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BERICHT/272: Initiativvorschläge - ein Standpunkt in Bewegung ... (1) (SB)


Demotransparent 'Veränderung selber machen Organize!' - Foto: © 2017 by Schattenblick

Foto: © 2017 by Schattenblick

Das in einer lebenswerten Gesellschaft im Mittelpunkt stehende Interesse des Menschen an Wohnmöglichkeiten mit angemessenem Komfort in einem Umfeld, das seinen sozialen und kulturellen Interessen entspricht, wird in einer urbanen Umwelt, die in ihrem Warencharakter auf dem Privateigentum an Grund und Boden basiert, in sein Gegenteil verkehrt. Das in dieser Investitionssphäre vorhandene fixe Kapital schlägt nur langsam um und wird damit traditionell als Anlagemöglichkeit betrachtet, deren Sachwert Sicherheit gegen Wertverfall bieten kann. Um Immobilien im Verhältnis zu Investitionen, die in der Industrie oder auf dem Finanzmarkt weit höhere Renditen abwerfen, attraktiv zu machen, entwickelte man im Zuge der Liberalisierung und Deregulierung der Finanzmärkte neue Formen der Immobilienfinanzierung. Fonds- und Private-Equity-Gesellschaften entwarfen gewinnträchtige Anlagestrategien, Finanzprodukte wie Asset Backed Securities und andere Derivate, in denen Schuldentitel gebündelt wurden, erfreuten sich bei den großen institutionellen Investoren großer Beliebtheit. Die erhöhte Umlaufgeschwindigkeit von Schuldverschreibungen, denen Immobilienkredite mit hohem Ausfallrisiko zugrundelagen, führte denn auch zu jener Blasenbildung auf dem US-amerikanischen Immobilienmarkt, deren Implosion als Initialzündung für die aktuelle Krisenentwicklung 2007 gilt.

Als staatliche Infrastruktur sichert gebaute Umwelt die Voraussetzungen kapitalistischer Produktion, Zirkulation und Konsumption, ohne notwendigerweise einen allgemeinen Nutzen zu haben, der über die Aufwertung des Standortes hinausgeht. Der allgemeine Nutzen, der mit der staatlichen Bereitstellung privatwirtschaftlich genutzter Produktionsvoraussetzungen unterstellt wird, entspringt dem Glauben an ein Wachstum, das allen Menschen zu mehr Wohlstand verhilft. Dies hat sich nicht nur mit der realen Lohnsenkung der 2000er Jahre als Legende erwiesen, sondern wird auch durch den Verzicht des Staates darauf, eigenständig erschwinglichen Wohnraum zu schaffen, widerlegt. Statt dessen machen neoliberale Politik und kapitalistische Finanzwirtschaft das bürgerliche Gemeinwesen selbst zum Investitionsobjekt mit allen bekannten negativen Folgen für seine Subjekte. So gibt es für eine Politik des sozialen Wohnungsbaus unter den auf Kapitalinteressen verpflichteten Parteien keine Lobby, während der Mangel an erschwinglichem Wohnraum alle ausschließt, die die verlangten hohen Mieten nicht bezahlen können. Vielmehr wird versucht, denjenigen Teil des Verdienstes von Lohnabhängigen, der auf die Wohnkosten entfällt, zu vergrößern und auf diese Weise in großem Stile umzuverteilen, was nach der Abschöpfung des Mehrwerts vom Lohn der Arbeit geblieben ist. [1]

Systematisch erzeugter Leerstand und das Verrottenlassen von preiswertem Wohnraum ist eine weitere Möglichkeit, dem Immobilienkapital mit Hilfe politischer Entscheidungen zuzuarbeiten. In Berlin wurde zwischen 2002 und 2009 mit dem Ziel der Aufwertung der Abriß von rund 350.000 Wohnungen aus Steuermitteln finanziert, was zu einer künstlichen Verknappung des Wohnungsangebotes und damit zum sukzessiven Anstieg der Miet- und Immobilienpreise führte. Die Bürger zahlen also mit ihren Steuermitteln für die Erhöhung ihrer Mieten. In diesem Sinne läßt sich sogar davon sprechen, daß die Gentrifizierung ganzer Städte zu einer bewußten Strategie der Politik avanciert ist. [2]

