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INTERVIEW/013: Malalai Joya, Mitglied des Parlaments Afghanistans (SB)


Am Rande des Internationalen Kongresses "Nein zur NATO - Nein zum Krieg", der anläßlich des NATO-Gipfels am 4. April 2009 in einem Vorort Strasbourgs abgehalten wurde, hatte der Schattenblick die Gelegenheit, der afghanischen Politikerin Malalai Joya einige Fragen zu stellen. Die 29jährige Abgeordnete des Kabuler Parlaments wurde aufgrund ihrer öffentlich geäußerten Kritik an Politikern, die der mit den Besatzungsmächten in Afghanistan verbündeten Nordallianz angehören, im Mai 2007 von der Volksvertretung ausgeschlossen. Die in Flüchtlingslagern im Iran und Pakistan aufgewachsene Joya kämpft gegen eine neuerliche Herrschaft der Taliban, kritisiert die Regierungsbeteiligung ehemaliger Warlords und verlangt den Abzug der NATO-Truppen im Interesse des schwächsten Teils der afghanischen Bevölkerung, der Frauen und Kinder. Joya wurde mehrfach zum Ziel von Mordversuchen und kann, wie auch das Attentat auf die deutsch-afghanische Frauenrechtlerin und Provinzrätin Sitara Achakzai, die am Sonntag in Kandahar erschossen wurde, zeigt, sich in Afghanistan nicht ohne Personenschutz bewegen.

Malalai Joya - © 2009 by Schattenblick

Malalai Joya
© 2009 by Schattenblick


Schattenblick: Für den Fall, daß die NATO ihre Truppen aus Afghanistan abzöge, wie ständen die Chancen für einen friedlichen Versöhnungsprozeß unter der afghanischen Bevölkerung?

Malalai Joya: Wissen Sie, dafür braucht man viel Zeit. Es ist ein sehr langer, riskanter Kampf. Wir leben zwischen zwei Gegnern. Der eine Gegner kommt von außen, seine Truppen bombardieren uns und töten Zivilisten. Der andere Gegner kommt von innen. Es handelt sich um die Taliban und die Nordallianz, die über eine identische Mentalität verfügen. Nun kämpft unsere Bevölkerung gegen zwei Gegner. Wenn der äußere Gegner sich aus Afghanistan zurückzieht, dann wird es leichter, gegen den übriggebliebenen Gegner zu kämpfen.

Unsere Bevölkerung will von ganzem Herzen, daß sich Taliban und Nordallianz vor Gericht verantworten. Die Menschen unterstützen sie nicht. Leider ist es nur ein Tagtraum, daß diese Kriminellen und Terroristen wie [Burhanuddin] Rabbani, [Abdul Rasul] Sayyaf, [Yunus] Qanooni, [Mohammad Qasim] Fahim, [Abdul Rashid] Dostum, Ismail Khan, [Muhammad] Gulabzoi, [Nur ul-Haq] Ulumi, Mullah Omar sich einmal vor dem Internationalen Strafgerichtshof werden verantworten müssen. Leider sind sie an der Macht und werden jeden Tag mächtiger, und das ist ein großes Risiko für die Zukunft meines Landes.

Unsere Geschichte hat gezeigt, daß es lange Zeit und vieler Opfer bedarf, um Freiheit zu erlangen und Werte wie Demokratie, Frauenrechte und Menschenrechte durchzusetzen. Unsere Bevölkerung ist bereit, diese Opfer zu bringen, um dies zu erreichen. Aber dafür müssen Ihre Regierung und die Verbündeten der USA unseren Menschen ein wenig Luft für den Frieden lassen. Sie versorgen diese Warlords und diese Taliban mit Waffen, sie versorgen sie mit Geld, es handelt sich um Marionetten der verschiedenen Ländern.

