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INTERVIEW/032: Revolution und Restauration - Kamil Majchrzak, Rechtswissenschaftler und Journalist (SB)


Interview mit Kamil Majchrzak am 29. November 2009 in Berlin-Friedrichshain


Kamil Majchrzak untersucht als Rechtswissenschaftler am Zentrum für Europäische Rechtspolitik (ZERP) der Universität Bremen unter anderem die aktuelle Staatenpraxis in Bezug auf das völkerrechtliche Gewaltverbot. Als Redakteur des telegraph und der polnischen Edition der Le Monde Diplomatique widmet er sich sozialen und gesellschaftlichen Fragen mit Schwerpunkt Osteuropa. Im Rahmen seiner journalistischen Tätigkeit musste er bereits zwei Mal, beim G8-Gipfel in Heiligendamm und beim NATO-Gipfel in Strasbourg, vor Gericht die Anerkennung seiner Akkreditierung gegen das Bundeskriminalamt durchsetzen, das Einspruch gegen die Arbeit des kritischen Berichterstatters eingelegt hatte.

Ein Plan, der zusammengehört ...
© 2009 by Schattenblick

Schattenblick: Der telegraph hat eine besondere Ausgabe zum zwanzigsten Jahrestag der sogenannten Wende herausgegeben. Repräsentieren die Beiträge so etwas wie eine Generallinie eurer Redaktion?

Kamil Majchrzak: Es gibt keine Generallinie beim telegraph. Es gibt verschiedene Leute in der Redaktion. Einige sind schon seit 1989 oder noch früher dabei, als die Zeitschrift noch "Umweltblätter" hieß. Ich bin das einzige Redaktionsmitglied aus Polen und auch etwas jünger. Es gibt verschiedene Meinungen, aber generell wird im Konsens darüber entschieden, was veröffentlicht wird und was nicht. Wenn ein Redakteur Einspruch erhebt, dann wird es nicht veröffentlicht.

SB: Insgesamt scheint ihr die Position der sonst gar nicht mehr wahrnehmbaren, "gescheiterten Revolution" zu vertreten, mit der man einen, wie es damals hieß, "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" anstrebte?

KM: Wenn man "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" hört, dann denkt man vielleicht an 1968 und an Prag. Also eine Zeit, als in der Tschechoslowakei aber auch in Polen versucht wurde etwas mit und nicht gegen die Partei zu verändern. Das Scheitern des berühmten "Offenen Briefes an die Partei" von Karol Modzelewski und Jacek Kuron führte zu einer neuen Konstellation. Deshalb glaube ich auch, dass 1989 die Situation eine andere war, da hat man andere Erfahrungen gemacht. Der telegraph steht in der Tradition der Umwelt-Bibliotheken, der etwas libertär-anarchistisch geprägten Tradition innerhalb der linken DDR-Opposition. Man orientierte sich nicht an irgendeiner Parteipolitik. Sozialismus ja, aber bestimmt nicht dieser staatlich fixierte und etatistische. 1989 macht es möglich auch etwas ohne die Partei durchzusetzen.

SB: Es gibt ja eine ganze Reihe von ehemaligen DDR-Bürgern, die versuchen das Erbe der DDR hochzuhalten. Habt ihr da Kontakte oder gibt es aufgrund eurer Opposition vor 1989 keine Berührungspunkte?

KM: Da sollte man vielleicht die Leute fragen, die damals in der DDR gelebt haben und politisch aktiv waren. Ich habe zwar von 1985 bis 1989 in Ostberlin gelebt, bin aber kein DDR-Bürger in dem Sinne gewesen. Der telegraph ist kein Kulturverein, in dem nostalgische Folklore gepflegt wird, sondern eine Zeitschrift der nach wie vor aktiven Opposition. Diese artikulierte sich Ende der achtziger Jahre in der DDR als eine politische Richtung, die weder eine Vereinigung mit der kapitalistischen BRD wollte noch eine Fortführung der alten Nomenklatur, was auch mit der Besetzung der Stasizentrale in der Normannenstraße und der kritischen Teilnahme am Runden Tisch sichtbar wurde. Es ging nicht nur um die Zeitschrift, die im Untergrund in der Zionskirche herausgebracht wurde, sondern um eine politische Alternative zu dem, was letztendlich '89/'90 geschehen ist. Eigentlich war die Revolution mit dem Mauerfall zu Ende. Danach begann die kapitalistische Restauration.

Die Opposition forderte Arbeiter-Selbstverwaltung und unabhängige Gewerkschaften, sie winkten schon mit dem lächerlichen westdeutschen Betriebsverfassungsgesetz, wir sagten eine echte sozialistische und antifaschistische Verfassung, sie drohten mit Art.23 GG, wir sagten der Staat "soll", sie zuckten die Schultern und faselten von Sachzwängen des Marktes. So kam es zum Ende der Revolution und Beginn der Restauration.

Mit dem Anschluss der DDR über Art. 23 GG hat sich die BRD sowohl die Sozialcharta mit ihren umfangreichen einklagbaren sozialen Grundrechten, wie dem Recht auf Wohnen als auch die vom Runden Tisch erarbeitete neue Verfassung vom Hals geschafft die u.a. ein Recht auf Arbeit und die Abschaffung der Wehrpflicht vorsah. Man findet dort keine Deutschenartikel wie im Grundgesetz. Das Eigentum wurde sozialpflichtig. Die Bildung von Kartellen und marktbeherrschenden Unternehmen verboten. Soziale Bewegungen unter den Schutz der Verfassung gestellt. Das Streikrecht der Gewerkschaften gewährleistet und die Aussperrung verboten.

Hervorhebenswert sind für mich nicht nur die unmittelbare Drittwirkung der Menschen- und Bürgerrechte, sondern auch die Staatsgrundsätze. Es ist bemerkenswert, dass Abrüstung zum Staatsziel erklärt wurde und die Darstellung des Mottos "Schwerter zu Pflugscharen" zum Staatswappen eines deutschen Staates wurde. Diese von zahlreichen Bürgern miterarbeitete Verfassung sollte durch einen Volksentscheid angenommen werden. Eine demokratische Institution also, die für die BRD -trotz räudigem Demokratie-Mantra- ein Gespenst darstellt, dass sie jedes Mal verhindert, denn der reaktionäre feudal-bürgerliche deutsche Staat darf einfach keine Marseillaise haben. Bei allen Fehlern des Runden Tisches in der Zustimmung zur Bildung einer "Regierung der nationalen Verantwortung" anstatt einer Provisorischen Regierung hat die Bürgerbewegung der DDR durch den Verfassungsentwurf und die Sozialcharta einen Präzedenzfall in der kriegerischen Geschichte Deutschlands geschaffen - das sage ich Euch als Pole- und meine damit, dass es zum ersten Mal möglich war, auch auf deutschem Boden, dass eine Gesellschaft mündiger Bürger, von unten, durch direkte Demokratie über den Schatten der eigenen Vergangenheit springen konnte. Deutschland hat das noch nie und die Gesellschaft der BRD bis heute nicht gewagt. Die Wiedervereinigung 1990 war somit nicht das Resultat einer gesellschaftlichen Bewegung, sondern ein in der Sache durch Verträge durchgesetzter Vorgang. Damit knüpft es an die "Widerherstellung der Einheit" durch Bismarck 1871. Auch dort spielte weder das Parlament noch das Volk eine Rolle. Ironischerweise musste in beiden Fällen zuvor die Revolution zerschlagen werden. Im ersteren Fall die Pariser Kommune 1870/71, im letzteren Fall durch Ersetzung der Parole von "Wir sind das Volk" mit "Wir sind ein Volk".

