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BERICHT/050: Antirep2010 - Befreiung als universales Anliegen aller Lebewesen (SB)


Überlegungen zum emanzipatorischen Potential des Mensch-Tier-Verhältnisses

Hund auf Kissen - © 2010 by Schattenblick

"Nichtmenschliches Tier" auf dem Antirepressionskongress
© 2010 by Schattenblick

Schmerzen bereiten ... ein schutzwürdiger Rechtsanspruch?

Nur wenige Tage nach dem Internationalen Antirepressionskongress in Hamburg, der zu einem Gutteil von der Tierrechts- und Tierbefreiungsszene bestritten wurde, demonstrierte die Justiz des Vereinigten Königreichs, wie notwendig Solidarität auch auf diesem Feld politischer Kämpfe ist. Sechs Aktivistinnen und Aktivisten der Kampagne Stop Huntingdon Animal Cruelty (SHAC), die sich gegen das größte Tierversuchsunternehmen Europas Huntingdon Life Sciences (HLS) richtet, wurden unter dem Serious Organized Crime and Police Act 2005 (SOCPA) zu teils mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Bereits 2009 waren sieben SHAC-Aktivistinnen und -Aktivisten wegen "Verschwörung zur Erpressung" zu Haftstrafen zwischen vier und elf Jahren verurteilt worden. Erst unter diesem Vorwurf konnten die ihnen angelasteten Taten, die Betreiber von Firmen, die mit HLS zusammenarbeiteten, bedroht und eingeschüchtert zu haben, derartig hohe Zeitstrafen zur Folge haben.

Das im jüngsten Fall zur Anwendung gelangte SOCPA ist ein typisches Produkt des zur Normalität gewordenen rechtlichen Ausnahmezustands, wurde das Gesetz doch maßgeschneidert auf die Unterdrückung ziviler Proteste etwa durch die Verhängung von Demonstrationsverboten vor dem britischen Parlament oder die Unterstellung, man habe sich beteiligt an einer "Verschwörung mit dem Ziel, die vertraglichen Beziehungen einer Tierversuchsorganisation zu unterbrechen". Mit dieser Begründung wurden Urteile von bis zu sechs Jahren Haft verhängt, bei denen sich die Staatsanwaltschaft des Vorwurfs der Vereinigungskriminalität bediente, die sie der Notwendigkeit, den Angeklagten individuell konkrete Straftaten nachzuweisen, enthob.

In allen Fällen wurden Anti-Social Behaviour Orders (ASBOs) gegen die Verurteilten verhängt, die ihnen auf lange oder lebenslängliche Zeit die Teilnahme an Kampagnen gegen Tierversuche untersagen. ASBOs waren ursprünglich dazu gedacht, mißliebige Verhaltensauffälligkeiten unterhalb der Ebene strafrechtlicher Vergehen auf Gemeindeebene zu sanktionieren. Das Verhängen strafbewehrter Verbote politischer Aktivitäten im Rahmen extralegaler Maßnahmen, die zur Regulation sozialer Probleme eingeführt wurden, dokumentiert den grundsätzlichen Zweck derartiger Sonderrechte, herrschende Interessen unter Umgehung rechtlicher Grundsätze wie der zwingenden Voraussetzung, eine Strafe nur bei Vorliegen einer Straftat verhängen zu können, durchzusetzen.

Wie im Falle des in Österreich geführten Strafverfahrens gegen 15 Tierrechtsaktivistinnen und -aktivisten, die von einer verdeckten Ermittlerin unterwandert und ausspioniert wurden, die all das tat, wessen die Angeklagten bezichtigt werden, ist auch die britische Tierbefreierszene Ziel staatlicher Infiltrationsversuche. Erst vor kurzem wurde der Polizeibeamte Mark Kennedy enttarnt, der die britische Tierrechtsszene unter dem Namen Mark Stone fast zehn Jahre lang ausgeforscht hat.

Trotz der massiven internationalen Repression gegen Aktivistinnen und Aktivisten, die sich der Tierrechte und der Tierbefreiung verschrieben haben, wird ihr Anliegen auch von Linken als abwegig oder gar reaktionär gebrandmarkt. Dabei bekennen sich zumindest die Angehörigen radikalökologisch-anarchistischer Gruppierungen ausdrücklich zu grundsätzlicher Herrschaftskritik. Anhänger des Antispeziesismus, die dem liberalen Utilitarismus eines Peter Singer nahestehen, können mit linksradikalen Aktivistinnen und Aktivisten der Tierbefreiungsbewegung nicht in einen Topf geworfen werden. Das scheint mitunter den Zweck zu haben, sich mit ihrem Anliegen gar nicht erst auseinandersetzen zu müssen.

