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INTERVIEW/017: Sasha Simic, Socialist Workers Party (SWP) (SB)


Unter den linken Gruppierungen, die am 4. April auf der Anti-NATO-Demo in Strasbourg Flagge zeigten, befanden sich auch viele Mitglieder des britischen Zweigs der Socialist Workers Party (SWP). Sie ist eine der größten Parteien des Vereinigten Königreichs mit revolutionärer sozialistischer Agenda und gehört dem breiten Bündnis der Stop the War Coalition an, das die Massendemonstrationen gegen die Kriege in Afghanistan und im Irak organisiert hat.

Der Schattenblick hatte die Gelegenheit, sich auf dem Kundgebungsplatz in Strasbourg mit dem SWP-Mitglied Sasha Simic zu unterhalten, der sich in besonderer Weise für politische Veränderungen im Nahen und Mittleren Osten einsetzt. Vor dem Gespräch erklärte er, daß seine Ansichten nicht der Parteilinie entsprechen müssen, sondern persönlicher Art sein können.

Sasha Simic - © 2009 by Schattenblick

Sasha Simic
© 2009 by Schattenblick
Schattenblick: Die Sache der Palästinenser scheint Ihnen besonders am Herzen zu liegen.

Sasha Simic: Ja, sogar sehr. Im Jahr 2002 habe ich den Gazastreifen und das Westjordanland mit einer Gewerkschaftsdelegation besucht. Das war vor dem Abzug der Siedler aus Gaza, vor dem Bau der Mauer und sicherlich vor der jüngsten Barbarei der Zionisten im Dezember und Januar. Es ist eine sehr wichtige Angelegenheit für uns, nicht zuletzt deshalb, weil man für den Aufbau einer Antikriegsbewegung verstehen muß, welche Strategien unsere Gegner nutzen. Und Israel hat stets eine zentrale Bedeutung für den westlichen Imperialismus in dieser Region besessen.

Zuerst durch den britischen Imperialismus, der den Menschen eine schwere Last aufgebürdet hat, indem er sich mit dem zionistischen Projekt durch die Zustimmung zur Balfour-Deklaration 1916 einverstanden erklärte und damit grundsätzlich die Errichtung einer zionistischen Entität auf palästinensischem Land erlaubte, um sich dann zurückzulehnen, die Hände in Unschuld zu waschen und in den Schoß der Vereinten Nationen zu legen, so daß das Projekt durch den US-Imperialismus fortgeführt werden konnte.

SB: Sind Sie der Ansicht, daß der Krieg gegen Gaza eine besondere Bedeutung für die moderne Kriegführung hat, weil die Menschen nicht aus dem angegriffenen Gebiet fliehen konnten?

SS: Das glaube ich eigentlich nicht. Zivilisten waren gerade in letzter Zeit Freiwild, wie etwa in den Kriegen auf dem Balkan, wo die NATO Enklaven bombardierte, obwohl sie wußte, daß dort Zivilisten lebten, wo sie Belgrad und Umgebung bombardierte und allemal darauf vorbereitet war, genau das zu tun. Der Unterschied zu Gaza besteht natürlich darin, daß die Menschen sich nicht irgendwohin bewegen können, es ist ein Freiluftgefängnis.

Viele Jahre lang habe ich gedacht, daß das einfach eine Metapher sei. Aber wenn man nach Gaza reist, dann sieht man, daß das eine sehr zutreffende Beschreibung dessen ist, was das Gebiet ausmacht. Es gibt ein Gefängnistor im Norden, es gibt ein Gefängnistor im Süden, und die Palästinenser können sich nicht frei bewegen. Zu behaupten, inmitten eines von anderthalb Millionen Menschen dicht besiedelten Gebiets eine Bombe abwerfen zu können und dabei keine Unschuldigen zu töten, ist kompletter Unsinn. Natürlich wissen sie, was sie tun. Die Tatsache, daß 50 Prozent der Einwohner Gazas jünger als zwölf Jahre sind, bedeutet, daß man Kinder tötet. Wie sollen diese eine Bedrohung der viertgrößten Militärmacht der Welt mit einer Bevölkerung, die kleiner als die Londons ist, darstellen? Eben das repräsentiert Israel.

SB: Wo überall sind Sie gewesen?

