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INTERVIEW/010: Moshe Zuckermann, israelischer Soziologe und Historiker (SB)


Interview mit Dr. Moshe Zuckermann am 25. Februar 2009 in Bremen


Im Vorfeld einer Veranstaltung des Bremer Friedensforums und des Bremer Informationszentrums für Menschenrechte und Entwicklung zum Thema "Nach dem Gaza-Krieg - wohin steuert der Nahe Osten?" hatten die Schattenblick-Redakteure die Gelegenheit, dem dazu geladenen Referenten Dr. Moshe Zuckermann einige Fragen zu stellen. Zuckermann wurde 1949 als Sohn deutsch-jüdischer Holocaust-Überlebender in Israel geboren. Die 1960er Jahre verbrachte er mit seinen Eltern in Frankfurt am Main, bevor er sich im Alter von 21 Jahren endgültig in Israel niederließ. Dort studierte er Geschichte, Soziologie und Politologie. Seit 1990 lehrt Zuckermann Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften am Cohn Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas der Universität Tel Aviv. Von 2000 bis 2005 leitete er das dortige Institut für Deutsche Geschichte. In der Bundesrepublik ist Moshe Zuckermann dem interessierten Publikum als Autor und Kommentator bekannt, der einen kritischen Umgang mit der Politik seiner Regierung pflegt, gerade weil er gerne in Israel lebt.

Moshe Zuckermann - © 2009 by Schattenblick

Moshe Zuckermann
© 2009 by Schattenblick
Schattenblick: Herr Dr. Zuckermann, in Ihrem Beitrag zu dem 2007 von Sarah Speck und Volker Weiß herausgegebenen Band "Herrschaftsverhältnisse und Herrschaftsdiskurse" haben Sie den Subjektbegriff der postmodernen Philosophie einer deutlichen Kritik unterzogen. Wie würden Sie die These vom "Tod des Subjekts" und den damit einhergehenden Verzicht auf eindeutig positionierte Herrschaftskritik im Kontext der bundesrepublikanischen Linken verorten? Könnte es sein, daß die Hinwendung zu poststrukturalistischen Theoremen so wirkmächtig war, daß sie wesentlichen Einfluß auf den spätestens seit 1990 rapide vonstatten gehenden Niedergang der radikalen Linken hatte?

Dr. Moshe Zuckerman: Ich weiß nicht, ob das ein bundesrepublikanisches Phänomen ist, aber ich bin in der Tat der Meinung, daß der Poststrukturalismus, insbesondere die Ausrichtung des Postmodernismus, eine Ohnmachtsideologie ist, also eine Ideologie, die aus einer sowohl lebensweltlichen als auch philosophischen Ohnmacht herrührte. Diese ließ beispielsweise den Subjektbegriff, die Relativität allen menschlichen Seins usw. so ephemer werden, daß selbst das, was die ehemalige radikale Linke mit Marx zur Relativität des Menschen als Ensemble seiner gesellschaftlichen Bedingungen zu sagen wußte - woraus Marx ja das autonome Individuum im Kontext seiner gesellschaftlichen Verfaßtheit herauskristallisiert wissen wollte -, vollkommen wegfiel.

Dies erfolgte für meine Begriffe aus Beweggründen, die gar nicht so sehr erkenntnistheoretisch verankert waren, sondern vielmehr als Reaktion auf die Gleichsetzung von Stalinismus, Nationalsozialismus und allen totalitären Regimes, und wiederum als Reaktion darauf, die berühmte Ideologie vom Ende aller Ideologien, in Erscheinung traten. Die damit einhergehende Relativierung hatte dreierlei Auswirkungen: Zum ersten verlor der Gesellschaftsbegriff jede Bedeutung, zum zweiten wurde die materielle Verfaßtheit des Menschen mehr oder weniger ad acta gelegt, und zum dritten erfolgte eine Versprachlichung, oder wenn Sie so wollen, eine Verbegrifflichung allen menschlichen Seins.

In diesem Zusammenhang wurde der sogenannte linguistic turn, also die sprachliche linguistische Wende, dahingehend radikalisiert, daß es nicht mehr um Signifikanten und das Signifizierte ging, sondern sozusagen um das freie Spiel der Signifikanten. Das hat bewirkt, daß man im Grunde genommen alles über alles sagen kann, ohne irgend etwas auf irgendeine Weise noch substantiell greifen zu wollen. Weil ein Genie wie Foucault noch einiges dazu geleistet hatte, konnte man seit 1980 darauf akademische Karrieren aufbauen. Spätestens jedoch, als US-Akademiker den französischen Poststrukturalismus rezipierten und dies in einer Art Allerweltsliteraturwissenschaft, in Cultural Studies usw. mündete, hat man es mit einer Entwicklung zu tun, die große Defizite in den gesellschaftskritischen philosophischen Diskurs eingebracht hat.

Damit will ich übrigens nicht in Abrede stellen, daß die sogenannte Sensibilisierung des Anderen im postmodernen Denken ein wichtiges Moment gewesen ist. Das gilt auch für die Frage, inwieweit historische Diskurse eher konstruierte Narrative sind, womit ich mich im übrigen selbst befaßt habe. Doch auch das kennen wir schon aus der Ideologiekritik, die dies für meine Begriffe mit weit größerer Zugriffssicherheit und entschiedenerem Biß betrieben hat, so daß auch dies im Grunde genommen verflacht ist. Das Schlimmste dabei ist meiner Ansicht nach, daß Gesellschaftskritik per se mehr oder weniger ins Unbestimmte verfrachtet worden ist.

