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INTERVIEW/041: Rasaq Qadirie gibt Einblicke in Wiederaufbau und Landwirtschaft Afghanistans (SB)


Interview am 14. Juli 2010 im Hamburger Schanzenviertel


Anläßlich eines Vortrags über Wiederaufbau und Landwirtschaft in Afghanistan, den der Geologe und Agrarexperte Rasaq Qadirie am 14. Juli in Hamburg hielt, hatte der Schattenblick Gelegenheit, ein ausführliches Interview mit dem Referenten zu führen. In einem Restaurant im Schanzenviertel gab uns Herr Qadirie aufschlußreiche Einblicke.

SB-Redakteur mit Rasaq Qadirie unter einem roten Baldachin

SB-Redakteur mit Rasaq Qadirie unter einem roten Baldachin

Schattenblick: Herr Qadirie, wie lange leben Sie in Deutschland und wie sind Sie überhaupt hierher gekommen bzw. können Sie uns etwas von den frühen Jahren Ihres Lebens erzählen?

Rasaq Qadirie: Ich komme ursprünglich aus einer Arbeiterklassenfamilie in Kabul, allerdings hat mein Vater, der Handwerker war, sehr viel Wert auf Gesundheit und gute Nahrung gelegt. Normalerweise wäre ich an einer der regulären Schulen in Afghanistan eingeschult worden, in denen Englisch als Fremdsprache gelehrt wird. Es gab damals - und sie gibt es heute noch - in Kabul zwei Schulen, eine französische und eine deutsche, wo im Grunde genommen versucht wird, die Kultur und Sprache Frankreichs respektive Deutschlands in Afghanistan zu verbreiten.

Ich bin sechs Jahre zur Grundschule gegangen, aber 1972, als ich mein Zeugnis holte und weiter normal in der siebte Klasse kommen sollte, passierte folgendes: Der Rektor der deutschen Schule, ein Afghane, hat mich auf Empfehlung eines deutschen Lehrers und eines deutschen Rektors, die als Entwicklungshelfer in Kabul tätig waren und afghanische Kinder suchten, die gute Noten haben, dort eingeschrieben. In dem Alter und bei den Bedingungen behaupten zu wollen, wer schlauer oder wer klüger ist, ist natürlich Quatsch; da können viele Aspekte eine Rolle spielen. Jedenfalls wollten sie mich haben, denn ich hatte sehr gute Noten und war auch noch sehr jung, denn ich hatte ein Jahr übersprungen.

SB: Sie waren damals wie alt?

RQ: Mit fünfeinhalb Jahren bin ich eingeschult worden, aber ich war elfeinhalb Jahre alt, als ich in die deutsche Schule kam. Die haben mich automatisch eingeschrieben, nicht nur weil ich gute Noten hatte, sondern auch weil die jeweils Verantwortlichen diese deutsche und französische Schule nicht voll bekamen, die eigentlich für Kinder aus wohlhabenden Familien gedacht waren, deren Väter Politiker oder Geschäftsleute waren. Ich wußte nicht, warum ich in diese Schule gehen sollte, denn es bedeutete, daß ich jeden Tag von einer Ecke Kabuls sechs Kilometer zu Fuß gehen mußte. Morgens habe ich ein Stück Brot und maximal ein bißchen Zucker und eine Tasse Tee bekommen und mußte dann sechs Kilometer laufen, um pünktlich in die Schule zu kommen. Ich habe mich damals zwar artikuliert und dieses Argument vorgebracht, aber es nahm keiner Notiz davon.