Es gibt eine sehr einfache Lösung für die desaströse Situation in Afghanistan. Wenn die USA und ihre Verbündeten es ehrlich mit der afghanischen Bevölkerung meinen, sollten sie versuchen, die Fundamentalisten der Nordallianz, die die Menschen unterdrücken und jeden Tag mächtiger werden, langsam zu entwaffnen, sie sollten versuchen, die Taliban zu entmachten, indem sie nicht mit ihnen verhandeln, sie sollten versuchen, dem Einhalt zu gebieten, daß Länder wie der Iran, Pakistan, Rußland, Usbekistan und so weiter die Nordallianz oder die Taliban mit Waffen unterstützen, und sie sollten versuchen, die demokratischen Kräfte in meinem Land, die die einzige Zukunft für Afghanistan darstellen, zu unterstützen.

SB: Weist die heutige demokratische Bewegung irgendeine Kontinuität mit den Regierungen der späten 1970er und frühen 1980er Jahre, die über eine sozialistische Agenda verfügten, auf? So soll etwa die Regierung [Mohammad] Najibullah in Sachen Frauenrechte eine fortschrittliche Politik betrieben haben. Teilen sie diese Ansicht?

MJ: Nein. Die Leiden und Schmerzen unserer Menschen begannen in jener Zeit. Unglücklicherweise handelte es sich um Marionetten Rußlands, und Marionetten bewirken natürlich niemals positive Veränderungen in einem Land, sie möchten das Land besetzt halten. Daher träumen die Menschen nicht nur davon, daß die kriminellen Mujahedin, die Führer der fundamentalistischen Parteien, die nach dem Abzug Rußlands während des Bürgerkriegs an die Macht gelangten, und die Führer der Taliban vor Gericht gestellt werden. Sie wünschen sich auch, daß die sogenannten Kommunisten, die sich als Machthaber wie Faschisten gebärdeten, indem sie Tausende von Demokraten töteten, die gegen die Besatzung waren, daß diese Kriminellen nach drei Perioden des Krieges in Afghanistan vor Gericht gestellt werden.

Allerdings verbünden sich diese Kräfte nun. Einige der hochrangigen Regierungsbeamten jener Ära wie Gulabzoi oder Ulumi sitzen nun in der Regierung Afghanistans. Früher haben sie den Menschen versprochen, sie zu versorgen und ihnen ein gutes Leben zu ermöglichen, tatsächlich jedoch haben sie dieses Versprechen nicht eingelöst, sondern das Gegenteil getan. Nun reichen sie den Fundamentalisten die Hände.

SB: Sprechen Sie von Mitgliedern der ehemaligen Regierung Najibullah?

MJ: Ja, Sie verbünden sich mit den machthabenden Fundamentalisten. Mindestens zwei von ihnen wie Gulabzoi oder Ulumi sitzen nun im Parlament.

SB: Wenn von sogenannten moderaten Taliban die Rede ist oder Gulbuddin Hekmatyar sich, wie er es kürzlich getan haben soll, bessere Lebensbedingungen für Frauen verspricht, ist das für Sie auf irgendeine Weise glaubhaft?

MJ: Ich möchte Ihnen sagen, daß diese verhaßten Feinde es immer wieder schaffen, an die Macht zu gelangen. Aus diesem Grund wird die Situation immer katastrophaler. Als die Fundamentalisten der Nordallianz nach dem 11. September 2001 an die Macht gelangten, haben sie wohlklingende Reden über Demokratie und Frauenrechte geschwungen, sie waren viel fortschrittlicher als ich oder Sie oder irgend jemand. Daran glauben sie nicht. Man muß sie daran messen, was sie praktisch tun, und insbesondere die Situation von Frauen wird immer schlechter. Dies behaupten sie ausschließlich im Interesse ihres Machtstrebens. Damit wollen sie wohlmeinende Menschen in aller Welt täuschen. Wenn sie heute über Demokratie, Frauenrechte, Menschenrechte sprechen, dann wahren sie damit ihre Chance, an die Macht zu gelangen.