Wie es sich damit spezifisch in der Bundesrepublik verhält, kann ich nicht sagen. Ich glaube, das haben wir in Israel genauso verfolgt wie in den Vereinigten Staaten, in Frankreich ohnehin. Für meine Begriffe hat sich das aber auch ausgelebt. Es ist im Moment schon wieder eine Wende zu verzeichnen. Das Sein hat eben doch das Bewußtsein bestimmt, und das Sein ist mittlerweile dermaßen in die Krise geraten, daß wir für meine Begriffe neue Kategorien brauchen werden.

SB: In diesem Zusammenhang kritisierten Sie den "rigorosen Werterelativismus" der postmodernen Philosophie, der in einer aus Ohnmacht geborenen Libertinage resultiere, die in offenem Widerspruch zu den erhobenen emanzipatorischen Ansprüchen stehe. Halten Sie es für möglich, daß das Festhalten sogenannter Altlinker an den Idealen der immer verzerrter rezipierten 68er-Bewegung Keime eines neuen Aufbruchs gesellschaftsverändernder Art in sich birgt, deren Zeit auch angesichts der immer offener zutage tretenden Widersprüche liberalkapitalistischer Entwicklung erst noch kommen wird?

MZ: Schauen Sie, ich als Marxist bin nicht der Meinung, daß es eine Frage irgendwelcher Ideen ist, die sich in irgendwelchen Kreisen oder Geheimbünden halten. Selbst das Flaschenpostbild von Adorno war in der absoluten Finsternis nach Auschwitz als ein solches für die Minima Moralia rezipiert bzw. für die Dialektik der Aufklärung konzipiert worden. Nein, ich meine, daß der Grund, weshalb sich jetzt neue Momente herstellen müßten, die auch neue Begriffe, neue Gesellschaftsbegriffe, neue Konfliktbegriffe, neue Begriffe von Arbeit usw. herstellen müssen, darin liegt, daß die Realität sich rigoros verändert hat. Die große Unbeschwertheit der 80er und 90er Jahre ist ja mittlerweile in eine handfeste Krise übergegangen, von der noch nicht absehbar ist, was sie für die Tektonik der Weltverfaßtheit bedeutet. Man kann auch das grüne, also das ökologische Denken nicht weiterhin nur als etwas begreifen, das "nice to have" wäre, wie die Grünen seinerzeit gesagt haben - "Alle reden von der Wiedervereinigung, wir reden vom Wetter!". Das ist nicht mehr "nice to have", das ist ein Muß, und dieses sollte mit handfesten, gesellschaftlichen Begriffen einhergehen, also einer Gesellschaftskritik und den für sie gesetzten Werten.

Von daher ist der Werterelativismus für meine Begriffe eher ein Spiel, eine intellektuelle Verspieltheit, die man sich leisten kann, solange das gesellschaftliche Sein es zuläßt. In dem Moment, in dem das nicht mehr der Fall ist, kann es sehr schnell ausschlagen. Was das bedeuten kann, sehen wir ja gerade in Israel, wo es stark in die rechte Region, ins Faschistische ausschlägt.

Genau an dieser Stelle würde ich die Aufgabe einer sich bewußten Linken ansiedeln, sofern sie daran festgehalten hat, was man als altes linkes Denken bezeichnen könnte. Ich würde mich ja selbst als Altlinken betrachten und daher sagen, daß dies ihre momentane, gesellschaftliche, oder, wenn man es ganz groß haben will, historische Aufgabe wäre. Aber wie gesagt, das wird sich aus dem Dasein, aus dem Sein bestimmen und nicht so sehr aus der Tatsache, daß die Leute jetzt dieses oder jenes Feuilleton schreiben.

© 2009 by Schattenblick
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SB: In ihrem Essay definierten sie unter Bezug auf das von Adorno verfochtene Emanzipationsparadigma eine "philosophische Grundposition, die sich der Kapitulation vor der Ohnmacht" - wie Sie eben schon ausgeführt haben - "angesichts der spezifisch modernen Repressionsstrukturen im sozial real Bestehenden fortgeschrittener Zivilisationsphasen grundsätzlich widersetzt". Würden Sie die darin aufscheinende Streitbarkeit mit einem positiven Begriff des Menschen verbinden, oder sollte man angesichts der praktischen Negierung individueller Autonomie von vornherein von einem Menschen ausgehen, den es noch nicht gibt und der erst zu schaffen wäre?

MZ: Ich glaube, daß das eine das andere nicht ausschließt. Ich glaube, man muß immer von historisch realen Möglichkeiten als Ausgangslage ausgehen. Man kann nicht, wie schon Marx sehr schön dargelegt hat, mit Utopien beginnen, denn utopistisch sein bedeutet ja mehr oder weniger, Geschichte zu negieren. Man muß schon von den historischen Möglichkeiten ausgehen, nur bin ich der Meinung, daß die Negation des Individuums, wie bei Marcuse und insbesondere bei Adorno dargestellt, noch keine abgeschlossene Angelegenheit ist. Detlev Claussen hat dazu einige gute Beiträge verfaßt, als er sich noch mit diesen Dingen beschäftigte.