SS: Ich war in Gaza, im Westjordanland, ich bin nach Hebron gereist und habe mich in Jerusalem aufgehalten. Ich habe das Leiden der Menschen und die kleinen Schikanen, mit denen sie traktiert werden, gesehen. Wenn man Student ist und sich morgens zur Universität aufmacht, weiß man nicht, ob man dorthin gelangt, weil plötzlich eine neue Straßensperre eingerichtet wird, weil ein israelischer Soldat sagen kann, daß du den ganzen Tag hierbleiben mußt. Wenn man Farmer ist und Vieh treiben oder ein Händler ist und Waren auf den Markt bringen will, halten sie dich an. Deine Tiere werden leiden, deine Melonen verfaulen und so weiter.

Schlimmer noch. Ich war dort mit einer Delegation von Angestellten aus dem Gesundheitsbereich unterwegs. Sie waren sehr daran interessiert zu sehen, wie die medizinischen Versorgungszentren in Gaza beschaffen sind. Sie waren recht gut ausgestattet, hauptsächlich aufgrund der Spenden arabischer Regimes, die lieber viel Geld nach Palästina schicken, anstatt wirklich etwas für die Palästinenser zu tun. Die Einrichtungen hatten einen hohen Standard, aber es kam nicht selten vor, daß schwangere Frauen, bei denen bereits die Wehen eingesetzt hatten, an Checkpoints angehalten wurden und sie in Agonie an der Straße starben, weil ihnen die Weiterfahrt und damit die Behandlung nicht gestattet wurde. Diese Geschichte hörten wir immer wieder. Wir sahen Bilder von Kindern mit schlimmsten Verletzungen, auf die geschossen wurde und die mit plastischer Chirurgie behandelt wurden. Es war eine sehr aufwühlende Erfahrung.

SB: Waren Sie in Gaza, als die Hamas bereits an der Regierung war?

SS: Nein, kurz zuvor. Wenn die Frage der Hamas in Britannien aufkommt, dann wird heftig darüber diskutiert. Mein Eindruck ist, daß die Hamas demokratisch gewählt wurde, weil der Fatah bereits damals der Ruf nachhing, korrupt zu sein. Dieser Ruf war aufgrund der praktizierten Vorteilsnahme wohlverdient. Blair zog in die Kriege im Irak und in Afghanistan, um die Demokratie zu fördern. Hamas wurde aus guten Gründen aufgrund einer demokratischen Entscheidung der Palästinenser gewählt. Aber das war den Amerikanern nicht gut genug. Letztendlich unterstützten sie die Ägypter bei dem Versuch, sie zu stürzen. Mein Eindruck ist, daß die Demokratie, über die sie reden, eine Demokratie ist, die ausschließlich dem Westen nützt. Es ist Sache der Palästinenser sich auszusuchen, welche Art und Form von Regierung sie wünschen. Ich bevorzuge eine linke Option, aber ich bin nicht an der Front des Geschehens. Ich denke, man hat im Nahen Osten schwere Fehler begangen, und wir müssen uns darum kümmern, wie die dafür verantwortliche Regierungspolitik beschaffen ist.

SB: Wie sieht die Position Ihrer Partei bezüglich der Hamas als Repräsentantin palästinensischer Interessen aus?

SS: Wir haben politische Meinungsverschiedenheiten, aber davon gehen wir nicht aus. Wir beginnen damit, daß unser Hauptfeind im eigenen Land steht. Bevor ich Hamas kritisiere, möchte ich, daß Gordon Brown und all die Leute, die uns in den Krieg manövriert haben, bezahlen. Ich glaube, die beste Möglichkeit, Sozialisten im Nahen Osten zu unterstützen, besteht in der Arbeit im eigenen Land.

Von großem Interesse ist unser starkes Engagement für eine Initiative namens Kairo-Konferenz. Für uns steht Israel direkt hinter dem US-Imperialismus. Drei Milliarden Pfund an Militärhilfe vor allen übrigen Ländern. Der nächste große Empfänger von Militärhilfe in der Region ist das korrupte Mubarak-Regime. Es ist natürlich nicht demokratisch, aber das macht nichts, man ist sehr zufrieden damit, Geschäfte mit ihm zu machen. In den letzten fünf, sechs Jahren haben wir uns darum bemüht, Konferenzen gegen Imperialismus in Kairo zu veranstalten. Die letzte wäre normalerweise im März abgehalten worden, aber aufgrund der Krise in der ägyptischen Gesellschaft wurde sie auf den 14. bis 17. Mai verschoben. Jeder ist dort willkommen.