Die Menschen in aller Welt, die nach Gerechtigkeit streben, wollen von Personen, die Verbrechen begangen haben, keine schönen Geschichten über Demokratie hören. Sie wollen Antworten zu den Verbrechen hören, die sie in der Vergangenheit, während sie über die Regierungsverantwortung verfügten, begangen haben. Unsere Bevölkerung wünscht zuerst, daß diese Personen entmachtet werden und sich vor Gericht verantworten, anstatt wieder an die Macht zu gelangen. Wie können die Menschen ihnen vertrauen, wenn sie das Land geplündert haben, wenn sie Frauen vergewaltigt haben, wenn sie viele Tausend demokratisch gesonnene Menschen umgebracht haben? Allein in der afghanischen Hauptstadt Kabul starben 65.000 unschuldige Menschen während des Bürgerkriegs. Sie haben so viele Verbrechen begangen, nun sollen sie, ohne dafür gradezustehen, wieder an die Macht gelangen, nur weil sie über Frauenrechte und Menschenrechte reden, obwohl sie noch nicht einmal bereit sind, sich für das zu entschuldigen, was sie in der Vergangenheit verbrochen haben.

Das wäre das erste, was sie zu tun hätten. Ich bin froh, daß sie im Geist unserer Menschen, im Herzen unserer Menschen und in der Geschichte unserer Menschen bereits mit ihren Taten konfrontiert wurden. Sie sollen sich aber auch eines Tages ganz konkret vor Gericht verantworten, auch wenn es lange dauern wird. Das liegt daran, daß sie von einer Großmacht wie der Ihren unterstützt werden, die sie im Kalten Krieg ebenfalls unterstützt hat und dies weiterhin tut, zudem befinden sie sich bereits an der Macht.

SB: Ein Drittel der afghanischen Bevölkerung leidet Hunger. Sind die NATO-Staaten auf irgendeine Weise initiativ geworden, um die Menschen mit Nahrungsmitteln zu versorgen, oder bauen sie nur Schulen und bohren Brunnen? Leisten sie humanitäre Hilfe, wie immer behauptet wird, oder reden sie nur darüber?

MJ: Nach der Tragödie des 11. September 2001 haben sie in einigen größeren Städten Schulen gebaut, und einige Frauen haben Zugang zu Ausbildung und Beruf. Aber in den meisten Provinzen Afghanistans lebt man wie in der Hölle. Selbst in der Hauptstadt Afghanistans dreht sich alles um Sicherheit, über die wir gar nicht verfügen. Wir sehen, daß sie [die NATO-Staaten] die Feinde unseres Landes unterstützen, und die Regierung will nun sogar mit den Taliban verhandeln. Wenn sie einige Schulen bauen, wie es bereits in größeren Städten geschehen ist, können die Menschen sie nicht besuchen, weil es nicht sicher ist.

So wurde kürzlich 15 Mädchen in Kandahar auf dem Weg zur Schule Säure ins Gesicht geschüttet. Jetzt müssen sie ihr Leben lang an diesen Verunstaltungen leiden und können nicht einmal zur Schule gehen. Was dieser Faschist Gulbuddin bereits getan hat, als er an der Macht war, wiederholt er nun wieder, während sie über Demokratie und Menschenrechte reden. Wenn die Mädchen zur Schule gehen, werden sie sogar in Kabul, sogar in der Provinz Sar-i Pul, in Badakhshan, in Mazar-i Sharif, in Herat entführt und vergewaltigt. Wie sollen sie zur Schule gehen?

Ich möchte Ihnen erklären, daß der Fundamentalismus eine Art Ideologie ist, gegen die man mit Hilfe von Erziehung vorgehen muß, nicht mit Krieg, der noch mehr Leid bringen wird. Dennoch werden die Fundamentalisten unterstützt, die ausländischen Regierungen sind nicht ehrlich mit der Bevölkerung Afghanistans. Demokratisch gesonnene Menschen werden nicht unterstützt. Wenn dies der Fall wäre, dann hätte man mit den Milliarden Dollar, die die Regierung in Kabul erhielt, Afghanistan zweimal statt nur einmal wieder aufbauen können. Dann gäbe es heute keinen Grund, Truppen in Afghanistan zu stationieren. Statt dessen wollen sie noch mehr Truppen nach Afghanistan schicken. Die Situation bleibt so, wie sie jetzt ist, und die Truppen bleiben in Afghanistan aufgrund der strategisch-politischen Konzepte ihrer Regierungen. Sie vernebeln den Blick der Menschen in aller Welt, um mehr Truppen nach Afghanistan zu schicken und mehr Kriegsverbrechen zu begehen.