Ich glaube, daß beides zusammenkommen muß: zum einen die historisch realen Möglichkeiten des Individuums im Sinne des Nukleus, von dem aus wir die Verfassung der Gesellschaft denken wollen, zum andern aber auch das utopische Potential, das sich allerdings nicht auf das Individuelle beziehen sollte, sondern auf die Möglichkeit, eine Gesellschaft herzustellen, die andere Individuen hervorbringt als diejenige, die eine spätkapitalistische, im Wesen entfremdete, die Individuen längst schon verdinglichende und den Freiheitsbegriff schon fetischisierende Gesellschaft produziert.

Man müßte also wirklich an Momente und Kategorien denken, die mit einer anderen Gesellschaftsverfassung einhergehen. Ob diese zu verwirklichen ist, ist für mich keine Frage einer Einschätzung dessen, was nächste Woche passiert, sondern einer historischen Perspektive. Das ist für meine Begriffe schon etwas, das man einfordern kann. Anhand einer fehlgelaufenen Aufklärung, eines Kapitalismus, der mittlerweile so raubmörderisch geworden ist, daß wir in einer Welt leben, in der uns die Vereinten Nationen alljährlich mitteilen, daß 25 bis 30 Millionen Menschen verhungern, obwohl es nach Maßgabe des Entwicklungstands der Produktionsmittel längst keinen Hunger mehr geben dürfte, muß man von einer solchen Perspektive ausgehen. Diesen Gesellschaftsbegriff, der alljährlich Millionen vermeidbarer Toter hervorbringt, darf man einfach nicht akzeptieren.

Um die große Frage nach dem Gegenentwurf und anderen Möglichkeiten zu beantworten, müssen wir über den rein orthodoxen klassischen Marxismus hinaus alle Relativierungen wie den Neomarxismus auch in der Verbindung mit der Psychoanalyse, angereichert auch mit Kulturanalyse usw. bedenken und letztlich eine ganze Menge in dieser Hinsicht leisten. Von dem, was versprochen wurde und was nachher mit dem Ende des Kalten Krieges sang- und klanglos untergegangen ist, so daß die Postmoderne ihren Siegeszug feiern durfte, ist noch vieles unabgegolten. Genau daran gilt es wieder anzuknüpfen, so daß wir diese Kategorie auf keinen Fall fallen lassen dürfen.

SB: Sie greifen unserer Frage ohnehin vor, aber ich möchte sie dennoch stellen. Anläßlich der Eröffnung einer Ausstellung zitierten sie Walter Benjamin, dem zufolge eine Menschheit befreit wäre, "die sich eines jeden Details menschlicher Leiderfahrung in der Geschichte zu erinnern vermöchte, eine humane Universalverfassung, die mit der Rettung des leidenden Menschen vor dem Fluch anonymisierenden Vergessens eine Art Emanzipation für die Zukunft garantieren würde". Erfolgt das darin angesprochene Problem der Wiederholung leidvoller Erfahrungen tatsächlich aus unzureichendem Erinnerungsvermögen, oder spielen andere Motive eine Rolle, wenn etwa angesichts der gut dokumentierten Massenvernichtung des Holocausts heute noch Millionen von Menschen durch vermeidbare Kriege und Nöte sterben? Genauer gefragt, welche subjektiven Anteile hat der Mensch an der von ihm verübten Gewalt, ist er gar Produzent des Vergessens, gerade weil er weiß, daß das Schicksal des anderen untrennbar mit dem eigenen verknüpft ist?

MZ: Sie haben das sehr schön formuliert. Die große Frage, die sich für mich stellt, ist allerdings weniger die des Subjekts als Individuum, sondern, wenn schon Subjekt, dann das Kollektivsubjekt, das heißt, welche Art von Praktiken des Erinnerns beibehalten, entfaltet und entwickelt werden.

Wir können uns jetzt zwei Modelle vorstellen. Zum einen dasjenige, laut dem die Gesellschaft inzwischen dermaßen richtig konstruiert ist, daß wir keine Moral und keine Erinnerung mehr brauchen. Wenn der Preis einer solchen richtig konstruierten Gesellschaft, in der das Individuum endlich einmal Gattungswesen sein kann in einem voll entfalteten Sinne, ohne Hunger und andere Entbehrungen erleiden zu müssen, in der es seine Potentiale entwickeln könnte, darin bestünde, daß wir keine Moral mehr benötigen, daß sie überflüssig geworden wäre, daß wir die Erinnerung im Husserlschen Sinne in Klammern setzen müssen, dann würde ich dem zustimmen.

Erinnerung ist für mich keine Tugend per se. "Sachor" gilt im Judentum zwar als solche, aber wenn politische Arbeit und Praxis darin bestehen, daß Menschen emanzipativ aus ihren Leiderfahrungen und ihren Repressionserfahrungen herauskommen, dann ist Erinnerung für mich nur ein Mittel dazu. Wenn es dabei der Setzung der Erinnerung in Klammern bedarf, dann ist es von mir aus auch eine richtige politische Praxis. Also beispielsweise die Frage, ob in der Beziehung zwischen Israelis und Palästinensern der Holocaust ausgeklammert werden müßte. Ich kann von Palästinensern schlechterdings nicht erwarten, daß sie den Holocaust erinnern, wenn sie selber Leidtragende der Überlebenden des Holocaust geworden sind. Von daher kann es durchaus möglich sein, daß es eine politische Kultur erfordern würde, Erinnerung in Klammern zu setzen.