Durch den Mauerfall wurde man einfach von den Ereignissen überrollt, aus der sozialen Revolution wurde praktisch eine Konterrevolution zur Wiedervereinigung. Um deine anfangs gestellte Frage zu beantworten: Kontakte und Austausch gibt es natürlich. So gibt es noch immer alte Abonnenten, die schon damals die Umweltblätter beziehungsweise dann den telegraph, als der er sich zur Wendezeit umbenannt hat, bezogen. Erst vor wenigen Tagen trafen sich im Haus der Demokratie und Menschenrechte, wo auch die Redaktion des telegraph ihren Sitz hat, AktivistInnen der Initiative für eine Vereinigte Linke (VL) in der DDR. Es war erfrischend zu beobachten, dass die einstigen Protagonisten weiterhin politisch aktiv sind. So zum Beispiel in der Umweltbewegung oder gegen Hartz IV. Die VL wurde im Herbst 1989 von MarxistInnen, linken ChristInnen, oppositionellen Gruppen und kritischen Mitgliedern der SED gegründet, um gemeinsam gegen die stalinistische SED-Diktatur und für die Verwirklichung des Sozialismus in der DDR politisch aktiv zu werden. Mit der VL war so im Herbst 1989 eine Organisation entstanden, die mit dem Ziel einer "Gesellschaft der sozialistischen Freiheit und Demokratie" sowohl eine politische, soziale, geschlechterdemokratische und ökologische Perspektive der Emanzipation verband.

Damals wie heute geht es um das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln als Grundlage einer sozialistischen Vergesellschaftung und die Verwirklichung einer tatsächlichen Vergesellschaftung der gesamten ökonomischen Tätigkeit durch die Selbstbestimmung und Selbstverwaltung der ProduzentInnen.

SB: Was ist von dem politischen Aktivismus dieser Tradition geblieben?

KM: Wenn man sich die letzten Ausgaben des telegraph anschaut, dann herrscht immer noch das Bewusstsein vor, in einer osteuropäischen Tradition der Opposition zu stehen. Nicht einer Bürgerbewegung wie das im Westen definiert wird, sondern einer Oppositionsbewegung im Osten, und in diesem Sinne hat sich nach der Wende nicht viel verändert. Die Ziele für die damals gekämpft wurde sind immer noch nicht erreicht worden. Die Zeitschrift ist aber auch offen für die Entwicklungen, die etwa in Frankreich, in Westdeutschland oder in der Schweiz stattfinden. Trotzdem dominieren immer noch die eigenen Erfahrungen und die Perspektive des Ostens, und das ist auch der Schwerpunkt der Zeitschrift.

In diesem Sinne haben wir 2004 die Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV und die Agenda 2010 wie zur Wendezeit mit Sonderausgaben unterstützt und auf der Strasse verteilt, diese kann man auch heute von unserer Website www.telegraph.ostbuero.de/ herunterladen. Auch der Sicherheitsstaat ist weiterhin ein Thema. Damals lautete die Forderung ja: Abschaffung der Stasi, aber gleichzeitig auch Abschaffung aller Geheimdienste, die in einer Demokratie nichts zu suchen haben. Diese Forderung wurde nicht erfüllt. Die Stasi-Zentrale wurde bekanntlich zweimal besetzt, einmal im Januar 1990, noch zu DDR-Zeiten, und dann zur Zeit der faktischen Wiedervereinigung im September, als Helmut Kohl die Akten und Dossiers der Stasi nahtlos für seine Sicherheitsorgane übernehmen wollte. Während die Zwei-plus-vier-Verhandlungen bereits fortgeschrittenen waren wurde die Opposition der DDR von der Dynamik der anstehenden Widervereinigung mit West-Deutschland überrumpelt. Diese ging mit der Gefahr einer Zurücknahme der revolutionären Errungenschaften einher und der Verhinderung einer echten Aufarbeitung. Aus diesem Grund besetzten vom Runden Tisch legitimierte Komitees am 4. September 1990 zum zweiten Mal das Zentral-Archiv des MfS und traten eine Woche später in einen unbefristeten Hungerstreik. Begleitet von einem breiten Medienecho erreichten die BesetzerInnen, dass der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und DDR-Unterhändler Günter Krause am 18. September 1990 eine ergänzende Vereinbarung zum Einigungsvertrag abschließen mussten. Mit der Einfügung von Art. 1 Pkt. 8 konnte erreicht werden, "dass bis auf die unumgängliche Mitwirkung bei der Aufklärung und Verfolgung von Straftaten die Nutzung oder Übermittlung von Daten für nachrichtendienstliche Zwecke ausgeschlossen wird." Damit konnte verhindert werden, dass die MfS-Akten ins westdeutsche Bundesarchiv überführt werden und für die breite Öffentlichkeit sowie für die Betroffenen selbst gesperrt werden. Dadurch wurde ein Zugriff der westdeutschen Nachrichtendienste zumindest in der Theorie stark eingeschränkt. Die jüngsten Verfahren gegen die sog. militante gruppe (mg) -ebenfalls unter Innenminister Schäuble- belegen, dass Überwachungsprotokolle und Erkenntnisse aus Stasi-Akten gegen DDR-Oppositionelle auch heute vom bundesdeutschen Verfassungsschutz gegen bereits zu DDR-Zeiten verfolgte Personen verwendet werden. An dieser Stelle sollte hinzugefügt werden, dass mit der Vereinbarung vom 18. September auch die Bildung der Behörde der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) und die spätere Verabschiedung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes erzwungen wurde. Wer heute also von Stasi sprechen will, der darf nicht vom BND schweigen. Wer sich mit der wahren Geschichte der Wende beschäftigt, wird entdecken, dass das vorherrschenden Wiedervereinigungs-Narrativ beschiss ist.

Wie man sieht, herrschen staatlicherseits eher Kontinuitäten vor. Die DDR wird als große Diktatur dämonisiert, aber gleichzeitig bedienen sich die "demokratischen" Sicherheitsorgane aus dem übernommenen Fundus.

Weil radikale Demokratie, Sozialismus und Antifaschismus nicht eingelöst wurden, hat diese libertäre Strömung der Opposition nach wie vor ihre Ziele nicht erreicht und wird nach wie vor auch von diesem Staat als widerspenstig angesehen.

SB: Noch heute werden Stasiunterlagen dazu benutzt, Politik zu betreiben, indem man sie gegen bestimmte Personen einsetzt. Wird dieses Material nicht nur in dem Fall, den Du geschildert hast, nach wie vor in einem geheimdienstlichen Sinne weiterverwendet?

KM: In dem genannten einen Fall ist es so. Von anderen Fällen kann man es nur vermuten oder man müsste sie recherchieren. Aber Fakt ist, dass Einschätzungen zum sozialen verhalten bestimmter Personen, die als Oppositionelle tätig sind, für die Geheimdienste nach wie vor aktuell sind. Der Verfassungsschutz sammelt heute Daten wie Homosexualität, soziales Verhalten, Beziehungen zu den Eltern. Wozu braucht er diese? Dabei war es doch gerade die Zerstörung des Privatlebens die der Stasi heute als so menschenverachtend vorgeworfen wird. Lügen und Inszenierungen sind das Geschäft jedes Geheimdienstes. Einen demokratischen hat es und wird es nie geben. Es geht ja heute vor allem um die Personen, die sich während der Wende nicht haben kaufen lassen. Noch vor den Wahlen im März 1990 sind die BRD-Parteien umhergezogen und haben "Bürgerbewegte" eingesogen, die politische Einstellung schien dabei zweitrangig zu sein, obwohl es eigentlich ein Paradox ist, dass eine ausländische Partei wie die westdeutsche CDU in einem völkerrechtlich noch immer anerkannten Staat wie der DDR für die Wahlen am 18. März 1990 mit ihren westdeutschen Ressourcen Wahlkampf machen konnte.

SB: Stasiunterlagen werden häufiger gegen Abgeordnete aktiviert. Gregor Gysi oder andere werden als IM verdächtigt, und das hat zum Teil konkrete politische Folgen.

KM: Man sieht nur, dass das Bestandteil einer aktiven Geschichtspolitik ist. Eigentlich hatte die BRD nichts zu tun mit der Revolution im Osten, ob das Polen war oder die DDR, aber durch eine geschickte Geschichtspolitik hat man es derzeit geschafft, sich so darzustellen, als ob Helmut Kohl den Fall der Mauer und überhaupt die Revolution ursächlich wäre. Man spricht dabei gar nicht von der Revolution in dem Sinne eines sozialen und politischen Widerstandes, sondern versucht, daraus ein Fest der Wiedervereinigung zu inszenieren, und da ist es nützlich, bestimmte Alternativen zu verdammen und Trennlinien zu simulieren.