SB: Das Argument der ausländischen Regierungen, für mehr Sicherheit für afghanische Kinder zu sorgen, ist also in keiner Weise gültig?

MJ: Ist das Sicherheit, wenn ein fünfjähriges Mädchen namens Farsia in Kabul vergewaltigt wird? Ist das Sicherheit, daß beispielsweise ein 14jähriges Mädchen in Sar-i Pul vergewaltigt wird, nachdem sechs Monate zuvor hier ein 12jähriges Mädchen vergewaltigt wurde? Ist das Sicherheit, wenn sie behaupten, Taliban zu bombardieren, von denen alle Menschen wissen, wer ihre Kommandanten sind, dafür aber unschuldige Zivilisten - Kinder, Frauen und Ältere - treffen? Ist das Sicherheit, daß sie einen berühmten Mörder-Talib wie Mullah Abdul Salam, der ein Massaker in Mazar-i Sharif begangen hat, als Distriktchef in Musa Qalu in der Provinz Helmand einsetzen, ohne sich bei den Menschen zu entschuldigen oder irgend etwas dagegen zu sagen, daß Taliban an die Macht gelangen?

Ist es Demokratie, wenn ein Mitglied des Parlament wie Mullah Raketi selbst Talib ist, wenn ein anderes Parlamentsmitglied, der von Hamid Karzai ernannte Mullah Arsela Rahmani, ebenfalls Talib ist oder wenn ein Sprecher der Taliban, Rahmatullah Hashemi, der rechtfertigt, daß unsere Buddhastatuen zerstört wurden, sich an der Universität Yale aufhält? Warum muß er nicht nach Guantanamo, wenn die US-Regierung und ihre Allierten es ehrlich mit der afghanischen Bevölkerung meinen? Und nun wird noch mehr mit den Taliban verhandelt, indem sie Mullah Omar und Gulbuddin Hekmatyar, diesen Faschisten, an die Macht bringen wollen.

Wenn sie diese Kräfte wie Mullah Omar und Gulbuddin Hekmatyar und die an der Regierung befindlichen Fundamentalisten der Nordallianz entmachten würden, dann wäre der sogenannte Krieg gegen den Terrorismus beendet. Aber sie wollen ihn nicht beenden. Sie brauchen ihn, um unser Land besetzt zu halten. Nun sagen die Menschen, daß sie nichts Gutes mehr von ihnen [den NATO-Staaten] erwarten und nur noch wollen, daß sie damit aufhören, Fehler zu begehen. Im Namen von Sicherheit, Wiederaufbau, Frauen- und Menschenrechten besetzen sie unser Land und zerstören es immer mehr.

SB: Ist es dann so, daß Sie die Taliban am Ende selbst bekämpfen müssen?

MJ: Wenn wir jetzt gegen die Taliban kämpfen, erhalten sie Waffen von den Nachbarstaaten. Wenn wir gegen die Nordalliannz kämpfen, erhalten sie mehr Geld von der US-Regierung und den Nachbarstaaten. Wenn diese Unterstützung unterbunden wird und die ausländischen Truppen sich aus Afghanistan zurückziehen, ist es leichter, gegen die Taliban zu kämpfen. Natürlich nicht wirklich leicht, es erfordert mehr Opfer, mehr Blut wird vergossen werden, aber zumindest leichter, als wenn man gegen zwei Gegner zu kämpfen hat.

SB: Frau Joya, vielen Dank für das Gespräch.

Übertragen aus dem Englischen von der Schattenblick-Redaktion

14. April 2009