Man kann aber auch mit Adorno feststellen, daß das Verdrängen oder das Belassen der Dinge im Vorbewußten oder im Unbewußten stets mehr Leid oder mehr Unheil angerichtet hat, als sie dezidiert zu artikulieren, zu reflektieren und ins Bewußtsein zu heben. Das ist mehr oder weniger meine Ausrichtung. Die große Frage, mit der sich auch einige meiner Bücher beschäftigt haben, lautet: wird Erinnerung selbst zum Instrument der Ideologie und zum Instrument der repressiven Handhabung des Anderen oder wird die genuine Erfahrung des Leides mit dem Erinnern universell gedacht, wenn man sie etwa mit Kunst beredt werden läßt? Meine Frage ist, ob Erinnerung so gehandhabt wird, daß sie ihre emanzipativen Potentiale wahrt und nicht selbst zu einem Mittel durch sie getätigter Klitterung von Geschichtserfahrung und auch menschlicher Leiderfahrung wird, von daher also zu kritisieren wäre?

Wenn Benjamin, um auf das Bild zurückzukommen, daß Sie angeführt haben, sagt, befreit wäre eine Gesellschaft, in der jegliche Leiderfahrung zugänglich wäre, zitierbar wäre, dann meint er alle Leiderfahrungen des Menschen und nicht eine bestimmte, herausselektierte, herausgesuchte usw. usf. Vor diesen Möglichkeiten stehen wir. Ich glaube, daß Erinnerung im Moment zu sehr den Fetischcharakter und den Dingcharakter angenommen hat und von daher mit Erinnerung auch eine ganze Menge Humbug und teilweise auch wirklich Unsägliches getrieben wird.

© 2009 by Schattenblick
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SB: Daran anschließend: In seinem Buch "Was von Auschwitz bleibt" hat der italienische Philosoph Giorgio Agamben anhand der Figur des Muselmanns als eines dem Tode nahen KZ-Insassen, der von den Mitgefangenen aufgrund seiner moribunden Verfassung gemieden wird, die These aufgestellt, daß gerade derjenige, der am meisten dazu qualifiziert war, Zeugnis von der Hölle des Lagers abzulegen, dies nicht mehr tun konnte. Wie beurteilen Sie Agambens Umgang mit dem Problem der Übermittlung des Grauens der Vernichtungslager und seine vielfach kritisierte Behauptung von der Fortschreibung des Lagers als Strukturprinzip des Ausnahmezustands und "Paradigma der Moderne"?

MZ: Das sind zwei Fragen, die Sie gerade gestellt haben.

SB: Ja, das ist richtig.

MZ: Beginnen wir mit dem zweiten Teil, inwieweit das Lagerprinzip sich auf alle möglichen anderen Praktiken übersetzen läßt. Wenn Sie die Dinge zu sehr verallgemeinern, dann entsorgen Sie sie im Grunde genommen. Es ist nun einmal so, daß das Ferienlager kein Militärlager ist und das Militärlager kein Konzentrationslager ist und das Konzentrationslager kein Vernichtungslager ist. Ich kann ja auch als Pfadfinder einem Lager angehören, ohne damit dem Prinzip oder der Matrix des Konzentrationslagers das Wort zu reden. Ein Spielplatz kann einen Lagercharakter bekommen, und dann ist es noch immer ein Spielplatz. Ich wäre sehr vorsichtig mit solchen allgemeinen Paradigmen, die, wenn sie undifferenziert verwendet werden, ins Gegenteilige umschlagen können, so daß wir die Dinge so sehr miteinander vergleichen, daß sie ihrem spezifischen Individualcharakter enthoben werden und von daher im Grunde genommen alles gleich machen. Da würde ich Agamben doch umfassend widersprechen wollen, und ich glaube, das ist auch so diskutiert worden und kann so nicht stehen gelassen werden.

Die Frage des Muselmanns als dem möglichem Vermittler der Leiderfahrung und der Unfähigkeit, dies zu tun, weil er eben Muselmann ist, spricht eher ein Problem an, von dem ich begreifen kann, was er meint. Ich weiß aus eigener familiengeschichtlicher Erfahrung, wie die gesamte Erinnerung meiner Familie ausradiert wurde, weil sie entweder vollkommen vernichtet worden ist, aber dabei auch die Dokumente ihres Gewesenseins vernichtet worden sind. Der Muselmann, der nicht mehr die Kraft aufbringt, irgend etwas zu tun, wird dann zum Paradigma dessen, was als Leiderfahrung noch vor uns liegt, aber nicht mehr artikulierungsfähig ist.

Zugleich möchte ich sagen, daß man nicht unbedingt vom Muselmann sprechen muß. Dan Diner hat einmal einen interessanten Vorschlag gemacht, der für meine Begriffe viel produktiver wäre, indem er meinte, man müsse einmal eine Geschichte vom Standpunkt der Judenräte schreiben. Die Judenräte, die auf der einen Seite selbst zu den Opfern gehörten, waren ja Personen, die aus dem oppressiven Moment des Geschundenseins heraus ihre Funktion erfüllten, zugleich aber über Opfer zu bestimmen hatten, also Entscheidungen treffen mußten. Das Prekäre dieses Opferseins, das sich zugleich, um es zu überwinden, die Herrschaft über Opfer anmaßt, wäre viel eher etwas, mit dem ich in der Vermittlung einer Leiderfahrung, die auf der einen Seite eine Leiderfahrung ist und dann aber auch ins Gegenteilige umschlagen kann, etwas anfangen könnte.