Ich bin kein Fürsprecher Gysis, im Gegenteil. Der telegraph hat ja im Mai 1992 die vollen Stasi-Tonbandmitschnitte an Major Lohr von der HA XX, betreffend Gysis Mandanten Rudolph Bahro publiziert. Dazu wurde im Anschluss eine kontroverse Debatte geführt. Für mich ist -20 Jahre nach der Widervereinigung- die IM-Tätigkeit oder auch eine hauptamtliche Arbeit für das MfS auch nicht das wirkliche Problem. Jedenfalls nicht gravierender als die heutige Mitarbeit beim polnischen WSI oder deutschen BND. In der Wendezeit haben ja mehrer Leute ihre Tätigkeit offen gelegt und sich der Problematik direkt gegenüber ihrer Gruppe oder ihren Opfern gestellt. Gravierender finde ich heute die Erosion logischen Denkvermögens und der politischen Vorstellungskraft der gegenwärtigen politischen Klasse. Manche glauben oder wollen mit der Totalitarismus-These in dem real existierenden Sozialismus eine weitere Baracke von Auschwitz entdeckt zu haben. Ich bin aber sicher, dass sie in ihrer narzisstischen Selbstverblendung nicht davor zurückschrecken würden die "Einschätzungen" eines Hans Frank gegenüber dem "Bandenunwesen" als zeitlos auszugeben und danach zu handeln. Die Stasi soll so die Antithese zum gegenwärtigen System darstellen. Ich denke die Antithese braucht man aber nicht in der Vergangenheit zu suchen. Sie liegt vielmehr in der Gegenwart, in Guantanamo, Abu Ghraib, in polnischen Geheimgefängnissen der CIA, den Ölfeldern von Umm Qasr oder dem Massaker von Mazar. Ich kann es nicht nachvollziehen, wie jemand einen Kranz am Holocaust-Denkmal niederlegen kann und zugleich Tornados nach Belgrad und Kandahar schicken kann.

Für mich ist in diesem Kontext die Reflexion über die Gegenwart weit aus aufschlussreicher, als wenn Stasi-Einschätzung gegenüber Oppositionellen für operative Vorgänge der heutigen Geheimdienste benutzt werden. Wenn man zum Beispiel in einer Verfassungsschutzakte Fotos findet von Treffen im Haus der Demokratie und Menschenrechte, dann erinnert das an dieselben Stasi-Photos von der Umwelt-Bibliothek, die auch vor deren Eingang gemacht wurden. Hier hat man es mit parallelen Erkenntnisinteressen der Sicherheitsorgane zu tun. Das Theater um IM-Vorwürfe in der großen Politik, das ist ein Spektakel aus einem B-Movie und ist höchstens interessant für Strategen von Palastumstürzen, aber es interessiert mich heute nicht mehr, ob irgendjemand IM war oder nicht. Ich sehe keinen großen Unterschied zwischen der Stasi und dem BND. Der Stasi kann man ironischerweise eher zugute halten, dass sie -nach derzeitigem Kenntnisstand- keine Staatsstreiche im Ausland organisiert hat.

Als Enkel eines Überlebenden von Auschwitz und Buchenwald stört mich vielmehr der nahtlose Übergang von Hitlers Folterknechten in BRD-Institutionen. Beispiellos sind die SS-Einsatzkommandos und andere NS-Verbrecher beim BKA. Es ist schon erstaunlich, auf welch wundersame Weise die Leute in der BRD zu Demokraten wurden mit ihren Globkes und beiden Weizsäckers, dem ersten Bundespräsidenten Heuss mit seiner Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz, gefolgt von KZ-Baumeister Lübke oder dem NSDAP-Mitglied Carstens.

Die Stasi musste selbstverständlich abgeschafft werden, weil Geheimdienste in einer freien Gesellschaft nichts zu suchen haben. Aber wenn die BRD eine Alternative zur DDR sein soll, dann steht insbesondere die Rolle der Geheimdienste in Westdeutschland und ihre Existenz überhaupt in völligen Widerspruch dazu.

Antithese unverblümt ...
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SB: Wie würdest Du die sicherheitsstaatliche Entwicklung beurteilen? Wie verhält sich die Repression, wie sie damals in der DDR herrschte, zur heutigen Praktiken sicherheitsstaatlicher Kontrolle?

KM: Mit den neuen technischen Mitteln findet Überwachung ja nun flächendeckend statt, sie hat auf allen Ebenen einen qualitativen Zuwachs erfahren. Es geht nicht mehr um die in der DDR aufzuklärende Frage, wer Kontakte zu irgendwelchen westlichen Residenten hatte, ob er in eine Botschaft ging und von wem er abgeschöpft wurde etc. Jetzt werden Menschen in ihren sozialen Zusammenhängen komplett überwacht. Das ist ein qualitativer wie quantitativer Zuwachs im Verhältnis zur DDR, auch wenn ein solcher Vergleich, den ich eigentlich gar nicht anstellen möchte, ein wenig hinkt. Für mich stellt sich das, was der Staat macht, einfach als Kontinuität ab. Ob er sich dabei als demokratisch bezeichnet oder die Diktatur des Proletariats oder was auch immer verkörpern will, ist eigentlich nebensächlich.

SB: In diesem Rahmen nimmt die DDR zur Legitimation dieses Staates inzwischen eine ganz wichtige Rolle ein, wie man an den 20-Jahr-Feierlichkeiten sieht.

KM: Ja, sie wird als Antithese zum heutigen Zustand herangezogen. Deswegen holt man im Rahmen dieser Geschichtspolitik immer die IM-Geschichte aus der Mottenkiste, obwohl das überhaupt keine Rolle spielt wie der Staat heute funktioniert, weil es faktisch doch viel wichtiger ist, was der BND im Irak und was die Bundeswehr in Afghanistan machen. Was macht der BND in Zusammenarbeit mit der CIA bei der Folterung von vermeintlichen Terroristen, wieso nimmt die BRD nicht die Schutzfunktion für Menschen wie Khaled el-Masri und Murat Kurnaz wahr? Der eine ist immerhin deutscher Staatsbürger, der andere hat seinen ständigen Aufenthaltsort in Deutschland. Wieso sollte das anders beurteilt werden - das ist für mich nicht einfach eine rhetorische Frage? Je mehr man die schlimme Diktatur verdammt, desto mehr versucht man darzustellen, dass das jetzige System anders wäre, aber das ist es in vielerlei Hinsicht nicht.

SB: Wie beurteilst Du als Rechtswissenschaftler die Entwicklung des Gesinnungsstrafrechts, das dieses Jahr mit den neuen Paragraphen 89a, b und 91 des Strafgesetzbuches erweitert wurde?

KM: Dieses Gesinnungsstrafrecht, als das man es bezeichnen kann, ist teilweise nichts Neues. Versuche, Personen zu kriminalisieren, ohne dass tatsächlich eine strafbare Handlung oder Rechtsgutverletzung vorliegt oder es auch nur zum Versuch einer solchen gekommen ist, gibt es schon sehr lange. Nur wird das jetzt auf politische Sachverhalte angewendet. Ich glaube nicht, dass dieses Gesinnungsstrafrecht wirklich dazu dient, Täter zu überführen, sondern es dient eher zur Kriminalisierung bestimmter Gruppen. Wenn man einen Blick ins Ausland wagt so gibt es aber auch erfolgreiche Gegenmaßnahmen gegen diese transnationalen Tendenzen. So wurden drei Franzosen algerischer Abstammung, die nach Afghanistan gereist sind und in Guantanamo gefoltert wurden, dort auch vom französischen Geheimdienst verhört wurden, vor einigen Monaten frei gesprochen. Ihre Geständnisse waren unter Folter erlangt worden, und sie hatten sich nur dadurch verdächtig gemacht, dass sie nach Afghanistan gefahren sind. Also ähnlich wie der Focus der letzten Strafgesetzbuch-Novelle auf die Kriminalisierung einer rechtsgutsneutralen Handlung (also eine Reise) abzielt. Das neue ist aber, dass man sich jetzt nicht mehr nur verdächtig, sondern strafbar macht, wenn man sich in bestimmte Länder begibt oder mit bestimmten Personen Kontakt, oder Bücher im Regal stehen hat. Man schafft sozusagen eine antizipierte Kontaktschuld die eine preemptive Strafbarkeit begründet. Was also in der militärischen Sicherheitsstrategie der USA und EU längst Usus ist, wird nun ausgeweitet auf Beziehungen zwischen Menschen und nicht nur Staaten. Mit den vielen Datenansammlungen, die man mittlerweile aufgebaut hat, kann man das praktisch beliebig konstruieren.