Dieses Interesse läßt sich auch daran ablesen, daß der ursprünglich vorhandene öffentliche Wohnungssektor im Zuge der Privatisierungswelle seit den 90er Jahren systematisch ausgehöhlt wurde. Die Berliner Finanzsenatoren plünderten das Gemeingut in mehreren aufeinanderfolgenden Schüben aus. Die Wohnungsbaugesellschaften wurden zunächst zum Zusammenschluß gedrängt, wodurch Gelder in Milliardenhöhe herausgezogen und in den Landeshaushalt überführt werden konnten. Die fusionierten Gesellschaften sahen sich gezwungen, neues Kapital aufzunehmen, das sie durch hohe Mieten und Einsparungen refinanzieren mußten. Im nächsten Schritt wurden die Wohnungsbaugesellschaften gezwungen, 50.000 Wohnungen zu privatisieren, worauf schließlich der 2004 vollzogene Verkauf der GSW mit 64.000 Wohnungen folgte. Dies führte dazu, daß der öffentliche Wohnungsbau Berlins von 480.000 Wohnungen in den Jahren 2009/2010 auf einen Tiefststand von 260.000 Wohnungen sank. Von ursprünglich 360.000 belegungs- und mietpreisgebundenen Wohnungen im sozialen Wohnungsbau sind weniger als 100.000 übriggeblieben, weil die Förderung eingestellt wurde. Der Bestand an Sozialwohnungen schwindet, da sie jederzeit in Eigentumswohnungen umgewandelt werden können.

Der in Deutschland bestehende relative Schutz von Bestandsmieten, der die Möglichkeit zur Mieterhöhungen an den Mietspiegel bindet, wird seit 2005/2006 durch eine Entkopplung bei Neuvermietung gebrochen. Da der Abstand zwischen Bestandsmieten und potentiell möglichen Mieten wächst, schafft dies einen massiven ökonomischen Anreiz, einen Wechsel der Mieter und des Mietvertrags zu erzwingen. Zur Anwendung kommen Strategien wie Modernisierungsankündigung, Umwandlungsankündigung zur Eigentumswohnung, Eigenbedarfskündigung, aber auch "Störung des Hausfriedens" oder nicht fristgerecht gezahlte Mieten. [3]

In Deutschland sind die Mieten zwischen 2012 und 2016 um durchschnittlich 15 Prozent gestiegen, in Ballungszentren sogar noch wesentlich mehr. Besonders drastisch war der Anstieg in Berlin, wo eine Mietwohnung heute im Schnitt 28 Prozent mehr als vor fünf Jahren kostet. Bemerkenswert ist dabei nicht zuletzt, daß die Mietpreisbremse in Berlin und München nicht greift, wo die Mieten seither sogar noch schneller als zuvor gestiegen sind. So stiegen sie in der Hauptstadt seit dem 1. Quartal 2015 um 18 Prozent, während die Steigerungsrate in den zwei Jahren vor Einführung der Mietpreisbremse bei 16 Prozent gelegen hatte. Ein wesentlicher "Konstruktionsfehler" dieses Instruments besteht darin, daß Neubauten sowie umfassend sanierte Wohnungen grundsätzlich davon ausgenommen sind.

Wenngleich Berlin anderen deutschen Städten beim Thema Gentrifizierung hinterherhinkt, greift diese inzwischen auch an der Spree. Steigende Immobilienpreise fördern die Spekulation und vertreiben Menschen aus ihren angestammten Wohngebieten. Zudem ziehen jährlich rund 50.000 Menschen in die Hauptstadt, während dort kaum neuer bezahlbarer Wohnraum geschaffen wird. Stattdessen werden viele Neubauten zu Höchstpreisen verkauft oder vermietet. Luxussanierungen fressen sich durch die Quartiere und treiben die Mieten weiter in die Höhe. Finanzkräftige Nicht-Berliner machen sich breit, Touristen werden in vermieteten Privatwohnungen beherbergt. Die dramatischen Folgen liegen auf der Hand: Immer mehr Menschen konkurrieren um immer weniger freie bezahlbare Wohnungen. [4]

Erschwerend kommt hinzu, daß Berlin im Gegensatz zu vielen anderen Metropolen relativ einkommensarm ist. So ist der Anteil des Einkommens an der Miete in den letzten zwanzig Jahren um bis zu 30 Prozent gestiegen, die Hälfte der Bevölkerung mußte bereits im Jahr 2014 ein Drittel des Erlöses aus dem Verkauf der eigenen Arbeitskraft für die Miete abführen. Dieses Verhältnis schlägt natürlich bei niedrigen Einkommen noch wesentlich gravierender zu Buche, und so müssen viele Rentnerinnen und Rentner 60 Prozent ihres Einkommens fürs Wohnen ausgeben. Sie können notgedrungen an Kleidung, am Essen, an der Kultur sparen, aber nicht an der Miete, sonst droht die Zwangsräumung!