Daher würde ich, vielleicht auch Agamben das Wort redend, auf jeden Fall betonen: Die eigentliche Leiderfahrung können wir, so wie sie gewesen ist, gar nicht reproduzieren. Die Aussage Adornos, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben sei eine Barbarei, hat unter anderem damit zu tun - und das Gedicht, das ihn diese Aussage zumindest hat relativieren lassen, also die "Todesfuge" von Paul Celan, hat im Grunde genommen darauf verwiesen -, wie hermetisch diese Art der Vermittlung sein muß. Wenn Leid beredt geworden ist, wie beispielsweise in der "Todesfuge" von Paul Celan, dann geht es um eine Lyrik, die dermaßen hermetisch und dermaßen abgehoben ist, daß sie die eigentliche Dokumentation des Erlittenen nicht mehr leisten kann.

Kunst vermag da eine ganze Menge mehr zu tun, aber sie vermag es nur, wenn sie nicht versucht, die Dinge originell eins zu eins zu reproduzieren. Dieser unselige deutsche Begriff von der Wiedergutmachung, daß also wieder gut gemacht worden ist, was als Leiderfahrung oder als Desaster stattgefunden hat, ist im Grunde genommen nur eine spät nachgeholte Ideologie. Es läßt sich nichts an dem wiedergutmachen, was diese Menschen erfahren haben. Diese Menschen können - nicht nur als Muselmanen, auch als Getötete, als Ermordete - nichts mehr dazu beitragen, es läßt sich auch keine Lehre aus ihrer Leiderfahrung ableiten, schon gar nicht die Gründung eines Staates. Von daher würde ich sagen, es geht immer darum, daß wir die Leiderfahrung auf eine Art und Weise vermitteln, mit Hilfe derer sich der Leidtragende noch artikulieren kann.

Von daher war es sehr wichtig, daß Claude Lanzmann die Erinnerungsarbeit der Geschundenen, der Opfer, in dem Film "Shoah" reproduziert und dokumentiert hat, ohne auf Dokumentarfilme zurückzugreifen. Das ist eine Möglichkeit. Die andere Möglichkeit besteht darin, dieses Prekäre, das Zwischen-Leiderfahrung-und-Leiderzeugung-Stehen wie beispielsweise beim Judenrat, aufzugreifen. Damit bedient man sich einer Situation, mit Hilfe derer man die Umstände, die zu ihr führen, besser in den Griff bekommen kann. Beim Muselmann bleibt es, so wie es Adorno richtig sagt, "unsäglich". Beim Ermordeten in der Gaskammer bleibt es unsäglich, unsäglich im Wortsinn, und das heißt, es ist nicht sagbar. Was wollen wir denn noch sagen? Es bleibt unbegreiflich.

SB: Am 14. Februar letzten Jahres hielten Sie den Eröffnungsvortrag zu einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum 60. Jahrestag der Gründung Israels. Anschließend hielt der Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Gregor Gysi, eine außenpolitische Grundsatzrede, in der er versuchte, den Begriff der Staatsräson in die linke Debatte zum Nahostkonflikt einzubringen. Nicht nur, weil Bundeskanzlerin Angela Merkel bereits kurz zuvor in ihrer Rede vor der Knesset die "Solidarität mit Israel" kategorisch zum Bestandteil deutscher Staatsräson erklärt hatte, verwahrten sich viele Linke gegen Gysis Eintreten für weniger antiimperialistische Parteilichkeit und mehr staatspolitisches Kalkül im Umgang mit Israel. Wie haben Sie seinen Vortrag erlebt und wie beurteilen Sie Gysis Position?

MZ: Ich habe den Vortrag Gysis damals, wie ich im nachhinein sagen kann, als Überraschung erlebt. Ich hatte etwas anderes erwartet, und dann kam das. Ich hatte schon den Eindruck, daß die Linke jetzt den Weg in die Mitte sucht, also die Aufnahme in die deutsche politische Kultur, daß sie versucht, salonfähig zu werden. Kurze Zeit darauf wurde die BAK Shalom in der Linken gegründet, also eine dieser Jugendgruppen, die israelsolidarisch sind, so wie die rechten Siedler israelsolidarisch sind. Ich habe das als einen sehr merkwürdigen Eiertanz Gysis empfunden. Ich habe von ihm ganz andere Sachen erwartet, daher war ich sehr erstaunt, als ich das hörte.

Ich habe es auch deshalb bedauert, weil ich meinte, daß es mit Gysi eine herausragende Person der institutionalisierten deutschen Linken gibt, die sich gerade von ihrem jüdischen Hintergrund her leisten könnte, einen Gegenentwurf zu dem, was die Bundeskanzlerin von sich gegeben hatte, herzustellen. Das dies nicht passiert, beruht für meine Begriffe eher auf parteipolitischen Erwägungen. Man versucht wie gesagt, den Weg in den Konsens zu finden, man versucht, mehrheitsfähig zu werden und koalitionsfähig zu werden, und somit verrät man mutatis mutandis auch seine eigenen Gesinnungsvorstellungen.