SB: Könnte man vielleicht sagen, dass mit diesen neue Rechtsnormen, bei denen nicht von einem objektiven Sachverhalt ausgegangen wird, sondern Feindbilder suggeriert werden, erst die Bedrohungen geschaffen werden, über die dann geurteilt wird?

KM: Man könnte es so ausdrücken, dass Feindbilder verrechtlicht werden, indem bestimmte Gruppen als solche eingestuft werden. Da es ja nicht um den Beweis einer strafbaren Handlung, sondern um die Einstellung geht, die als konstitutive Eigenschaft bestimmter Personengruppen konstruiert wird, ist dieser Zirkelschluss das Resultat. Leute werden wegen ihrer vermeintlichen Gesinnung kriminalisiert, weil sie z.B. Krauselhaare haben, somit gefährlich sind, und deshalb das eigene Vorgehen dagegen auch preemptiv als gerechtfertigt ausgegeben wird. Das zeigt sich auch an der Integrationsdebatte in Deutschland wie überhaupt in westlichen Staaten. Ich kann mich erinnern, dass, wenn man in den 80er Jahren in Westberlin von Türken sprach, dies ein Synonym für "Niedriglohnsektor" war. Zugegeben auch eine sehr pejorative Zuschreibung. Irgendwann Mitte der 90iger Jahre wurden plötzlich aus türkischstämmigen Personen Moslems. Diese Verbindung zwischen Türken und Moslems habe ich in Westberlin der 80iger Jahre nie wahrgenommen. Dieser plötzliche Wandel erfolgte auch unter Mitwirkung der Grünen und im Rahmen der Debatte um Multikulturalität. Man postulierte einen Begriff, der inhaltlich nicht ausgefüllt, sondern von konservativen Parteien gesellschaftlich besetzt wurde.

Dadurch wurden bestimmte Gruppen von Verdächtigen geschaffen. Heute reicht es aus, dass jemand in Polen eine Tastatur aus einem arabischen Land anfordert. Man muss sich beim Zoll rechtfertigen, warum man eine arabische Tastatur haben will, weil man damit auf bestimmte Websites gehen und mit dieser Tastatur dort Suchbegriffe eingeben kann. Ich kenne z.B. so einen Fall aus Warschau von einer Studentin der Arabistik. Und das geht immer weiter. Dadurch, dass es diese Konstruktion Araber=Moslem gleich Terrorismus gibt, ist schon das Interesse daran verdächtig und wird beim Zoll abgefragt.

Dementsprechend hat man bei der Integrationsdebatte bestimmte Kategorien von Personen geschaffen, die quasi die Antithese zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung darstellen. So wird eine Gefahr für die Gesellschaft imaginiert, um sich abzugrenzen und scharfe Trennlinien zwischen korrektem und unkorrektem Verhalten ziehen zu können.

SB: Würdest Du zustimmen, wenn man sagt, dass Integration als solche ein Selektionskriterium ist?

KM: Ich glaube, dass Integration überhaupt ein Kampfbegriff ist. Die Integration selbst ist ein Krieg gegen alle, die nicht in bestimmte Kategorien von Leben fallen können, weil sie entweder eine andere Hautfarbe oder eine andere Herkunft haben. Das sieht man auch, wenn man als Ausländer ein Kind in den Kindergarten schickt. Dort gibt es, wie ich bei meinem eigenen Kind erlebt habe, ein Sprachlern-Tagebuch, das angeblich das Erlernen der Sprache fördern soll. Das ist ein Fragebogen, der teilweise in Zusammenarbeit mit den Eltern ausgefüllt werden soll. Teilweise wird aber auch das Kind allein beiseite genommen und über die Familienverhältnisse ausgefragt. Je nach Stadtteil erfahren die Eltern auch gar nichts über diese Befragungen des Kindes. Aber die Fragen betreffen eigentlich nicht die Deutschen, sondern nur die Ausländer. Es geht darum, welche Feste oder Traditionen zu Hause gepflegt werden, welche Sprache die Oma spricht, was niemanden etwas angeht. So werden die Kinder, auch wenn sie wie ihre weißen, christlichen Otto-Normal-Deutschen noch gar keine Sprachen erlernt haben bereits zuvor als Sonderfall kategorisiert, weil sie andere Feste feiern und dem Generalverdacht unterstellt die Deutsche Sprache nicht zu sprechen und integrationsbedürftig zu sein.

Es wird danach gefragt, wie sich der Vater oder die Mutter sozial benimmt, ob es sich um ein Arbeitermilieu oder eine Akademikerfamilie handelt. Alles zielt darauf ab, dass sie als eine bestimmte Klasse stigmatisiert werden. Das ist im Kindergarten so, das wird in der Schule fortgesetzt und auf allen anderen Ebenen auch. In Wirklichkeit gibt es keine Chance, integriert zu werden, weil diese auf ethnischen, rassistischen und sozialen Kategorien aufbaut, die man selbst sowieso nicht verlassen kann. Es ist aber auch ein postmoderner Trugschluss von all den Küchen-Sprachwissenschaftlern, die glauben, dies sei alles nur ein sprachtheoretischer Akt und wenn ich mir ein Rock überziehe, ich kein Mann mehr bin. Wenn jemand zu der Kategorie der zu Integrierenden gehört, dann wird er beständig dazu ermuntert oder gezwungen, sich zu integrieren, was er nicht schaffen kann, weil die strukturellen Voraussetzungen dafür in dieser Gesellschaft gar nicht gegeben sind. So wird er den anderen, dem arbeitenden, christlichen, weißen, männlichen Rollenmodell gegenübergestellt, während die Gesellschaft, die angeblich integriert ist, dazu gebracht wird, zusammenzuhalten und sich von den anderen abzugrenzen.

SB: Wie siehst Du das im Verhältnis zu den hiesigen Subalternen, die bereits ausgegrenzt sind. Geht es da überhaupt noch um Integration? Es wird ja keine Integrationsdebatte mit verelendeten Hartz IV-Empfängern geführt.

KM: Die Integrationsdebatte soll bei ihnen dazu führen, dass sie sich dieser anderen Gruppe zugehörig fühlen. Sie soll sie dazu ermuntern, wirklich zu glauben, dass sie nicht Opfer struktureller Arbeitslosigkeit oder gesellschaftlicher Umstände sind. Stattdessen sollen sie denken, dass alles an ihnen selbst liegt. Sie müssen sich individuell durch tausend Umbildungsmaßnahmen hindurchschlängeln, um irgendwann am Ende das Ziel zu erreichen, Teil dieser Gesellschaft zu sein. Der Nationalismus, glaube ich, spielt auch hier eine Rolle, um sie von den noch schlimmeren Verwerfungen abzugrenzen. Der Hartz IV- Empfänger soll denken, dass er "drin" ist und nicht auf die Idee kommen, sich mit den anderen zu solidarisieren.

Generell scheint man Gesellschaft heute als etwas zu begreifen und zu definieren, das durch den Staat zu schützen ist. Die gute demokratische Gesellschaft muss geschützt werden vor den Bösen. Gleichzeitig ist sie aber selbst Teil der Bedrohung, weil es bestimmte Elemente in ihr gibt, die nach ethnischen, rassischen und religiösen Kategorien kategorisiert werden, die eine Gefahr darstellen für diese gute, freiheitliche, demokratische Gesellschaft.

SB: Meinst Du, dass noch eine Chance für Linke besteht, bei diesen ausgegrenzten Menschen auch in ihrer ganzen inneren Widersprüchlichkeit das Bewusstsein zu erwecken, dass sie sich als gesellschaftliche Gegenkraft begreifen?