Wir waren immer der Ansicht, daß neben Jerusalem Kairo der Schlüssel zum Nahen Osten ist. Kairo verfügt über eine große Konzentration von Arbeitern, es ist die größte Stadt Nordafrikas, und in den letzten zwei, drei Jahren hat es dort einige fantastische Streiks gegeben. Die Textilarbeiter aus Mahalla im Nildelta haben eine sehr mutige Aktion durchgeführt. Es hat dort eine sehr beeindruckende Streikbewegung im Dezember 2007 gegeben, als die Steuereintreiber die Arbeit niederlegten. Das war schon seltsam. 30.000 Steuerbeamte streikten und setzten alle ihre Forderungen durch. Das regte andere Berufsgruppen wie Ärzte, die sich zu einer Bewegung für soziale Gerechtigkeit zusammengeschlossen hatten, dazu an, es ihnen gleichzutun. Der durchschnittliche Arzt verdient nicht einmal tausend ägyptische Pfund im Monat, das sind weniger als hundert britische Pfund.

Bei einem der Treffen auf der Kairo-Konferenz trat ein Arzt auf, der diese Gruppe repräsentiert, und erhob die Forderung nach einem Mindestlohn von tausend ägyptischen Pfund im Monat. Dann sagte einer der Textilarbeiter aus Mahalla, daß sie für einen Mindestlohn von 1500 ägyptischen Pfund kämpften. Man erlegte sich nach dem Motto "Unsere herrschende Klasse hat uns bis auf die Knochen ausgesaugt, wir wissen, daß es diese Ressourcen gibt" keine Zurückhaltung auf.

Das ist sehr aufregend. Es gibt große Brüche in der ägyptischen Gesellschaft, die sehr militarisiert ist. Nun versucht man, der Bevölkerung zu nehmen, was sie nach der Dekolonisation erobert hat. Nasser war natürlich kein Sozialist, aber er hat reale soziale Fortschritte bewirkt. Die Bauern erhielten Land und die Großgrundbesitzer mußten gehen. Das soll nun wieder rückgängig gemacht werden. Einige dieser Dörfer haben gerade erst ihre staatlichen Kredite abbezahlt, die sie in den fünfziger Jahren für dieses Land aufgenommen hatten, was für arme Leute sehr, sehr hart ist. Jetzt kommt Mubarak und sagt "Wir werden das Land wieder an uns nehmen. Vielen Dank. Es herrscht harter Neoliberalismus, wir brauchen wieder Großgrundbesitzer, wir müssen die großen Staatskonzerne privatisieren."

Dem halten Bauern und sogar Frauen entgegen "Nein, wir haben dafür bezahlt, es ist unser Land". Sie widerstehen einer sehr, sehr repressiven Staatsmaschine. Mubarak hat allerdings vergessen, daß die personelle Basis seiner Armee aus Wehrpflichtigen besteht, die meist aus der Bauernschaft stammen. Ihre Sympathie gehört häufiger den Bauern, denen sie das Land abnehmen sollen, als der herrschenden Klasse. Man kann direkt erleben, wie sich riesige Brüche auftun. Ich habe mir niemals vorstellen können, einer vorrevolutionären Situation so nahe zu sein wie in Ägypten.

SB: Welche Rolle spielen die Muslimbrüder dabei? Sind sie integriert in diesen revolutionären Kampf oder neigen sie eher zu der reaktionären Seite?

SS: Das Problem mit der Muslimbrüderschaft besteht darin, daß wir im Westen zu einer simplifizierenden Analyse neigen, laut der es sich dabei um einen Monolithen handelt, eine Gruppe, die in sich vollständig identische Vorstellungen verfolgt. Aber wir sollten mit der Tatsache beginnen, daß sie an der Macht wären, wenn Ägypten eine demokratische Gesellschaft wäre. Sie verfügen über etwa zwei Millionen Mitglieder und ein weitverzweigtes Netzwerk. Aber es ist kein Monolith. Und es ist interessant zu sehen, daß die Führung der Muslimbrüder in der Tat nach rechts neigt, sozial sehr konservativ ist und häufig aus der Geschäftswelt stammt. Das behindert den Fortschritt der Bewegung. Als Geschäftsmann ist man nicht allzu erfreut darüber, wenn Arbeiter die Kontrolle übernehmen und ihren Kampf vorantreiben.

