sollte, daß die Familie einer illegalen Partei angehörte.

Solidaritätsbekundungen für politische Gefangene sind ein wichtiger Teil der Aktivitäten der Ingenieure und Architekten des Volkes. So führte die Gruppe zum Zeitpunkt des Vortrages seit sechs Wochen einen Sitzstreik in einer zentralen Straße Istanbuls durch, um die Freilassung des im März festgenommenen Ingenieurs des Volkes Olcay Abalay zu bewirken. Er wurde bei seiner Rückkehr aus Dersim, wo er am Bau einer Wasserturbine beteiligt war, festgenommen. Obwohl die Aktivistinnen und Aktivisten dabei immer wieder von der Polizei angegriffen und zum Teil verhaftet werden, setzen sie diese Proteste fort. So erklärte die eigens aus Istanbul angereiste Aktivistin zum Schluß ihres Vortrages, ihnen sei bewußt, daß für allen politischen Widerstand, den sie leisten, ein Preis zu entrichten sei, doch das hindere sie nicht daran, weiterzukämpfen. Zu leben, ohne sich zu beugen, ist die beste Art zu leben, erklärte sie abschließend, was mit lautem Applaus in dem überfüllten Veranstaltungssaal quittiert wurde.


Publikum vor Bühne in Oberhausen-Arena, rote Fahnen - Foto: © 2014 by Schattenblick

Grup Yorum in Oberhausen 2014
Foto: © 2014 by Schattenblick

Türkei im Griff des AKP-Regimes

In einem an den Vortrag anschließenden Gespräch mit dem Schattenblick meinte die Aktivistin der Ingenieure und Architekten des Volkes auf die Frage, wie weit linke Projekte der Selbstorganisation in der Türkei überhaupt noch möglich seien, ohne Gefahr zu laufen, in den Knast zu kommen, daß der herrschende Ausnahmezustand natürlich auch für Angriffe auf die gesamte Linke genutzt würde. Während im Volk große Angst entstanden sei, hätte sich für Revolutionäre und Demokraten wie sie wenig geändert. Sie wären immer schon Ziel staatlicher Repression, wie man etwa am Beispiel der Musikgruppe Grup Yorum sehen könne, deren Konzerte auch schon vor dem Ausnahmezustand verboten wurden. Auch normale Sitzstreiks oder Kundgebungen auf der Straße wurden schon zuvor von der Polizei angegriffen und gewaltsam unterbunden. Ganz allgemein habe das Niveau der Repression jedenfalls zugenommen, und die Menschen hätten begründete Angst, irgend etwas zu unternehmen, was der AKP-Regierung nicht ins Konzept paßt.

Wie groß die Chance sei, daß sich noch einmal breiter Widerstand in der Bevölkerung entwickle, der wie im Falle der Gezi-Park-Proteste vor drei Jahren landesweit um sich greift, lautete die nächste Frage des SB. Das halte sie nicht für ausgeschlossen, antwortete die Aktivistin, weil die aktuell herrschende Repression alle gesellschaftliche Bereiche treffe und sich etwa im Bereich der Medien und der Hochschulen, aber auch von Kunst und Kultur bereits Widerstand rege. Vor einem zweiten Gezi-Aufstand, der für den Westen der Türkei ein absolutes Novum war, habe der Faschismus Angst, daher verfolge die AKP-Regierung im Moment die Strategie, alles an sozialem Aufbegehren zu unterdrücken, was möglicherweise um sich greifen könnte. Nicht nur unter Akademikern, sondern in vielen Berufsgruppen realisierten die Menschen inzwischen, daß sie nichts mehr zu verlieren haben, was die Wahrscheinlichkeit einer umfassenderen Erhebung vergrößere. Viele hätten ihren Job verloren, verfügten über kein Einkommen mehr und hätten damit auch keinen ausreichenden Zugang zu Nahrungsmitteln. Deshalb kämpften viele laut und entschieden für ihren Job, wie entsprechende Proteste in vielen Städten des Landes zeigten.