KM: Ich glaube, man muss immer das jeweilige Land anschauen. Es gibt kein Konzept für alle Länder, obwohl es grenzüberschreitende Motive und Tendenzen gibt. In Frankreich ist es ganz anders als in Deutschland. In Deutschland müsste die radikale Linke endlich einen Begriff von Arbeit und von Produktionsverhältnissen, von ökonomischen Verhältnissen entwickeln und ihre Beziehung zum Sozialen klären. Bislang definiert sich die radikale Linke in Deutschland, von der ich spreche, sehr über Identitätsfragen - wir sind Lesben, wir sind Schwule, wir setzten uns für MigrantInnen ein, wir kämpfen für die Gleichberechtigung der Frauen. Es sind immer Einzelgruppen ohne eine gemeinsame Perspektive. Meistens werden die Probleme auf der kulturellen Ebene verortet. Dabei wird häufig mit postmodernen Konstruktionen gearbeitet: Es gibt kein Geschlecht, deswegen müssen wir das dekonstruieren. So als wären die Probleme dieser Welt reine Rollenprobleme. Das sind westliche Hirngespinste. Hungernde Menschen hungern nicht deshalb, weil sie in einer Rolle falsch besetzt sind. Gleiches gilt für die Frauen. Bei diesen ganzen Debatten wird nie der Boden der Realität berührt und dies ist hauptsächlich Folge der Trennung zwischen Basis und Überbau, Ökonomie und Kulturellem. Marx Warenanalyse liefert das Instrumentarium die heutige Gesellschaft zu analysieren. Wir müssen verstehen, dass wir es mit einem gesellschaftlichen Organisationsprinzip zu tun haben, dessen Erscheinungsform vernebelt wird. Mit dem Begriff Warenfetischismus wird Ware nicht als Ideologie beschrieben sondern als ein gesellschaftliches Verhältnis, ein Personenverhältnis, der unter einer Charaktermaske versteckt ist.

Wenn man mehr Interesse an dieser Einsicht in der deutschen Linken bewerkstelligen würde, dann wäre das, so glaube ich, ein Ansatz, um auch mit anderen Bevölkerungsgruppen eine gemeinsame Basis zu finden und Widerstand zu leisten. Denn solange Bürger-Kinderchen die sozialen Probleme nur als akademische Diskurse behandeln, tragen sie eher dazu bei über ihre Klassenzugehörigkeit Aufschluss zu geben als über die sozialen Probleme die sie ex cathedra behandeln.

Aber solange alle so atomisiert sind und jede Gruppe ihre eigene Identitätspolitik betreibt, dann tut man gerade so, als ob die ganze Ausgrenzung nur eine Frage der technischen Konstruktion wäre. Sie machen dann das gleiche wie die Hartz IV-Empfänger, denen eingeredet wird, dass die Lösung darin bestände, diese sozialen Konstruktionen in der ständigen Selbstoptimierung aufzubrechen sind. Ich werde die ganze Zeit als männlich und weiß konstruiert. Es solle an mir liegen, diese Konstruktion aufzubrechen, ich kann mir einen Rock anziehen, ich laufe wie eine Frau herum und damit breche ich irgendwelche Konstruktionen auf. Ich glaube, dass es eine westliche Naivität sei, wenn man denkt, dass alles nur eine soziale Konstruktion ist. Denn auch mit einem Rock werde ich bei Dussmann-Kursana nicht so behandelt wie eine Frau in Hose aus Lateinamerika.

SB: Es gibt noch eine Linke, die einen orthodoxen Klassenbegriff verfolgt und das Verständnis für die Produktionsverhältnisse und die damit einhergehenden Widersprüche hochhält.

KM: Es geht mir auch nicht um Orthodoxie. Wenn man schon mit kulturellen Kategorien arbeitet, dann sollte wenigstens auf die Ursprünge der Cultural Studies zurückgegriffen werden und nicht die ausgespuckten akademischen Reimporte französischer Denker von der anderen Seite des Atlantiks nachgeplappert werden. Es gibt weder einen heiligen Gilles noch einen St. Félix, genauso wenig wie eine Heilige Judith oder Chantal. Ich habe den Eindruck, dass manchen die Knie zittern und sie Pudding in der Hose haben, wenn Sie mit Nebelbomben eines Deleuzes werfen.

Ich glaube, dass im Übrigen das in Deutschland das eher eine Minderheit ähnlich sieht. So halten die Gewerkschaften immer noch den Korporationismus hoch. Obwohl sie die ganze Zeit nur zurückweichen und nichts erreichen, ist diese offizielle Linke an der Verfestigung der Hegemonie beteiligt und tut so als gäbe es keinen Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit. Es kann auch nicht darum gehen, dass die Bomben weniger CO2 ausstoßen, womit vermutlich zumindest im Bionade-Biotop Deutschland schon viele taz-LeserInnen zufrieden gestellt werden könnten. Unterhalb dessen gibt es verschiedene radikale Gruppen, doch ich glaube, dass eben diese Radikalen -abgesehen von den eigenen Schwierigkeiten- von Partikularismen der Identitätspolitik zertrennt werden. Die Linke, die den ökonomischen Faktor berücksichtigt, verstehe ich eher als Minderheit. Während des G8-Gipfels oder der aktuellen Gegen-Wende-Feierlichkeiten, wurden immer wieder Versuche unternommen, eine gemeinsame Basis zu finden. Mit etwas Glück lässt sich dieser Impassus durchbrechen. Derzeit scheint oft auch noch der Streit zwischen Antideutschen und Antiimperialisten vieles zu lähmen in der radikalen Linken.

SB: Wie beurteilst Du das in Bezug auf die Orientierung an Identitätspolitiken? So setzen sich die Antideutschen sehr für Israel und die USA ein aufgrund eines letztlich positiven Nationalismus. Der wird zwar geleugnet, indem gesagt wird, dass es sich um keine konventionellen Nationalstaaten handelt, aber es wird natürlich mit bestimmten Identitäten gearbeitet.

KM: Aus polnischer Perspektive kann ich das kaum verstehen. Es scheint etwas spezifisch deutsches zu sein, sich aus der Verantwortung zu stehlen, indem man sich als Freund Israels darstellt, für die dort begangenen Kriegsverbrechen blind ist und denkt, dass man damit den deutschen Faschismus verhindert. Paradoxerweise führt das ständige unterstreichen der Singularität des Holocausts dazu, dass man nicht in der Lage ist sich mit der Aktualität des Faschismus auseinanderzusetzen. Ich glaube, die Leute haben nicht verstanden, was der Faschismus war und das er spezifisch mit der Entwicklung des Kapitalismus zusammenhängt und somit dieser auch in einer Beziehung zu dem Völkermord an den europäischen Juden steht. Mit den Identitätspolitiken hängt das insofern zusammen, als dass die Antideutschen den Fehler machen zu glauben, dass völkische Politik heute ein konstitutives und integrierendes Element der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft wäre, was nicht der Fall ist. Die BRD ist ein Staat, der die ganze Zeit Kriegsverbrechen begeht, aber es ist immer noch kein faschistischer Staat. Das gleiche gilt für Polen. Auch wenn Teile der Regierung unter Kaczynski wie z.B. der Vizepremierminister Giertych neofaschistisch waren, war es immer noch kein faschistischer Staat im eigentlichen Sinn. Ebenso wenig konstituiert sich diese Gesellschaft dadurch, dass sie -plump gesagt- etwas gegen Lesben und Schwule hat. Es ist ein Trugschluss, wenn man versucht, isoliert, aus diesen Kämpfen eine allgemeine These für die Integration der kapitalistischen Gesellschaft Deutschland abzuleiten. Diese Kämpfe tragen ihren Teil zu einer gemeinsamen Auseinadersetzung gegen das System bei, aber es ist ein Fehler zu glauben, dass allein soziokulturelle Elemente konstitutiv für diese Gesellschaft als solche sind. Erst ihre Kondensierung in dem System macht es. So kann das Geschlecht nicht auf ein soziokulturelles Phänomen reduziert werden. Die schweizerische Philosophin Tove Soiland hat richtigerweise auf das Paradox hingewiesen, dass die Gender Studies das Feld der harten Fakten den Männern überlassen und sich nur Überbau-Phänomenen widmen, also der Ideologie und Kultur anstatt die Strukturen dieser Gesellschaft aufzudecken.

SB: Du würdest es als unvollständig bezeichnen?