Ob das anders sein könnte, wage ich jetzt nicht zu beurteilen. Wir dürfen nicht vergessen, es ist ja nicht mehr die PDS, es ist ja nicht mehr die SED, sondern es ist eine gesamtdeutsche Partei, die versucht, sich zu etablieren. Indem sie versucht, derartige Positionen stark zu machen, versucht sie, den Sozialismus, vielleicht sogar einen leicht marxistisch angehauchten Sozialismus, im Spätkapitalismus stark zu machen. Ich weiß aus eigener lebensgeschichtlicher Erfahrung, daß der Kapitalismus es als kleine Monade immer geschafft hat, zum Krebsgeschwür des Sozialismus zu werden. Auf dem umgekehrten Weg des Sozialismus als Monade im Kapitalismus hat dies nie funktioniert. Von daher meine ich, daß man versucht, eine Art linken - "linken" jetzt im Sinne der Partei Die Linke - Marsch durch die Institutionen im Sinne der 68er nachzuholen. Wo man bei den 68ern damit gelandet ist, wissen wir von Schröder und Fischer, von daher würde ich mir davon nicht sehr viel versprechen.

Was die Aussage der deutschen Bundeskanzlerin betrifft, so habe ich dazu schon einmal im deutschen Fernsehen gesagt, daß sie in der Knesset nicht anders reden konnte. Was man von ihr erwartet hat, hat sie von sich gegeben, aber die meisten Israelis haben sich eins abgekichert, denn die meisten Israelis so wie meine Wenigkeit denken sich, daß die Sicherheit Israels die Staatsräson Israels ist und nicht die der Bundesrepublik Deutschland. Das heißt, die Israelis haben sich um ihre Sicherheit zu kümmern und nicht die Deutschen. Ich habe mich auch immer gefragt, was meint die Bundeskanzlerin damit? Meint sie damit, daß, wenn Israel in seiner Existenz bedroht wird, Bundeswehrsoldaten geschickt werden? Israel wird in seiner Existenz bedroht sein, wenn Israel nuklear bedroht ist, und Israel wird sich dann auch nuklear wehren, was soll, bitte schön, die Bundeswehr in so einem Zusammenhang leisten?

Von daher halte ich das eher für eine gefällige Rhetorik, die vielleicht so präsentiert werden mußte, doch ernstzunehmen braucht man sie nicht. Eine ganz andere Sache sind die Beziehungen zwischen Israel und Deutschland - 1952 kam es schon zum Abkommen zur Wiedergutmachung, seit 1965 gibt es offizielle, diplomatische Beziehungen. Seit jeher gilt die unausgesprochene Maxime in der deutschen Politik, daß man sich niemals negativ gegenüber Israel äußern wird. Ob man Israel damit einen großen Gefallen tut, ist für meine Begriffe eine ganz andere Frage. Das, was Israel als seine Interessen darstellt, ist für meine Begriffe nicht unbedingt objektiv in Israels Interesse. Die unabdingbare Solidarität, die die Bundeskanzlerin im jüngsten Gaza-Krieg ausgesprochen hat, ist für meine Begriffe so einfach nicht tragbar.

© 2009 by Schattenblick
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SB: In seinem Essay "Was ist deutsch?" spricht Theodor W. Adorno davon, daß die deutsche Sprache "eine besondere Wahlverwandtschaft zur Philosophie" habe und erklärt, auch aufgrund seines Wunsches, in diesem Sprachumfeld arbeiten zu können, aus dem US-amerikanischen Exil nach Deutschland zurückgekehrt zu sein. Sie haben einen Teil ihrer Kindheit und Jugend in der Bundesrepublik verbracht, leben in Israel in einem hebräischen Sprachumfeld und sind gleichzeitig als Vortragender und Publizist hierzulande sehr präsent. Wie würden Sie Ihr Verhältnis zur deutschen Sprache beschreiben?

MZ: Ich würde Adorno wie in den meisten Fällen auch darin unbedingt das Wort reden wollen. Erstens, rein lebensgeschichtlich - ich gehe davon aus, daß wir jetzt ins Persönliche übergegangen sind -, rein lebensgeschichtlich ist das, und das wird auch bis zu meinem Lebensende so bleiben, ein Teil meiner Sozialisation, und zwar in sehr entscheidenden, formativen Jahren, in den 60er Jahren. Deutsch ist, mindestens so sehr wie hebräisch, meine Sprache, sie ist ohnehin meine Denksprache, und was für mich noch bedeutsamer ist, sie ist auch meine Traumsprache. Von daher würde ich sagen, daß ich noch so viele Jahrzehnte in Israel verbracht haben kann, Deutschland und deutsche Kultur und vor allem deutsche Sprache, deutsche Philosophie ohnehin, aber auch deutsche Musik, also deutsche Kunstmusik, sind ein Teil meines Upbringings und Teil meines Selbstverständnisses geblieben. Ich kann Adorno da sehr gut nachvollziehen. Ich dachte früher immer, daß er versucht, etwas zu rationalisieren, wenn er sagt, er müsse wegen der Sprache zurück nach Deutschland. Im nachhinein kann ich das ganz und gar nachvollziehen, die deutsche Sprache hat mich nie losgelassen und wird mich vermutlich bis zu meinem Lebensende nicht mehr loslassen.