Um einer in vielerlei Hinsicht auf dem Rückzug befindlichen Linken neue Impulse zur Bestimmung ihrer Position zu geben, kann die Frage nach der Ausbeutung schmerzempfindender Wesen durch den Menschen nicht ignoriert werden. Eine auf stoffwechselorientierte Bedürftigkeit orientierte Anthropozentrik klammert Probleme der Gewalt und des Raubes aus, die zwar nicht ohne weiteres aus der Welt zu schaffen sind, ohne deren Thematisierung jedoch jedes emanzipatorische Anliegen unvollständig bleiben muß. So wenig wie die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse aller Menschen gelungen ist, so wenig wird die Frage danach, was den Menschen über die Not physischer Bedürftigkeit ausmachen könnte, auch nur im Rahmen humaner Verfaßtheit aufgeworfen. Der Blick auf das Tier als dem Menschen zumindest in seiner vegetativen Verfassung immanentes Wesen könnte gerade deshalb aufschlußreich sein, weil diese der Ausnutzung des Tieres dienende Grenzziehung ausschließlich etwas über diejenigen verrät, die sie betreiben.

Mensch und Tier ... ein soziales Verhältnis

Eine Annäherung an die das Mensch-Tier-Verhältnis bestimmenden Faktoren unternahm die Sozialwissenschaftlerin und Tierbefreiungsaktivistin Melanie Bujok auf dem Eröffnungsvortrag des Internationalen Antirepressionskongresses am 9. Oktober. Den besagten Blick auf das Tier nahm sie unter dem Titel "Das Spektakel der Drachenbändiger" zum Anlaß, die Forderung zu erheben, sich von der Fixierung auf ein Naturverhältnis zu lösen, das die Verletzung und Tötung tierischer Subjekte als unerläßliche Notwendigkeit des zivilisatorischen Fortschritts voraussetzt, um anstelle dessen das dieses Verhältnis bestimmende Soziale zu erkennen. Bujok ging diesem räuberischen Blick mit Hilfe einer Kritik des alle Wahrnehmung dominierenden Warencharakters auf den Grund. Dieser setze auf den Mythos vom Kampf gegen wilde Tiere auf, der den legitimatorischen Rahmen für die Unterwerfung der Tiere unter ihre ökonomische Verwertung bilde. Die Grausamkeit des Naturzustands entspreche dem von Thomas Hobbes postulierten Krieg aller gegen alle, mit dem eine Matrix der Vergesellschaftung geschaffen wurde, die als Kampf ums bloße Überleben zu Lasten des anderen die Grundlage neoliberaler Lebenswirklichkeit bilde.

Gesellschaftlichen Fortschritt als Produkt der Beherrschung der inneren wie äußeren Natur zu begreifen konstituiere eine Trennung, auf der auch die Beherrschung der Tiere basiere. Bujok war es wichtig zu betonen, mit der Erfordernis der Überwindung dieser Trennung nicht die Notwendigkeit differenzierenden Denkens zu verwerfen, ohne die sich die Welt in ihrer Vielfalt nicht wahrnehmen ließe. Ihr gehe es darum, die Abtrennung, Ausschließung und Wegsperrung kenntlich zu machen, die letztlich die Ausbeutung der Tiere durch den Menschen bedinge. Deren Subsumierung unter die soziale Kategorie einer biologischen Gattung diene der Aufwertung des Eigenen und der Abwertung des Fremden. Indem Tiere als Repräsentanten der Natur den Gegenentwurf zur menschlichen Superiorität bildeten, wurden ihnen auch alle negativen Attribute zugewiesen, die das menschliche Selbstverständnis als höchstes Stadium zivilisatorischer Entwicklung zwingend produziert.