KM: Ja. Mittlerweile wird man bei jedem Einstellungsgespräch nach Gender-Mainstreaming und danach, was für ein Verhältnis man zu Gender hat, gefragt. Spätestens da hätte man merken müssen, dass das Theater ist und Gender-Mainstreaming heute offizieller Teil der EU-Politik und aller Politiken ist. Ich meine was soll man in einem Vorstellungsgespräch denn anderes sagen, man will ja den Job. Man hat es versäumt wahrzunehmen, dass Frauen längst kapitalisiert wurden, dass sie längst in den Verwertungsprozess integriert sind. Die neue Form der politischen Herrschaft besteht heute gerade darin die Subalternen vermittels ihrer Individualität in die Machtausübung selbst einzubinden. Es ist nicht so, dass es kein Geschlechterregime des Neoliberalismus gibt. Im Gegenteil. Aber, wenn man sich von den akademischen Intelligenz-Feierwerken verabschiedet, dann sieht man eine andere Welt der Geschlechter. Heute geht es vielmehr darum die gesellschaftlichen Konflikte dieses Systems, also die Widersprüche zwischen den Anforderungen wirtschaftlicher Produktion und der sozialen Reproduktion auf die Ebene individueller Beziehungen zu verschieben und ihren Ursprung zu verschleiern. Mit der Kapitalisierung der unbezahlten Hausfrauenarbeit, die zu Marx Zeiten noch der Reproduktion der Arbeitskraft des Mannes diente wird deutlich, dass auch die Produktionsverhältnisse sich gewandelt haben. Das Kapital saugt immer neue noch nicht kapitalisierte Bereiche in seine Verwertungsmaschienerie ein. Doch was passiert wenn grade solche Bereiche kapitalisiert werden, die sich nur schwer rationalisieren lassen, wie Krankenhäuser, Altenpflegeeinrichtungen, die gesamte Care-Ökonomie? In diesem Sinne braucht das System heute eben keine normativen Geschlechterstereotypen mehr, sondern will diese modernisieren. Wir sollten Fragen: wenn die bundesdeutsche Hausfrau nun auch gezwungen ist auch auf dem offiziellen Arbeitsmarkt zu arbeiten, wer übernimmt ihre bisherigen Funktionen? Ausgrenzung findet nicht nur statt, weil es sich um Frauen handelt, es müssten konkrete Fragen über die nach weiblicher Lohndiskriminierung gestellt werden. Wieso können sich deutsche Frauen ihr Berufsleben dadurch erkaufen, dass Frauen in Polen, Rumänien oder der Ukraine ihre Kinder allein lassen und hier als Au-Pair, als Putzhilfe, als Haushaltshilfe arbeiten? Auch diese Kämpfe sind wichtig, und sie werden von wenigen Leuten in ihre Überlegungen einbezogen. So werden Kinder in Polen teilweise durch Großmutter und Großvater erzogen, weil ihre Eltern in anderen Ländern arbeiten, um Geld schicken zu können. So wird hierzulande Emanzipation und ein besserer Lebensstandard auch dadurch erkauft, dass Frauen in anderen Ländern dafür zahlen müssen mit ihrer Emanzipation.

Diesen Zusammenhang vermisse ich oft bei den Debatten um die Emanzipation der Frauen in Westeuropa. Polen ist ein typischer Fall von abhängigem Kapitalismus, dort wird das auf jeder Ebene sichtbar. Auch in anderem Kontext. Nehmen wir z.B. FagorMastercook, ein im Herkunftsland Baskenland genossenschaftlich organisierter Betrieb, der Gasheizungen herstellt. Während es sich im Baskenland um einen vorbildlichen Betrieb mit Mitbestimmungsrechten für alle Arbeiter handelt, gilt er in Polen als einer der arbeiterfeindlichsten Betriebe der Betriebsratsgründungen nicht zulässt. Als Streiks angekündigt wurden, wurden die Mitarbeiter nur durch einen Metalldetektor auf das Betriebsgelände von mit Pumpguns ausgestatteten Security-Marsmenschen gelassen. Hier sieht man die Unterschiede in der Struktur.

Der hiesige Klassenkompromiss, der nach wie vor bestimmte soziale Errungenschaften beinhaltet, basiert darauf, dass Afrika oder Lateinamerika oder eben die europäische Peripherie dafür bezahlen müssen. Ich will aus Polen kein kleines, armes Opfer machen. Polen hat gerade seine verbrecherische Funktion in der Sicherheitspolitik gezeigt. Aber auch in der Ausbeutung z.B. der Ukrainer und Weißrussen, die die Jobs übernehmen müssen, für all jene Polen die zu Hunderten von Tausend nach England, Skandinavien und sonst wo in den Westen arbeitsuchend emigriert sind.

Sackgasse ...
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SB: Der kanadische Rechtswissenschaftler Michael Mandel konterkariert den von vielen humanitären NGOs wie etwa Amnesty international erhobenen Anspruch, in der internationalen Politik die Kultur der Straflosigkeit zu beenden, dadurch, dass er von einer Entwicklung hin zu einer "selektiven Straffreiheit" spricht. Beispiele dafür finden sich in der einseitigen Strafverfolgung von Politikern und Militärs der Länder des Südens bei gleichzeitiger Schonung der für Angriffskriege verantwortlichen Führer der Länder des Nordens. Ist die juristische Menschenrechtsarbeit angesichts konkreter gesellschaftlicher Widersprüchen und Gewaltverhältnisse überhaupt in der Lage, diese konstitutiven Faktoren zu beheben und zu überwinden, oder handelt es sich letztlich doch wieder um ein Regulativ herrschender Verhältnisse?

KM: Es gibt die Ansicht, die man argumentativ auch vertreten könnte, dass die Menschenrechtsvereine in Westeuropa auch Teil des Problems sind. Ich selbst war am Aufbau von Amnesty International und anderen "zivilgesellschaftlichen" Strukturen in Polen der 90er Jahre beteiligt. Aber die Enge des Mandates dieser westlichen NGOs führte schnell dazu, dass ich andere Organisationen wie "Vindice Nullo" als Ersatz dafür aufbaute. Anfang der 90er machten wir an manchen Tagen am Morgen Aktionen gegen Tierquälerei vor einem Zirkus, am Mittag als Amnesty International gegen das Urteil gegen Ken Saro Wiwa und am Abend eine Antifa-Demo gegen die Nazis. Durch die Schock-Therapie wurde die Zivilgesellschaft in Polen zerschlagen. Es waren die gleichen Leute in unterschiedlichen Funktionen die verschiedene Themen ansprechen mussten. Es ging um uns im Kontext der Welt. Wir brauchten damals kein Geld um aktiv zu sein. Es waren die Reste einer kritischen Öffentlichkeit, die dann durch EU-Förderprogramme auf "Projekte" umgesattelt hatte und den Bezug zur Realität verloren hatte. Die Menschen wurden an Universitäten oder westlich geprägten NGOs aufgesogen. Eine eigene Perspektive wurde kaum entwickelt.

Die Ökonomie der humanitären Menschenrechtsarbeit hierzulande lebt dagegen von den Problemen, die irgendwo in der Welt existieren aber auch dorthin projiziert werden. Von dem Geld, das hierzulande gespendet wird, werden vor allem deutsche Firmen oder anderswo USAID in Amerika unterhalten. Das geht bis dahin, dass man auch mal eine Hungerkatastrophe ausrufen kann, wo keine ist, nur um überschüssigen Mais nach Afrika zu schicken. Wie ein Fall vor ein paar Jahren gezeigt hat, wird das selbst in Ländern getan, deren Bevölkerung überhaupt kein Maisbrot herstellt. Hinzu kommt, dass die Lebensmittel häufig gentechnisch manipuliert sind und die lokalen Märkte zerstören. Mit Kopftuchdebatten und der vermeintlichen Einforderung der Einhaltung von Menschenrechtsstandards werden auch Angriffskriege legitimiert.

Im juristischen Bereich ist es teilweise ähnlich. Indem man sich rechtlicher Instrumente innerhalb eines bestimmten Systems bedient wird dieses und die strukturelle Macht die es gegenüber anderen ausübt quasi affirmiert. Das deutsche Grundgesetz ist ein gutes Beispiel dafür, dass die wichtigsten Grundrechte tatsächlich Deutschenrechte sind. Ein Ausländer hat nicht das Grundrecht, sich gewerkschaftlich zu organisieren, zu versammeln oder frei zu bewegen. Es gibt zehn Millionen Menschen in Deutschland, die als Ausländer nicht wählen dürfen, obwohl sie hier Mitbürger sind und ihre Steuern zahlen.