Mit mehr als 25 Zwangsräumungen pro Tag hat sich Berlin zur Hauptstadt dieses wohl massivsten Angriffs auf die Mieterinnen und Mieter entwickelt. Rund 10.000 Räumungsklagen kommen jährlich vor Gericht, Kündigungen, Räumungsklagen und Zwangsräumungen werden als weit verbreitete Instrumente der Ertragssteigerung zur Anwendung gebracht. Wird heute eine Kündigung ausgesprochen, ist es sehr viel wahrscheinlicher als noch vor zehn Jahren, daß dieser auch die physische Räumung folgt. Sie kann auch dann durchgeführt werden, wenn der Zwangsgeräumte keinen neuen Wohnraum hat. Im Kampf um bezahlbaren Wohnraum und das Zusammenleben im Stadtteil als einem elementaren Feld des Widerstands kommt daher der Verhinderung von Zwangsräumungen zentrale Bedeutung zu.


Transparent 'Die Häuser denen, die sie brauchen' - Foto: © 2017 by Schattenblick

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Zwangsräumung verhindern!

Auf dem Kongreß "Selber machen - Konzepte von Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie", der vom 28. bis 30. April im Bethanien in Berlin-Kreuzberg stattfand, war der Workshop "Widerstand hat viele Gesichter - 5 Jahre Zwangsräumung verhindern in Berlin" unter anderem diesem Thema gewidmet. Wie die Aktivistinnen der Gruppe "Zwangsräumung verhindern" [5] berichteten, setzt sie sich aus Menschen zusammen, die sich häufig früher schon in Stadtteil- und Mietkämpfen engagiert hatten. Dies habe sich stets als schwierig erwiesen, weil man sich als Mieter meist rechtlich zu wehren versucht und individuell vorgeht. Während man vor zehn Jahren in Berlin auch noch umziehen konnte, sei das seit fünf Jahren kaum mehr möglich. Eines Tages habe jemand am Maybachufer, also dem Gentrifizierungsbezirk an der Grenze zu Kreuzberg, Zettel an einer Erdgeschoßwohnung mit der Aufschrift entdeckt: "Hier wird gentrifiziert!" und "Georg Tall, du kriegst uns hier nicht raus!" Wie sich bei einem Besuch herausgestellt habe, wohnte dort eine Rollstuhlfahrerin, die auf ihre Nachbarschaft angewiesen war und sich gegen ihre Räumung aus der ehemaligen Sozialwohnung wehrte. Daraufhin habe sich eine Gruppe gebildet, die mit vielen Leuten versuchen wollte, die Räumung zu verhindern.

Darüber habe man auch Kontakt mit der Familie Gülbol bekommen, die schon seit 20 Jahren dort um die Ecke gewohnt hat und sich ebenfalls gegen eine geplante Zwangsräumung wehren wollte. Als bei der ersten versuchten Räumung um die 120 Leute erschienen waren, sei das der Auftakt zur späteren großen Blockade gewesen. Die Gerichtsvollzieherin mußte unverrichteter Dinge abziehen, weil der Hauseingang blockiert war, und erklärte, das habe sie noch nie erlebt. Da man dafür nicht offiziell, sondern lediglich mit Zetteln und persönlicher Ansprache mobilisiert hatte, sei das ein großer Erfolg gewesen. Es sei aber auch klar, daß das Recht auf Privateigentum im Zweifelsfall mit massiven Mitteln durchgesetzt wird. Da Zeit gewonnen war, konnte man nun in größerem Stil mobilisieren, und diese Geschichte schlug hohe Wellen im Kiez. Vereine, Gruppen, Initiativen, Geschäfte, Künstlerinnen und Nachbarinnen verpflichteten sich dazu, am betreffenden Tag tatsächlich zu blockieren, was dann auch viele gemacht hätten. Es waren rund 1000 Leute versammelt, um die Räumung zu verhindern, die dann allerdings von der Polizei mit 850 Mann und einem Hubschrauber relativ flott durchgesetzt worden sei. Trotz des Verlustes habe Ali Gülbol von einer tollen Erfahrung gesprochen, da so viele Leute solidarisch waren, die er gar nicht kannte. In einer Gesellschaft, in der Vereinzelung und Individualisierung zum Grundprinzip geworden sind, sei Solidarität ein Wert, den man kaum noch leben oder erfahren könne. Das hätten auch viele andere von Zwangsräumung bedrohte Menschen bestätigt, bei denen es gelungen sei, die bei Mietproblemen übliche Ohnmacht zu durchbrechen.