Insbesondere die Gemeinsamkeit der Schmerzempfindung, unter der Menschen wie Tiere litten, bedrohe das menschliche Selbstverständnis als in jeder Beziehung vom Tier getrenntes Lebewesen. Ein Zeugnis davon legen die Aktivistinnen und Aktivisten der Tierbefreiungsbewegung ab, wenn sie sich gegen die Ausbeutung der Tiere durch eine Ökonomisierung wenden, die ihre Körper bei Tierversuchen, bei der Schlachtung oder der Produktion von Milch in Objekte warenförmiger Verwertbarkeit verwandelt. Die industrialisierte Fleischerzeugung führe nicht ohne Absicht dazu, daß die in dem arbeitsteiligen Prozeß fabrikmäßigen Schlachtens zerlegten Tierkörper am Ende Produkte hervorbrächten, die keinen Anlaß mehr für kreatürliches Mitleid bieten, da sie mit dem lebenden Tier kaum mehr in Verbindung gebracht werden können.

Demgegenüber bezeugten befreite Tiere als leiblich Anwesende das ganze Leid, das ihnen angetan wurde. Die ihnen zugefügte Gewalt an ihren Körpern sichtbar zu machen, so daß der anonyme Charakter des Tierverbrauchs aufgehoben und nicht mehr als Verhältnis von Dingen, sondern von Tätern und Opfern in Erscheinung trete, sei Zweck von Tierbefreiungsaktionen. Durch die Spuren, die die ökonomische Gewaltherrschaft auf den Körpern der Tiere hinterlassen hat, würden diese zum Sprechen gebracht und der Monolog durchbrochen, den die Menschen mit sich führen, wenn sie über ihr Verhältnis zu den Tieren sprechen. Bujok geht es beim Öffnen der Käfige, die sie als die materialisierte Struktur des vorherrschenden gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnisses verstanden wissen will, um mehr als um eine Beendigung der Gefangenschaft einzelner Tiere.

Wie der Begriff des Nutztiers zeige, bestehe der ökonomische Zweck der Lebewesen darin, nützlich zu sein. Der Körper der Tiere werde von der Zucht über die Haltung bis zum gewaltsamen Tod auf Nützlichkeit getrimmt. Jedes Körperteil, jede Bewegung werde in einem solchen Maße kontrolliert, daß nur noch ohnmächtiges Erleiden bleibe. Daher liege dem Öffnen der Käfige ein eminent emanzipatorisches und politisches Anliegen zugrunde. Bujok grenzt sich ebenso von der Absicht des Tierschutzes ab, die Bedingungen der Tierhaltung zu verbessern, ohne die Tieren angetane Gewalt aufzuheben, wie von der Forderung nach der Etablierung von Tierrechten, mit denen lediglich ein Schlupfloch geöffnet werde, aus dem ein paar Tiere dem ihnen zugedachten Verhängnis entkommen könnten. Bei Tierbefreiung gehe es nicht um die architektonische Form des Käfigs, sondern um den Käfig als solchen, um seine Funktion, Subjekte in Gruppen verschiedener Wertigkeit zu trennen und auf diese Weise Verfügungsgewalt über sie zu erlangen.

Der Tierkäfig sei in den größeren Käfig der Gesellschaft eingebaut, der sich als mediale Repräsentation der vorherrschenden Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsschmata reproduziere. Als signifikantes Beispiel für die Wirksamkeit dieser kognitiven Konditionierung führt Bujok die Stigmatisierung gesellschaftlicher Außenseiter und Minderheiten als tier- und naturhaft an. Diese Form der entmenschlichenden Feindbildproduktion wirke sich in einer den Betroffenen zugefügten Gewalt aus, die üblicherweise nur an Tieren verübt werde. So habe ein US-Bundesstaatsanwalt die Verurteilung von SHAC-Aktivisten zu Haftstrafen von bis zu neun Jahren mit den Worten kommentiert: "Unser Ziel ist, unzivilisierte Personen aus der zivilisierten Gesellschaft zu entfernen."

Für die Unbescheidenheit grenzüberschreitender Fragen ...

Es bedarf keiner elaborierten Theorie, sondern entspringt dem schlichten Wissen um die eigene Flüchtigkeit und Nichtigkeit, um einen Käfig als das zu erkennen, was er ist. Das gilt für den Knast, den für Menschen vorgesehenen Käfig, wie für jeden Zwang, und sei er noch so abstrakt, mit dem aufoktroyiert wird, was dem Betroffenen zutiefst zuwider ist. Es bedarf keiner ethischen Abwägung, um soziale und gesellschaftliche Gewaltverhältnisse zu bestimmen. Ihre ethische Bewertung ist bereits Bestandteil einer Regulation, mit der Akzeptabilität für angeblich erforderliche Formen der Fremdbestimmung geschaffen wird. Zur ethischen Moderation wird gegriffen, wenn das Postulat unabdinglicher Sachzwänge, mit der Evidenz eines Naturgesetzes versehen, jede weitere Debatte um ihre Überwindung verstummen läßt. Mit ethischen Argumenten lassen sich Gewalttaten bis hin zu ausgewachsenen Angriffskriegen legitimieren, und es ist kein Zufall, daß ethische Unternehmenskonzepte Hochkonjunktur haben, wenn die Unerträglichkeit materieller Widersprüche zur Explosion drängt.