Wenn man nur auf der rechtlichen Ebene argumentiert, dann bekämpft man zwar zum Teil die Folgen, aber nicht die Ursachen. Das sieht man auch in der Asylpolitik. Wenn Menschenrechtsvereine kritisieren, dass Flüchtlinge im Mittelmeer umkommen und die Menschenrechtssituation untragbar ist, dann müsste man sich fragen, welche Rolle diese Menschenrechte bei dem großen Asylkompromiss in den 90iger Jahren, als das Grundrecht auf Asyl ausgehebelt wurde, spielten? Wenn schon, dann müsste man das Recht progressiv anwenden und sich von den Bestimmungen, die im Grundgesetz oder in internationalen Normen vorgegeben sind, zu lösen. Recht muss progressiv als Instrument zur Veränderung sozialer Verhältnisse eingesetzt werden, so wie es die US-amerikanische Bürgerbewegung in den 60er Jahren gegen die Rassengesetzte der USA benutzte und heute auch noch nutzt. Man müsste versuchen, quasi de lege ferenda ("Vom Standpunkt des zukünftigen Rechts aus") neue Normen zu schaffen, bestehende Normen neu zu interpretieren und so in Bereichen Anspruchsvoraussetzungen für Menschenrechte zu schaffen, in denen aus der Perspektive des bürgerlichen Rechtsstaates es gar keine Ansprüche geben sollte. Man kann die Asylpolitik und den Tod von Flüchtlingen im Mittelmeer kritisieren, aber wenn man nicht von Anfang an die Struktur der Europäischen Union in Frage stellt, in der ein gemeinsamer Binnenmarkt im Widerspruch zu offenen Grenzen steht, oder die Diskriminierung der Freizügigkeit von Nicht-Deutschen im Grundgesetz dann funktioniert das nicht.

SB: Gibt es in den heutigen Rechtswissenschaften kritische Juristen, die so etwas grundlegender sehen, oder herrscht eine rechtsimmanente Sichtweise vor?

KM: Ich würde sagen, dass letzteres vorherrscht, aber es gibt punktuell Versuche, neue Zugänge zu finden wie etwa die Critical Legal Studies oder die Feministische Rechtstheorie. Leider erwecken diese Versuche häufig den Anschein eines rein akademischen Diskurses zwischen Underdogs und Etablierten. Mein Misstrauen liegt darin, dass wenn man aus den sozialen Bewegungen kommt, die akademischen Debatten zwischen alma mater und vermeintlichen radikalen HäretikerInnen oft den Beigeschmack haben lediglich eine interne Reformation des Wissenschaftsbetriebes zu verfolgen, jedoch nicht das Soziale außerhalb der Universität verändern zu wollen. Oft vermisse ich bei diesen juristischen Diskursen und Debatten den Rückbezug auf eben diese sozialen Verhältnisse. Zwar wird oft in den Auseinadersetzungen auf Kritiken außerhalb des universitären Feldes zurückgegriffen und teilweise eine Affinität zu sozialen Bewegungen postuliert aber ich habe das Gefühl, dass dies nur solange funktioniert als man sich als Stellvertreter von Unterdrückten (miss)versteht. Ich bin mir sicher, dass wenn die Subalternen ihre Sprache wieder-erlangen, diese "progressiven Intellektuellen" sehr schnell die Fronten wechseln werden, weil sie dann nicht mehr reden, sondern zuhören müssen. Gender Studies sind der prägnanteste Beispiel dafür. Aber es wird beispielsweise auch seit ewig darüber diskutiert, dass der Menschenhandel abgeschafft werden muss, zugleich ignoriert man Voraussetzungen dafür, dass Menschen in einer modernen Gesellschaft gekauft werden können, ob es jetzt Kinder oder Frauen zur sexuellen Befriedigung sind. Obwohl man seit Jahrzehnten darüber spricht, ist die Debatte über Menschenhandel dadurch keinen Schritt vorangekommen. Das einzige, was sie belebt hat, ist die Verrechtlichung im internationalen Bereich und eine Debatte über die neuen Instrumente, die man geschafften hat, um die sogenannte organisierte Kriminalität zu bekämpfen.

In der historischen Perspektive stößt man dabei auf merkwürdige Paradoxien. So sahen es viele rechte CDU-Mitglieder in ihren Jugendjahren als ihre Pflicht an, in Westberlin sogenannte Fluchthilfe für die armen Zonenbewohner zu betreiben, die der Diktatur entfliehen wollten. Heute schaffen sie Gesetze, mit denen Leute dafür kriminalisiert werden und, wie in Frankreich, mit harten Strafen rechnen müssen, weil sie Flüchtlinge bei sich unterbringen. Dementsprechend werden hierzulande Schlepper der organisierten Kriminalität zugeschlagen wohingegen vor 20 Jahren sie noch als Freiheitskämpfer tituliert werden durften. Nun sind sie die Bösen. Und wer sind dann die Guten? Die Kriegsschiffe von FRONTEX, die im Mittelmeer die Rettungsringe nur deswegen herunterwerfen oder die kleinen Boote voller Leute rammen, um sie aufs Festland nach Afrika zurückzubringen? In der juristischen Debatte stört mich, dass wirklich nur über die Legalität oder Illegalität solcher Maßnahmen debattiert wird. Man hält sich zu sehr an rechtspositivistischen Normen fest.

SB: Im Rahmen Deiner Arbeit am Zentrum für Europäische Rechtspolitik (ZERP) der Universität Bremen untersuchst Du unter anderem innerstaatliche Legitimationsdiskurse. Wie würdest Du das in Bezug auf die Rechtswissenschaften beurteilen? Inwiefern besteht innerhalb der Wissenschaft die Möglichkeit, konstitutive Faktoren wie z.B. die Produktionsverhältnisse kritisch zu reflektieren, wenn der einzelne Jurist und Wissenschaftler in seiner persönlichen Existenz an diese Strukturen gebunden ist?

KM: Natürlich ist die Juristerei ohnehin ein konservatives Unterfangen, aber es gibt Versuche, interdisziplinär zu arbeiten. In Deutschland ist dies besonders prekär. Vergessen wir nicht, auch ich musste z.B. Schuldrecht aus einem Lehrbuch lernen das von einem "Wissenschaftler" geschrieben wurde, dessen erste Auflage bereits 1936 entstand und der damals von "Volksgenossen" und "deutschem Blut" fabulierte. Ich spreche hier von Karl Larenz. Sein Schüler Roman Herzog war dann, derjenige Bundesverfassungsgerichtspräsident, der während der Wiedervereinigung 1990 in seinem Urteil die ständige Rechtsprechung des Gerichts bestätigte, wonach das Deutsche Reich 1945 nicht untergegangen sei, großzügigerweise aber eine Wiedervereinigung sich nicht auf die Grenzen vom 31. Dezember 1937 beziehen müsse. Als Jurist musste ich mir im Öffentlichen Recht auch den Standardwerk-Kommentar zum Grundgesetz von Theodor Maunz reinziehen, der einige Jahrzehnte zuvor das neue Normenschöpfungsverfahren unter Hitler feierte "seitdem an die Stelle des alten Gesetzes der Wille des Führers getreten ist". Dies allein legt Zeugnis über die rechtswissenschaftliche Ausbildung in Deutschland ab. Aber die Begrenzung der Fachdisziplin Jura kann z.B. mit empirischer Sozialforschung überschritten werden und anhand der rechtlichen Normen, laut denen z.B. Streitkräfte nur zur Verteidigung dienen, die Entscheidung über Auslandseinsätze untersucht werden. Wenn man die Norm richtig anwendet, gelangt man ja nur zu dem Schluss, dass es kein Verteidigungsfall war. Das Verbot wurde ignoriert, und dann ist der Jurist eigentlich am Ende. Es wurde gemacht, aber eigentlich ist es illegal. Komischerweise klagen nur NGOs, das Gericht urteilt unter Inanspruchnahme von Geheimakten der Geheimdienste, dass es eben doch ein Verteidigungsfall war. Vielleicht führt man Raketen im Irak an, die Deutschland zwar nicht erreichen können, aber vielleicht einen Verbündeten, mit dem wir auch keinen Beistandspakt haben, der aber trotzdem Opfer dieser Raketen hätte werden können. Nun stellt sich die Frage, wie man Verteidigungspolitik interpretiert.