Die Aktivistin führte das Beispiel der Universitätsdozentin Nuriye Gülmen und des Lehrers Semih Özakca an, die sich zum Zeitpunkt des Gesprächs seit fast 60 Tagen im Hungerstreik befanden und körperlich bereits an die Grenze ihres Überlebens gelangt waren. Nach 75 Tagen wurde ihr Protest vor dem Menschenrechtsdenkmal in Ankara, der international Beachtung gefunden hatte und von aktiver Solidarität auch prominenter Bürger des Landes begleitet wurde, die ihrerseits Gefahr laufen, für eine derartige Unterstützung Repressalien zu erleben, durch die Verhaftung der beiden Hungerstreikenden unterbunden.

Zur Situation von Grup Yorum, deren Musikerinnen und Musiker wiederholt verhaftet wurden, weil ihnen eine angeblich illegale politische Betätigung zur Last gelegt wird, berichtete die Aktivistin, daß nicht einmal die Verhaftung von neun Mitgliedern der Gruppe, zu der es Ende letzten Jahres kam, deren Auftritte verhindert hätten. In der Haft wie draußen wurde weitergearbeitet, es wurden neue Lieder geschrieben und außerhalb des Knastes Aufnahmen für ein neues Album gemacht. Egal, wo und wie, die politische Arbeit werde fortgesetzt. Am 23. April sollte ein großes Konzert stattfinden, was verboten wurde. Dennoch wurden Konzerte in kleinerem Rahmen abgehalten, so auch in Kücük Armutlu und anderen widerständigen Vierteln. Grup Yorum trat zum Beispiel auf dem Dach eines Hauses vor mehreren hundert Menschen auf, es wurde getanzt und gefeiert, denn Grup Yorum ist eine Volksbewegung, die nicht aufzuhalten sei, so die Aktivistin. Wenn die Gruppe keinen Saal erhält, dann geht sie eben auf die Plätze und auf die Straßen, schon um zu beweisen, daß der Staat Grup Yorum nicht zu Schweigen bringen kann.

Auf die Frage, inwiefern es Aussicht darauf gibt, daß der Kampf der türkischen und kurdischen Linken gegen das herrschende Regime in größerem Ausmaß zusammengeführt wird, betonte die Aktivistin, daß auf jeden Fall klar sei, wer der Feind ist. Allerdings könne es aus ihrer Sicht nicht um einen nationalen Befreiungskampf gehen, sondern im Mittelpunkt stehe der Klassenkampf. Nur darüber könne etwas erreicht werden, denn der parlamentarische Weg werde ihnen von den Herrschenden als einzige Möglichkeit, sich politisch Gehör zu verschaffen, vorgeschrieben. Ihnen sei allerdings wichtig, den Klassenkampf auf den Straßen zu führen und nicht, wie es die kurdische Bewegung immer wieder getan habe, auf nationaler Ebene zu agieren. Das kurdische Volk müsse natürlich selbst darüber entscheiden, wo und wie es leben will, aber der Klassenkampf, der Kampf zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern, zwischen Proletariat und Bourgeoisie stehe stets an erster Stelle.

Erdogan hat sich am Anfang seiner Präsidentschaft stark auf die EU bezogen und von dort Rückendeckung erhalten, um sich gegen die Generäle durchzusetzen. Heute wird er zwar von der EU und der deutschen Regierung kritisiert, zugleich wird aber mit der türkischen Regierung und ihren Behörden aufs engste zusammengearbeitet. Was also können sich türkische Linke überhaupt von der EU versprechen? Auf diese Frage des Schattenblicks antwortete die Aktivistin, daß sie nicht für die gesamte türkische Linke sprechen könne, doch in der Tradition, in der sie stehe, erwarte man sich nichts von der EU. Die revolutionäre Linke, der sie angehört, kämpft für eine unabhängige Türkei, gegen Kapitalismus und Rassismus. Der EU habe die türkische Linke zum Beispiel die Verschärfung der Isolationshaft zu verdanken, auch das sei ein Grund, die Türkei vom Einfluß der EU unabhängig zu machen.