In einem anderen Fall habe man für ein Ehepaar ein überraschendes Go-in bei der öffentlichen Wohnungsbaugesellschaft Mitte gemacht, die daraufhin wider Erwarten die Zwangsräumung zurücknahm. Offenbar hätten sie dort Angst um ihren Ruf gehabt, da sie nicht als Räumer und Mietpreistreiber dastehen wollten, die sie im Endeffekt doch seien. Diese Vorgehensweise habe sich dann fortgesetzt und bei öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften immer recht funktioniert. Es sei wichtig, den Besitzern zu zeigen, daß man breite Öffentlichkeit schaffen und notfalls bis zur Blockade gehen werde. Aus der Summe der Aktionen erwachse ein Drohpotential, das vielen Eigentümern Angst macht, da sie negative Schlagzeilen scheuen. Einige ließen dann die Zwangsräumung in der Schwebe oder räumten eine konkrete Frist ein, andere zögen sie ganz zurück, manche ließen trotzdem räumen. Die Blockade sei im Grunde nur das letzte Mittel, das auch bei großer Mobilisierung auf eine Polizei treffe, die über den besseren Apparat verfüge und mitunter ganze Straßen absperre.

Durch die Gülbol-Räumung, die so martialisch verlief, sei die Problematik als solche wie auch die Gruppe "Zwangsräumung verhindern" öffentlich wahrgenommen worden. Es habe sich ein gewisser Mythos gebildet, der von Vorteil sei, wenn Eigentümer sich damit beschäftigten, mit wem sie es zu tun haben. Komme jemand mit diesem Problem, fange man ganz klein an und schreibe einen Brief mit einer unterschwelligen Drohung, wer man sei und was man im Notfall unternehmen werde. Sollte der Brief nichts nützen, folge Öffentlichkeits- und Pressearbeit. Man verteile Flyer, plakatiere auch mal die Konterfeis der Eigentümer und suche sie unangemeldet mit einer Demo samt Megaphon auf, um sie zu nerven. Auch begleite man Leute zu Mietprozessen, so daß die Richter zumindest ein bißchen vorsichtiger sind und die Leute nicht wie üblich abfertigen. Für diese sei es eine emotionale Unterstützung, nicht allein vor dem Richter zu sitzen, kein Wort verstehen, was er in seiner Juristensprache redet, um dann am Schluß das Nachsehen zu haben.

Was ließe sich als Erfolg anführen? In den fünf Jahren seien ungefähr 75 Leute gekommen, die von Zwangsräumung bedroht waren. Rechne man die Familien dazu, seien es vielleicht etwa 200 Betroffene gewesen. In der Hälfte der Fälle sei es gelungen, die Räumung auf irgendeine Art und Weise zu verhindern. Einige erreichten Aufschub, aber andere wurden zwangsgeräumt. Grundsätzlich zu zeigen, daß man mit Solidarität etwas gewinnen kann, sei für sich genommen ein Riesenerfolg. Zudem seien Zwangsräumungen ein öffentliches Thema geworden, wenn auch heute nicht mehr so stark wie vor fünf Jahren, als die erste Aktion stattfand. Man habe als Gruppe inzwischen eine gewisse Erfahrung, was man wie machen kann, und das Vertrauen, kurzfristig etwas auf die Beine stellen zu können. Als eine Schule geräumt wurde, in der Geflüchtete untergebracht waren, sei eine Besetzung im Rathaus durchgeführt worden. Einer Richterin, die auch für die Immobilienwirtschaft gearbeitet hat, habe man ein Seminar gesprengt und ein weiteres von vornherein verhindert. Man habe Menschen aus Bulgarien unterstützt, die aus einer Ruine geräumt wurden.

Weil es einige bedrohte Läden gebe, sei die Idee der Kiezversammlungen wieder aufgegriffen worden. Diese hatten 1987 unter großer Beteiligung von bis zu 500 Leuten mit dem Ziel begonnen, dem Kiez eine Stimme zu geben und Widerstand zu organisieren. Später sei diese Initiative jedoch von anderen Themen überlagert worden und eingeschlafen. Als dann in jüngerer Zeit Gewerbetreibende bedroht waren, seien beim ersten Mal 350 Leute zur Versammlung gekommen. Daraus hätten sich viele weitere Aktivitäten und Initiativen ergeben, die ineinander griffen und die Verdrängung an einzelnen Stellen verhindern konnten. Nachdem nun zwei dieser neuen Kiezversammlungen durchgeführt worden seien, bestünden gute Aussichten, daß der Ball aufgegriffen werde.