Ich versuche, mit empirischer Sozialforschung zu untersuchen, wie eine nach der Rechtsnorm illegale Kriegführung trotzdem möglich wird. Dafür muss man erarbeiten, was der entscheidende politische Moment bei der Anwendung des Rechts ist. Es gibt ja keine Norm, die für jede in Frage kommende soziale Tatsache einmal beschrieben wurde, sondern die Normen müssen in verschiedenen historischen Perioden anwendbar sein. Dabei ergibt sich das Problem, dass jemand Skrupel gegen die praktische Politik geltend machen könnte. Der Jurist steht dann vor der Herausforderung, die dabei durchgesetzte Staatsräson nachzuweisen. Das kann man durch die Analyse der Ideologie erreichen, die in bestimmten staatlichen Apparaten wie dem Verteidigungsministerium oder dem Generalstab vorherrscht. Man fragt dort, wonach sich die Verantwortlichen richten, und kann das vielleicht rekonstruieren. Das wäre die eine Methode.

Man könnte auf die Makroebene gehen und fragen, was mit einem Land wie Polen geschehen ist, das dem Ostblock angehörte und plötzlich einer der glühendsten Verfechter der US-amerikanischen Sicherheitspolitik in Europa und in der Welt geworden ist. Wieso hat Polen eine eigene Besatzungszone im Irak, wenn 59 Prozent der eigenen Bevölkerung unter dem Sozialminimum leben? Wie kann das sein, dass ein Land den Irak besetzt, dessen eigene, militärische Stärke unbedeutend ist? Auf der Makroebene könnte man antworten, dass Polen sich schon den transnationalen Institutionen als realsozialistischer Staat geöffnet hat. So hat die Nomenklatura versucht, die Preise anzuheben, wobei sie immer wieder auf den Widerstand der Solidarnosc stieß, so 1970, 1976. Die Kommunisten versuchten, das Land im Sinne einer Angleichung an die Verhältnisse im Ausland zu reformieren, weil sie Kredite brauchten. Sie haben sich geöffnet für die Ideen der transnationalen Organisationen wie Weltbank, IWF, BIZ, OECD usw. Zwar haben die Kommunisten versucht, die Entwicklung unter Kontrolle zu behalten, aber sie haben mit der Öffnung erst einmal zugelassen, dass sich bestimmte Prozesse verselbständigten. Ich glaube, dass das auch eine Möglichkeit ist zu erklären, warum Polen dann plötzlich eine neue Verfassung bekommen hat, anhand welche die Veränderung der Normen und ihrer Interpretation, die vor allem nach Maßgabe der Ideologie des Neoliberalismus erfolgte, Ende der 80iger Jahre erklärt werden kann. Und auf dieser Basis die neugeschaffenen Institutionen wie das Büro der Nationalen Sicherheit (BBN) ähnliche Funktionen übernommen haben wie die US-amerikanischen Sicherheitsberater gegenüber ihrem Präsidenten.

SB: Nun müsste ein Menschenrechtler, dessen Selbstverständnis auf festen Gewissheiten wie z.B. dem universellen Recht gründet, im Grunde genommen ständig dieser Drift der Normen entgegentreten, weil er sich nicht einmal auf die Grundlagen seines Handelns verlassen kann.

KM: Das Problem ist größtenteils auch ein methodologisches. Die Ausbildung, die wir als Juristen bekommen, ist sehr normbezogen, sehr positivistisch. Wir haben eine Norm, wer will was von wem woraus? Hat er den Anspruch, hat er ihn nicht?

Wir werden ja nicht dafür ausgebildet, interdisziplinär zu denken. Auch als Menschenrechtler muss man sich das alles selber aneignen. Wer in diesem rechtspositivistischen Rahmen bleibt und entscheidet, ob etwas rechtswidrig oder nicht ist, unterliegt schon der Begrenzung des Faches. Wer keine Impulse erhält und nicht bereit ist, das von sich aus zu überschreiten, wird dabei nicht weiterkommen. Im Wissenschaftsbetrieb gibt es wenige Momente, in denen man das Bewusstsein für einen Schritt über diese Grenzen hinaus entwickeln könnte, weil man als Jurist ohnehin schon zur besseren Kaste gehört. Man kommt ja nicht von selbst auf die Idee, eine kritische Einstellung gegenüber einem System zu entwickeln, dass einem die Privilegien einer Art Elite verschafft hat. Auch Juristen haben ein Klassenbewusstsein. Natürlich gibt es Kämpfe zwischen den Underdogs und den Etablierten, aber dabei handelt es sich eher um Palastrevolten um so die Produktion immer neuer Angestellter durch Zuweisung neuer Forschungsfelder zu bewältigen. Faktisch wird das System nicht im Sinne von Marcuses "Der eindimensionale Mensch" in Frage gestellt, sondern es finden innere Reformen- oder Modernisierungsprozesse statt, die eine Infragestellung des Systems und seiner Normen nicht ermöglichen.

Ich glaube aber, dass man sich vor dem Gedanken hüten muss, dass es eine leichte Übersetzung zwischen der ökonomischen Basis und den Rechtsnormen, wie es gerade in den realsozialistischen Ländern gepredigt wurde, gibt. Ich halte das für viel komplizierter, zudem dabei auch die Kultur eine Rolle spielt. Ich bin der Ansicht, dass man sich in seiner Arbeit auf Philosophen oder Soziologen berufen sollte, die einen Sinn für soziale Verhältnisse hatten und diese nicht einfach als Konstruktionen abtaten. Heute herrscht, auch wenn man sich auf Gramsci beruft, die Tendenz vor, es sich leicht zu machen, indem man das Ökonomische außer Acht lässt und sich nur auf der sozio-kulturellen Ebene bewegt. Das gilt auch für Foucault und die Strukturalisten und Konstruktivisten, bei denen man in Europa paradoxerweise häufig nicht mehr die Originale benutzt, sondern sich auf Interpretationen bezieht, die über die USA reimportiert werden.

SB: Was sagst Du in diesem Zusammenhang zu Giorgio Agamben. Er gehört zu den Poststrukturalisten, hat aber als politischer Philosoph einiges zum Thema Ausnahmezustand und staatliche Ermächtigung gesagt?

KM: Ich bin kein Philosoph und auch kein Spezialist für Agamben, aber was ich interessant finden würde, ist eine kritische Aufarbeitung der Ideengeschichte bestimmter Kategorien des Rechts, wie er sie betreibt. Das ergibt auch einen Mehrwert, aber wenn man dabei stehenbleibt und nicht auch ein paar harte ökonomische Fakten heranzieht, dann ist das zu wenig. Man kann z.B. sehr gut anhand von Tocqueville und der Entstehung der bürgerlichen Demokratie nach der französischen Revolution zeigen, dass von Anfang an eine scharfe Ausgrenzung der Indianer in den USA und der Kolonien in Frankreich stattfand. In Deutschland gab es ja keine Revolution, da wurden die Reformen, die zum bürgerlichen Staat führten, immer von oben verordnet. Man kann bei der Entwicklung der Ideen zur Demokratie, bezüglich der Gleichberechtigung fragen, wer eigentlich damit gemeint war? Waren auch die Indianer gemeint, waren die Algerier gemeint? Noch in den 30iger Jahren des XX Jh. wurde in Frankreich ein Gesetz verabschiedet, dass die arabische Sprache in Algerien verboten hat, weil Algerien ja ein Teil von Frankreich war. Mit einer solchen Geschichte der Ideen könnte man auch gut zeigen, dass die rechtlichen Kategorien, die wir heute benutzen, nicht das sind, was sie zu sein scheinen.

SB: Dieses Interesse an der politischen und der historischen Dimension der Rechtsentwicklung unterscheidet sich doch sehr von der Praxis der Verrechtlichung, die heute in allen möglichen Lebensbereichen auf einen vordergründigen Legalismus hinausläuft, mit dem die Menschen zur ständigen Rechtfertigung ihres eigenen Tuns genötigt werden.

KM: Die Frage ist, inwiefern man in diesem akademischen Betrieb mit derartigen Ideen überhaupt Fuß fassen kann oder ob sie nicht die komplette Methodik so sehr in Frage stellen, dass man faktisch keine Anschlussfähigkeit zu ihnen herstellen kann.

SB: Kamil Majchrzak, vielen Dank für dieses lange Gespräch.

Regierungsplatz und Menschenmal ...
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9. Dezember 2009