Die sozialen und gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse liegen so offen zutage, daß ihre Fortschreibung nur mit Hilfe einer Distanznahme gelingt, zu deren Erwirtschaftung die jeweiligen Übel gegeneinander abgewogen und in der Summe für akzeptabel befunden werden. In der Komplexität des Vergleichens und Unterscheidens soll die Frage nach dem Subjekt, das sich dieser Operationen bedient, um die eigene Unberührbarkeit zu sichern, untergehen. So relevant der Eigentumsanspruch gesellschaftlicher Instanzen für die von ihnen ausgehende Wissensproduktion ist, so wirksam wird ihr Interesse an der Etablierung angeblich objektiver Kriterien praktischer Verfügungsgewalt über Wohl und Wehe, Leben und Tod unterschlagen. Haben sich ersteinmal mehrere Personen gefunden, die die herrschenden Verhältnisse auf diese Weise zementieren, dann hat man es mit einer Klasse von Experten zu tun, die ihre Deutungshoheit gesellschaftlich legitimiert. Wissenschaftliche Definitionen, mit Hilfe derer der Todeszeitpunkt des Menschen zwecks der Ernte lebensfrischer Organe nach vorne verlagert wird, mit Hilfe derer Verhaltensauffälligkeiten Anlaß zu präventiver Freiheitsberaubung geben können, mit Hilfe derer das Eigentumsrecht millionenfachen Hungertod legalisiert oder mit Hilfe derer schmerzempfindende Wesen dem Stahl und Strahl der Versuchslabors preisgegeben werden, sind signfikante Beispiele für eine Definitionsgewalt, deren herrschaftsichernder Charakter hinter dem Schleier wissenschaftstheoretischer und ethischer Legitimationen verborgen bleibt.

Dabei weiß jeder Frosch, was gut respektive schlecht für ihn ist. Seine Verwandlung in ein Objekt der Vivisektion im Rahmen der medizinischen Ausbildung fände seine Zustimmung nicht, wenn er denn gefragt würde. Demgegenüber zu behaupten, ein Frosch sei nicht in der Lage, sein elendes Schicksal zu reflektieren, stellt die Ausflucht in eine Bedingung dar, die dem Opfer quälender Zerlegung und Vernichtung nicht fremder sein könnte. Der Schmerz der Tiere ist auf nicht minder direkte Weise präsent als der der Menschen. Sich ihm durch Kategorien wie der des Bewußtseins zu entziehen schließt die zum Objekt fremden Nutzens deklarierte Kreatur von vornherein davon aus, mit seiner Stimme zu erklären, daß sie nicht weniger als ihr Gegenüber von vitalem Lebenswillen erfüllt ist. Das Tier, das andere Tiere tötet und frißt, aus nämlichem Grunde zu töten und zu verzehren, legitimiert die dabei ausgeübte Verfügungsgewalt mit dem Widerspruch, sich als zivilisatorisch höherentwickeltes Wesen angeblich vorzivilisatorischer Grausamkeit zu bedienen.

Es ist ein Problem des Menschen, auf eine Weise räuberisch zu agieren, die die vom Feuer des Stoffwechsels gestellte Forderung nach Brennstoffzufuhr mit dem Verbrauch schmerzempfindender Lebewesen beantwortet. Nun ist die Behauptung, daß Pflanzen von einem kreatürlichen Lebenswillen frei wären, längst widerlegt. Das Problem, anderen Lebewesen anzutun, was man niemals erleiden möchte, ist mithin so entgrenzt, daß allgemein bevorzugt wird, es gar nicht erst als solches zu erkennen. Das Ergebnis dieser Vermeidungsstrategie besteht nicht nur darin, daß die Feindseligkeit zwischen Menschen einvernehmlich am Tier ausgelebt wird, sondern auch darin, daß Solidarität unter Menschen immer mehr zu einem Fremdwort wird.