Doch sie sind der Motor sozialer Veränderung. Das habe ich bei meinem Aufenthalt bei einer Konferenz in Beirut vor zwei Jahren erlebt, die kurz nach dem Sieg der Hisbollah über die ins Land eindringende israelische Armee stattfand. Ich glaube, die politischen Umstände sind dort sehr ähnlich gelagert. Man ruft die Menschen etwa wie bei den orangenen Revolutionen in Osteuropa auf die Straße, das Regime sieht die Opposition und macht sich einfach aus dem Staub. Ich glaube, die Hisbollah hat das vor einigen Jahren versucht, allerdings keine Antwort darauf gehabt, was passiert, wenn das Regime dem Druck der Straße nicht weicht. Man braucht soziale Macht, um es anzugreifen, und die Hisbollah ist beim Einsatz solcher Mittel sehr zurückhaltend.

Aber innerhalb der Bewegung gibt es junge Leute, die sich gegen die offizielle Parteilinie stellen. Auf der Kairo-Konferenz ging es beispielsweise um die Frage, ob dem Iran die Produktion von nuklearem Material gestattet werden sollte. Mein Argument bestand darin, daß es problematisch für den Westen wäre, dies zu untersagen. Wenn die USA und das Vereinigte Königreich selbst über Atomwaffen verfügen und dies anderen Ländern verbieten, ist das eine aberwitzige Heuchelei. Eigentlich vertreten wir die Meinung, daß unsere Führer erst einmal den Balken im eigenen Auge sehen sollten, aber gleichzeitig argumentieren wir damit, daß Atomwaffen wie überhaupt Atomkraft für niemanden gut sind.

Unmittelbar nachdem ich vom Rednerpult kam, traten zwei junge Frauen im Kopftuch auf mich zu und meinten, daß sie Atomkraft für fortschrittlich halten. Das erinnerte mich an die fünfziger Jahre, als die Menschen Atomkraft ausschließlich mit Dingen wie Raumfahrt und Robotern in Verbindung brachten. Sie sind bereit zu diskutieren, sie wollen diskutieren, diese Frauen waren mutig und offensiv, sie entsprachen in keiner Weise dem westlichen Bild verhärmter, unterdrückter muslimischer Frauen. Die Bäuerinnen sind die besten Kämpfer, die Arbeiterinnen in Mahala sind die Menschen, die die Sache voranbringen. Man erkennt die Widersprüche in nahöstlichen Gesellschaften, die so komplex und differenziert sind wie die europäischen Gesellschaften.

SB: Hat die Sache der Palästinenser einen integrativen Effekt auf muslimische Gesellschaften?

SS: An der Basis. Als die Palästinenser aus dem Gazastreifen ausbrachen, was wir in England als die spektakulärste Einkaufstour seit langem bezeichneten, haben die einfachen Ägypter die Bewohner Gazas zu hundert Prozent unterstützt. Diese kehrten mit allen möglichen Gütern zurück. Gaza ist ein Gefängnis, es ist aber auch ihr Land. Obwohl sie die Gelegenheit hatten, sich auf irgendeine Weise abzusetzen, kehrten sie zurück. Das ist sehr signifikant.

Ebenso vielsagend war die Hilfe und Unterstützung, die die Ägypter ihnen gewährten. Mubarak sollte dem Einhalt gebieten. Er wurde von der US-Regierung angewiesen, die Menschen in den Gazastreifen zurückzutreiben und die Grenze wieder zu verschließen. Tatsächlich verlor er Kontrolle über die Situation. Die Menschen am Boden der Gesellschaft identifizierten sich mit dem Schicksal der Palästinenser, an der Spitze wird Mubarak durch die imperialistische Maschinerie ermächtigt und führt ihren Willen aus.

SB: Herr Simic, vielen Dank für das ausführliche Gespräch.

Übertragen aus dem Englischen von der Schattenblick-Redaktion

16. April 2009