Eine Zwangsräumung sei ein derart existentieller Angriff, daß die Leute sich erst einmal davon erholen müssen. Anfangs kämen sie meist noch einige Zeit zu den Treffen der Gruppe, sei es aus einem Gefühl der Verpflichtung oder weil es ihnen dort gefällt. Aber sie müssen arbeiten, oft auch noch andere Probleme bewältigen, und bleiben dann irgendwann weg. Wenngleich man versuche, sich beispielsweise zum Grillen im Park zu treffen oder andere soziale Kontakte vorzuhalten, sei der Unterschied zwischen diesen Leuten und Politaktivisten im Denken und vom Habitus her doch recht groß. Einige wenige seien dabeigeblieben, die meisten aber nicht. Wenn man allerdings einzelne Leute um Hilfe bitte, sei es bei einer Übersetzung oder anderen konkreten Dingen, funktioniere das sehr gut.

So sei denn auch als Kritik an der Gruppe anzumerken, daß man keine Selbstorganisierung der Betroffenen hinbekommen habe. Man sei ständig am Rennen, den wenn Leute kommen, die vor einer Zwangsräumung stehen, könne man sie nicht vertrösten, weil man gerade keine freien Kapazitäten habe. Schwer auszuhalten sei auch die Machtlosigkeit, wenn eine Räumung durchgezogen wird. Seit der großen Mobilisierung bei der Familie Güngol habe die Beteiligung kontinuierlich nachgelassen, so daß den Einzelnen viel Einsatz abverlangt werde. Dennoch rücke man nicht von dem Anspruch ab, daß jeder das einbringt, was er oder sie eben kann, und sei nur eine Kleinigkeit. Wichtig sei, daß die Menschen gerne zur Beratung, zum Plenum, zur Organisierung kommen. Sie müßten ernstgenommen und als Menschen so wahrgenommen werden, wie sie sind. Wenngleich man sich bei Meinungsverschiedenheiten durchaus reibe, begegne man ihnen auf Augenhöhe. Das komme draußen nicht richtig an, daß diese Vorgehensweise in ihrer Vielfalt auch funktioniert und gut so ist. Manche schrecke es ab, weil sie befürchten, von der Gruppe aufgefressen zu werden.

Die Gruppe führe immer wieder Debatten um ihr Selbstverständnis, doch seien dabei die Aktivistinnen und Aktivisten weitgehend unter sich. Strategisches Denken sei für weniger politisierte Leute eben nicht selbstverständlich. Den Betroffenen sei schon klar, daß viel geändert werden müßte, doch hätten sie weder die Zeit noch die Kraft, das in die Tat umzusetzen. An der politischen Diskussion hätten die meisten kein Interesse. Man arbeite jedoch mit anderen Gruppen zusammen und erlebe, daß Widerstand machbar ist und auch zu manchen Erfolgen führt. Das immer wieder praktisch umzusetzen sei vielleicht auch für andere hilfreich und ermutigend. Allerdings habe man derart viel zu tun, daß selbst der Austausch mit anderen Initiativen innerhalb Berlins bislang nur im Ansatz gelinge. Wenngleich die Gruppe Teil eines überregionalen Vernetzungstreffens sei, beziehe sich das vor allem praktisch auf Zwangsräumungen, wenn der Eigentümer in einer anderen Stadt sitzt. Zu Politikern auf verschiedenen Ebenen bestünden sporadische Kontakte, doch habe man nicht die Hoffnung, daß politische Parteien irgend etwas veränderten: "Es wäre zwar besser, wenn eine Regierung Zwangsräumungen verbieten würde, doch dann würden wir uns das nächste Thema suchen, bei dem es um Eigentum geht, weil die Eigentumsfrage zentral ist, was die Macht- und Herrschaftsverhältnisse in dieser Gesellschaft betrifft."