Dabei scheitert der Versuch, sich vom andern zu trennen, um dessen Schicksal zu entgehen, schon formallogisch daran, daß das ihm gegenüber eigene des anderen bedarf, um als solches konstituiert zu werden. Sich zu unterscheiden auf der Basis des Vergleichs impliziert ein Gemeinsames, das bei aller noch so angestrengten Distanzierung niemals so fremd sein kann, daß es den Kategorien menschlicher Kognition unvertraut und unbekannt wäre. So liegt der von Melanie Bujok beschriebenen Logik des Marktes, sich arbeitsteiliger Prozesse und warenförmiger Objektivierung zu bedienen, um Verfügungsgewalt über Produzenten wie Produkte zu erlangen, die Ökonomie eines Mangels zugrunde, der nicht zufällig erlitten, sondern als Voraussetzung der Kapitalakkumulation systematisch zugefügt wird. Die mit der Entscheidung, wem die Lebensvoraussetzungen zugunsten wessen entzogen werden, erzeugte Ohnmacht, fremdbestimmten Verhältnissen vollständig ausgeliefert zu sein, tritt im Verbrauch von Tieren durch den Menschen auf besonders schmerzhafte Weise hervor.

Das solchermaßen negativ bestimmte Gemeinsame in die Überwindung gewaltsamen Raubbaus münden zu lassen ist ein emanzipatorisches Anliegen, das die Frage nach der Herrschaft des Menschen über den Menschen nicht auf sein Selbstverständnis als eigenständige Art beschränkt. Herrschaftskritik zu leisten, ohne das Problem des sozialen Gegeneinander auf alle Lebewesen auszudehnen, verkürzt die Frage auf eine Weise, die die Bestimmung der eigenen Position mit dem Mangel unabgeschlossener Voraussetzungen belastet. Bereits die positive Konnotation des Begriffs der Zivilisation bereitet einige Schwierigkeiten, wenn er genutzt wird, um das dementsprechend unzivilisiert Wilde mittels einer Ideologie kulturalistischer oder anthropozentrischer Suprematie zu kolonisieren. Die Verabsolutierung der Arbeit zur zwingenden Voraussetzung menschlicher Entwicklung schließt Möglichkeiten der Menschwerdung aus, die vielleicht sehr viel geeigneter wären, den Kommunismus zu verwirklichen, als auf einen Produktivfaktor zu setzen, der nicht zum gesellschaftlichen Gesamtprodukt beitragende Menschen herabwürdigt und nicht im anthropologischen Sinne durch Arbeit bestimmten Tiere das Lebensrecht entzieht. Die Doktrin des Wachstums durch fortwährende Produktivkraftentwicklung nimmt technologische Innovationen in Kauf, die sich gegen fundamentale Lebensinteressen richten, indem der Zugriff einiger weniger Menschen auf vitale Ressourcen millionenfachen Mangel erzeugt.

Maximale Handlungsfähigkeit zu erlangen setzt keine bündigen Antworten voraus, die sich in einem Katechismus der Wahrheiten zivilreligiös kodifizieren lassen, um die nächste Kehre in die Teilhaberschaft am sozialen Raub nehmen zu können. Sie nimmt in der Haltlosigkeit, inmitten der Widersprüche alltäglicher Existenz Fragen aufrechtzuerhalten, deren Unbescheidenheit ihren Urhebern den Vorwurf utopischer Spekulation einträgt, jene Streitbarkeit an, derer es bedarf, um es mit der kapitalistisch vergesellschafteten und darüber hinaus im vermeintlichen Naturzwang verankerten Gewalt aufnehmen zu können. Eine Linke, die aus der Defensive jener Verwertungsverhältnisse herauskommen will, deren grundsätzliche Beseitigung einst ihr ureigenes Anliegen war, kann gar nicht genug Fragen aufwerfen, als daß sie in den klagenden Chor einstimmen müßte, dessen Ruf nach Antworten jene Instanzen ermächtigt, denen universale Befreiung schon immer ein zutiefst verdächtiges, Staat und Ordnung unterminierendes und daher zu unterdrückendes Anliegen war.

Ruhender Hund im Vortragssaal - © 2010 by Schattenblick

Mit einem Ohr dem Vortrag lauschen ...
© 2010 by Schattenblick

23. Dezember 2010