SB: Möglicherweise kann man auch viele Dinge gar nicht in einer fremden Sprache so ausdrücken, wie man sie gerne sagen möchte?

MZ: Ich habe jetzt 14 oder 15 Bücher geschrieben, von denen 60 Prozent auf deutsch und 40 Prozent auf hebräisch sind. Man sagt mir immer nach, ich schreibe hebräisch auf deutsch.

SB: Sie haben viel dazu beigetragen, daß eine vorurteilsfreie Debatte über den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern unter dem Vorzeichen emanzipatorischer Politik hierzulande möglich ist, werden aber auch von Teilen der hiesigen Linken heftig kritisiert. Wie leben Sie damit, auf dem ideologischen Minenfeld dieser Problematik einen Zugang zu dieser Debatte offenzuhalten, der durch die Verschärfung des Konflikts und die daraus resultierende Polarisierung immer mehr verschüttzugehen droht?

MZ: Erst einmal freut es mich zu hören, daß Sie der Meinung sind, ich hätte eine ganze Menge dazu beigetragen. Das müssen Sie mir noch einmal nachweisen, denn ich habe in den letzten Jahren den Eindruck erhalten, daß sich immer mehr Linke auf eine Art und Weise mit Israel solidarisieren, die ich für unsäglich halte, daß sie sich von den sogenannten Antideutschen in die Pfanne hauen lassen, daß Henryk Broder die Szene viel mehr beherrscht als meine Wenigkeit. Von daher stimmt es mich hoffnungsfroh, wenn Sie das anders wahrnehmen.

Ich glaube, daß es für eine offene Debatte unabdingbar ist, die Angelegenheit, wie ich immer versucht habe, differenzierter zu betrachten. Es handelt sich für meine Begriffe nicht unbedingt um Solidarität, wenn man der israelischen Regierung nach dem Mund redet. Die israelische Regierung hat in den letzten 40 Jahren über die israelische Gesellschaft, die israelische Politik dermaßen viel Unglück gebracht, daß ich sie nicht unbedingt als Kriterium der wahren Interessen Israels betrachten würde.

Zugleich handelt es sich in der Tat um einen Eiertanz, denn Sie wissen ja, daß Leute wie meine Wenigkeit sehr leicht von unberufenem Munde und in einer Art und Weise, die mir gar nicht schmeckt, vereinnahmt werden können. Man kann meine Argumente für antisemitische Zwecke heranziehen, auch Neonazis haben schon ihre Freude an meinen Ausführungen gehabt, auch das muß man in Kauf nehmen. Zugleich bin ich aber in der Tat der Ansicht, daß es zunächst und vor allem nicht so sehr um deutsche Befindlichkeiten geht, wenn ich das einmal so sagen darf. Es geht gar nicht so sehr darum, wie Linke sich damit zurechtfinden, oder um die Projektion Linker auf Israel. Es geht um Israel und Palästina und den Nahostkonflikt. Dort finden Kriege statt, dort findet ein Blutbad statt, dort findet die Repression eines ganzen Volks auf der einen Seite und eben auch die Leiderfahrung eines Volks auf der anderen Seite statt, darum geht es realiter. Alles, was Deutsche nachher darauf projizieren, sei es aus der Befindlichkeit des geschichtlichen Bewußtseins, sei es aus irgendeiner falschverstandenen Solidarität, ist ein deutsches Problem, kein Problem, das mich unbedingt tangiert.

Ich habe sehr oft das Gefühl, daß die in Deutschland artikulierte Israel-Solidarität vielmehr mit narzißtischen Befindlichkeiten Deutscher zu tun hat als mit irgend etwas anderem. Man vermengt hier Judentum mit Zionismus und Zionismus mit Israel und macht sich nicht klar, daß nicht alle Juden zionistisch sind und nicht alle Zionisten Israelis sind und nicht alle Israelis Juden sind. Wenn man dieses wenige nicht begriffen hat, dann hat man gar nichts begriffen. Von daher lebe ich, so glaube ich, mit meiner Wahrheit recht gut, und was die Kritik hiesiger Linker betrifft, so kann ich mich an eine Kritik von einem wahrhaften Linken nicht erinnern. Alle Linken, die mich kritisiert haben, würde ich heute schon nicht mehr als Linke betrachten, schon gar nicht, wenn sie antideutsch daherkommen.

SB: Die Demokratische Front für Frieden und Gleichberechtigung konnte bei den Parlamentswahlen in Israel trotz der Mobilisierung für rechte Politik ihren Anteil an Abgeordneten von drei auf vier Sitze erhöhen. Könnte man dies schon als Ausdruck einer wachsenden Politisierung der sozialen Unterschiede in der israelischen Gesellschaft werten?