Transparent 'Nie wieder Miete! Kommunismus statt Eigentum' - Foto: © 2017 by Schattenblick

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Kriterien für eine andere Stadtentwicklungspolitik

Kann Stadtentwicklungspolitik die Auswüchse der Gentrifizierung korrigieren? Helfen Millieuschutzprogramme, Vorkaufsrechte der städtischen Wohnungsgesellschaften oder auch strengere Regeln im Gewerbemietrecht? In Berlin könnte eine drastische Erhöhung der Zweitwohnungssteuer oder die Durchsetzung des Zweckentfremdungsverbots das Vordringen finanzkräftiger auswärtiger Interessenten und die massenhafte Vermietung von Privatwohnungen an Touristen bremsen. Die Anfang des Jahres zur Stadtentwicklungssenatorin ernannte Katrin Lompscher von der Linkspartei will sich dafür engagieren, "daß es eine Stadt für alle bleibt". Die Entwicklung der letzten Jahre habe "die kapitalistischen Züge der Stadtentwicklung verstärkt", und der Aufgabe, dem etwas entgegenzusetzen, stelle sie sich gern. [6]

Die Stadtsoziologen Andrej Holm, Sabine Horlitz und Inga Jensen haben ein Konzept für ein neues Prinzip des sozialen Wohnungsbaus vorgelegt. Es soll auch in einem neoliberal geprägten Wirtschaftsumfeld einen sozialen Wohnungsbau mit Quadratmeterpreisen von knapp unter fünf Euro ermöglichen, während dieser bislang nur bei Kosten von über zehn Euro je Quadratmeter möglich sei. Der Entwurf sieht vor, daß anerkannt gemeinnützige Bauherren künftig bei Steuern, Grundstückskosten und Kreditzinsen Erleichterungen erhalten sollen. Erforderlich sei ein Gesamtkonzept der Stadtentwicklungspolitik, das eine soziale Wohnungsversorgung, die Einschränkung der Spekulation und eine weitgehende Mitbestimmung der Mieten umfasse. Sollte es wider Erwarten in der neuen Regierungskoalition ein ernsthaftes Interesse geben, die vorgehaltene neue politische Kultur umzusetzen, könne er nur dazu raten, auf die Straßen hinauszugehen und sich anzuhören, was die Initiativen auf Grund ihrer Erfahrungen fordern, so Holm. Die Bürokratie sei kein Quell für Innovationen, Lösungsvorschläge kämen vielmehr von den betroffenen Bürgern, die sich seit Jahren engagieren.

Wenngleich man geeigneten und erschwinglichen Wohnraum als ein Grundbedürfnis und unverzichtbares Element eines Lebens in Würde ausweisen kann, ist in der Verfassung der Bundesrepublik ein einklagbares Recht auf Wohnen nicht vorgesehen. Dementsprechend hat Deutschland zwar die allgemeinen Menschenrechtserklärungen unterschrieben, aber das dort explizit festgeschriebene Recht auf Wohnen nicht ratifiziert. Für diese elementare gesellschaftliche Sphäre gibt es weder eine Kollektivvertretung noch eine öffentliche Aufsicht, die den Schutz des Einzelnen etwa bei Abschluß eines Mietvertrages hinsichtlich mietrechtlicher Vereinbarungen kontrolliert.

Die hohe Hürde, doch zugleich die Errungenschaft des geführten Mietkampfes ist denn auch die Rückgewinnung kollektiven Widerstands, wo dieser gesetzlich und politisch am wenigsten vorgesehen ist. Wie weit dieser Widerstand reicht und zu welchen Fragen er vorstößt, kann nur von den Betroffenen in den konkreten Auseinandersetzungen entschieden werden. Wenn etwa linksalternative Baugruppen, wie in Berlin geschehen [7], in direkte Konfrontation mit Besetzerinnen und Besetzern geraten, zeichnet sich jedenfalls ab, daß die Eigentumsfrage zwangsläufig aus höchst unterschiedlichen Interessen gestellt wird, die folglich einer rückhaltlosen Klärung bedürfen.


Fußnoten:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0132.html

[2] http://www.quartiersforschung.de/download/Staatsexamensarbeit_Maschewski.pdf

[3] http://www.taz.de/!5367110/

[4] https://www.jungewelt.de/artikel/311825.mietrebellen-gegen-immobilienkonzern.html

[5] http://berlin.zwangsraeumungverhindern.org

[6] http://www.deutschlandfunk.de/gentrifizierung-in-berlin-von-mieterfrust-und.724.de.html

[7] http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0004.html


Beiträge zum Kongreß "Selber machen - Konzepte von Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie" im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/268: Initiativvorschläge - koordinierte Effizienz ... (SB)
BERICHT/271: Initiativvorschläge - Selbsthilfe revolutionär ... (SB)
INTERVIEW/367: Initiativvorschläge - forcierte Stetigkeit ...    Aktivist Jonas im Gespräch (SB)

14. Juni 2017


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