Angesichts der engen Zusammenarbeit türkischer und deutscher Geheimdienste und der hierzulande gegen Genossen und Kommunistinnen türkischer Herkunft gerichteten politischen Verfolgung riskiert auch sie durch ihre Teilnahme an einer linken Veranstaltung, bei der Rückkehr in die Türkei verhaftet zu werden. Wie sie damit umgehe, so die abschließende Frage des Schattenblicks. Die Aktivistin erklärte, daß sie natürlich schon vor ihrer Reise über diese Möglichkeit nachgedacht habe. Es sei ihr jedoch wichtig, sich dadurch nicht davon abhalten zu lassen, ihren legitimen Kampf zu führen und die Notwendigkeit, sich gegen die Staatsmacht verteidigen zu müssen, nicht nur für sich selbst, sondern für alle Völker der Welt zu unterstreichen. Deswegen solle es nicht das letzte Mal sein, daß sie ins Ausland reist. Auf keinen Fall werde sie sich durch die Repression einschüchtern lassen, sie werde überall hingehen und auch ihren Genossen davon berichten, was sie hier erlebt hat, um dem Volk in der Türkei und darüber hinaus Mut zu machen, so die junge Frau mit der Ernsthaftigkeit eines Menschen, dem das leichtfertige Rezitieren bloßer Parolen nicht fremder sein könnte.


Stacheldraht vor Knast in Hamburg - Foto: © 2016 by Schattenblick Stacheldraht vor Knast in Hamburg - Foto: © 2016 by Schattenblick

Architektur der Repression
Fotos: © 2016 by Schattenblick

Kein Zuschauer, sondern Akteur - Bündnispolitik der Bundesrepublik

In der Bundesrepublik zu meinen, nichts mit der Situation in der Türkei zu tun zu haben, stimmt aus mehreren Gründen nicht. So besitzt die AKP-Regierung aller undemokratischen und repressiven Praktiken zum Trotz den Status einer ganz normalen Administration, mit der auf allen Ebenen zusammengearbeitet wird, was insbesondere im nachrichtendienstlichen Bereich für in der Türkei verfolgte Menschen lebensgefährlich ist. Die Bundesregierung hat in Incirlik Aufklärungsflieger der Bundeswehr stationiert, deren Informationen an die türkischen Streitkräfte weitergereicht werden. Weil ihre Urheber keine finale Kontrolle über die Verwendung der hochauflösenden Aufklärungsfotos haben, tragen sie gewollt oder ungewollt dazu bei, daß sie im Kampf der Türkei gegen die kurdische Freiheitsbewegung in Nordirak und Nordsyrien eingesetzt werden.

Die Bundesrepublik hat gegen die Lieferung von Waffen aller Art in die Türkei keinen Einwand, obwohl diese im Land zur sogenannten Aufstandsbekämpfung eingesetzt werden und die türkischen Streitkräfte im Südosten des Landes ganze Städte dem Erdboden gleichgemacht haben. Kommunistinnen und Kommunisten türkischer Herkunft und Aktivistinnen und Aktivisten des kurdischen Freiheitskampfes werden in der Bundesrepublik politisch verfolgt und nach dem Gesinnungsstrafrecht 129 b, das nur auf Anweisung des Bundesjustizministeriums angewendet wird, mit mehrjährigen Strafen belegt, selbst wenn die ihnen zur Last gelegten Taten keinen Inlandsbezug haben.

Nicht zuletzt werden Auftritte der politischen Band Grup Yorum gegen Rassismus und Faschismus, obwohl sie in der Bundesrepublik stets friedlich verliefen, durch das Bundesinnenministerium unmöglich gemacht. So werden Veranstaltern, die Grup Yorum Räume zur Verfügung stellen, Strafen angedroht. Gegen diese Praxis soll am 17. Juni in Fulda eine bundesweite Demonstration stattfinden [1]. Während die Verhaftung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel in der bürgerlichen Presse einhellig verurteilt wird, schweigt man sich über die politische Unterdrückung linker Gruppen türkischer und kurdischer Herkunft in der Bundesrepublik aus. Schon das läßt ahnen, daß die Vermutung, Zustände wie in der Türkei wären hierzulande völlig undenkbar, nicht irreführender sein könnte.


Fußnote:

[1] http://political-prisoners.net/item/5177-aerger-um-geplantes-fest-der-voelker.html

2. Juni 2017


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