MZ: Schauen Sie, wovon reden wir denn, wir müssen das doch realpolitisch sehen. Diese Partei hat schon aufgrund dessen, daß sie zu 80 bis 95 Prozent von Arabern gewählt wird, im israelischen Parlament so gut wie nichts zu bestellen. Selbst ein Jitzchak Rabin, der nun wirklich der Träger einer großen Hoffnung auf eine finale Friedenslösung war, hielt die nichtzionistischen arabischen Parteien nie für koalitionsfähig. Er hat zwar damit gerechnet, daß sie sein Hinterland bilden, aber sie durften niemals in die Regierung, von daher würde ich damit wirklich nichts verbinden wollen. Es ist ein Anstieg von drei auf vier Mandate erfolgt, vermutlich nicht zuletzt wegen der fabelhaften Arbeit von Dov Chanin, der auch in den Kommunalwahlen gegen den gegenwärtigen Bürgermeister Tel Avivs hervorragende Arbeit geleistet hat. Ich kenne ihn, er war einmal mein Student, ein fabelhafter Mann aus einer sehr traditionsreichen, sehr edlen kommunistischen Familie. Seine Vorgängerin war Tamar Gozansky, auch eine alte Kommunistin, die beste Parlamentarierin, die wir je gehabt haben. Sie hatte einige Gesetzesentwürfe zu sozialen Belangen mit eingebracht, das war schön und gut, aber die Kommunisten - Chadash heißt es auf hebräisch, das ist das Akronym für dieses Bündnis - hat in der israelischen Politik so gut wie nichts zu bestellen. Meine Antwort ist Nein!

SB: Noch eine abschließende Frage: Die deutsche Linke ist zersplittert und zu einer kleinen Fraktion zusammengeschmolzen, die gesamtgesellschaftlich nur noch eine marginale Rolle spielt. Wie verhält es sich mit der Bedeutung und Bündnisfähigkeit der Linken in Israel, wo verlaufen maßgebliche Bruchlinien zwischen unvereinbaren Positionen?

MZ: Schauen Sie, die Linke in Israel ist zusammengebrochen. Ich rede von der zionistischen Linken. Die nichtzionistische Linke, von der wir in der vorherigen Frage gesprochen haben, fristet ihr Dasein seit jeher und wird immer ihren Bestand haben.

Die zionistische Linke, die anzusprechen wäre, um irgend etwas voranzutreiben, hat bei diesen Wahlen einen Einbruch erlitten, den wir uns nicht einmal in den allerschlimmsten Träumen vorstellen konnten. Das ist nicht meine Linke, ich bin kein Zionist, aber ich rede jetzt davon, daß man sich innerhalb der zionistischen Linken gewünscht hätte, daß die Arbeitspartei nicht auf 13 Mandate abfällt. Das ist die Partei, die den Staat gegründet hat, die ist mehr oder weniger ad acta gelegt.

Meretz, sozusagen die Parallele zu den deutschen Grünen, hat von ehemals 10 bis 11 Mandaten jetzt nur noch 3 Mandate. Die gesamte israelische zionistische Linke ist mehr oder weniger kollabiert. Der Grund dafür ist übrigens, daß sie sich für meine Begriffe sehr frühzeitig schlafen gelegt hat. Nachdem Rabin an die Regierung gelangt war und man das Gefühl hatte, jetzt treibt er voran, was die zionistische Linke immer haben wollte, haben sie ihre Waffen gestreckt. Etwa in dem Sinne, als Joschka Fischer seinerzeit an die Regierung gekommen ist und die Grünen zufrieden damit waren, daß sie jetzt nichts mehr zu tun brauchten. Dann ist Rabin ermordet worden, seine Politik war nicht in dem Sinne verwirklicht worden, wie er es sich erhofft hatte, aber die zionistische Linke ist bis zum heutigen Tag nicht aus ihrem Winterschlaf erwacht.

Im Jahr 2000, als der Oslo-Prozeß mit dem Camp David-Treffen und den Taba-Konsultationen zusammenbrach und die zweite Intifada, die zweite Empörung der Palästinenser, die allerdings dieses Mal militarisiert war, begann, da haben die meisten zionistischen Linken, also auch die Intellektuellen und Geistesarbeiter, den richtigen Zeitpunkt gefunden, um durcheinander zu geraten. Mit einem Mal waren sie verwirrt, wobei ich manchmal das Gefühl hatte, daß sie jahrelang darauf gewartet haben, verwirrt sein zu dürfen, um zum Nationalkonsens aufschließen zu können. Seitdem haben wir von ihnen nichts mehr zu erwarten.

Die israelische Linke befindet sich im Moment in einer sehr desolaten, miserablen Verfassung, und ich glaube nicht, daß sich daran demnächst etwas ändern wird. Um so weniger, wenn die Koalitionsmöglichkeiten, die sich aus den Wahlergebnissen ergeben, zu einer Regierung führen, von der ich befürchte, daß sie kommen wird. Ob da dialektisch längerfristig etwas passieren wird, kann ich nicht beurteilen, aber das ist ja das Problem mit Israel - wir haben nicht die Möglichkeit längerer Fristen. Israel ist kein Land, das längerfristig denken darf. Sie konnten die Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich 350 Jahre lang über zwei Weltkriege hinweg irgendwie in den Griff bekommen, wir haben die Zeit nicht, und die Linke hat im Moment mehr oder weniger ausgespielt. Die Arbeitspartei ist zusammengebrochen, der linke Flügel der Meretzpartei ist zusammengebrochen, ich würde sagen, vorerst ist aus dieser Ecke nichts zu erwarten.

SB: Herr Dr. Zuckermann, wir bedanken uns für dieses lange Gespräch und für Ihre ausführlichen Antworten.

Bremer Roland ... für wessen Freiheit tritt er ein? - © 2009 by Schattenblick

Bremer Roland ... für wessen Freiheit tritt er ein?
© 2009 by Schattenblick


3. März 2009