Ich habe ganz schnell verstanden, daß ich es an der Schule sehr schwer haben würde, denn die anderen Kinder waren viel wohlhabender als ich. Meine Mitschüler wußten schon damals, was eine Kopiermaschine ist oder was T-Shirts sind. Für mich waren das zunächst Fremdwörter. Inzwischen war mein Vater schon gestorben und meine Mutter Witwe geworden. Meine Klamotten waren nicht besonders gut; ich hatte nur das eine Paar Schuhe für neun Monate Schule. Sogar meine Schulhefte habe ich sozusagen aufteilen müssen. Wenn ein Heft z.B. von links nach rechts beschrieben war, habe ich es einfach umgedreht und die andere Seite noch einmal von links nach rechts beschrieben und in der Mitte hoffte ich, daß das Jahr zu Ende sein würde, weil ich kein Geld mehr hatte. In den Pausen habe ich mich verstecken müssen, weil ich mir die westlichen Sachen wie Kartoffelchips, welche die reichen Kinder aßen, nicht leisten konnte und nicht wollte, daß sie mir etwas davon schenkten oder dabei auf mich hinunterschauten. Das ließ mein Stolz nicht zu. Aber in der Schule habe ich sehr viel getan. Ich habe auch das Goethe-Institut besucht und nachmittags, nach der Schule, bin ich wieder die sechs Kilometer zu Fuß nach Hause gegangen. Daheim gab es meistens etwas Suppe, d.h. heißes Wasser mit Salz und Kartoffeln. Nachdem ich sie gegessen hatte, setzte ich mich an meinen Schreibtisch und machte meine Hausaufgaben. Dadurch, daß ich sehr hart für die Schule gearbeitet habe, war ich immer Erster, Zweiter oder zumindest Dritter in der Klasse.

Am Ende des zwölften und damit letzten Schuljahres bestand für die besten sechs oder neun Abiturienten die Chance, ein Stipendium für ein Studium in Deutschland zu bekommen. Das Problem war allerdings, daß es nach dem Putsch in Kabul und dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Afghanistan im Jahre 1979 eine andere Frage war, in den Westen zu gehen. Innerhalb von nur einem Jahr hatten wir an der Staatsspitze Noor Taraki, danach Afizullah Amin und nach ihm Babrak Karmal. Das waren die Anführer der beiden Flügel der sogenannten Kommunistischen Partei. Obwohl ich beim Abitur unter den ersten Sechs in der zwölften Klasse war, haben einige der reichen Kinder mit Einfluß mehrmals dafür gesorgt, daß ich von der Liste der möglichen Stipendiaten gestrichen wurde und deshalb nochmal geprüft werden mußte. Zum Glück hat ein Mann aus der Minderheit der Hazara, der politisch sehr aktiv war und mit mir zur Schule ging, sich für mich eingesetzt und darauf aufmerksam gemacht, daß ich meinen Noten zufolge das Recht auf ein Stipendium hatte. Dank der Hilfe dieses Hazara, mit dem ich seither befreundet war, durfte ich nach Deutschland reisen.

SB-Redakteur und Rasaq Qadirie

SB-Redakteur und Rasaq Qadirie

SB: Und zu welcher Volksgruppe gehören Sie?

RQ: Ich bin Tadschike und ich komme eigentlich aus Kabul.

So kam ich im Februar 1980 aufgrund eines Stipendiums der Carl-Duisberg-Gesellschaft, die angehende Fach- und Führungskräfte aus sogenannten Entwicklungsländern betreut, nach Deutschland. Kurz nach der Ankunft teilte man uns mit, daß unser Land Technik braucht und wir deshalb Elektrotechnik studieren müßten. Ich hatte aber überhaupt keinen Bezug zu Elektrotechnik. Das einzige, wofür ich mich interessierte, waren Argrarwissenschaft und Fragen der Landwirtschaft. Das kam daher, daß meine Familie auf dem Grundstück, auf dem unser kleines Häuschen stand, immer Tomaten, Auberginen, Zucchinis, Kürbisse zwecks Selbstversorgung angebaut hatte. Ich mußte regelmäßig Wasser aus einem 20 bis 22 Meter tiefen Brunnen mit einem Eimer Wasser holen und die Pflanzen bewässern.

Brunnen, Provinz Takhar, 2006 © Rasaq Qadirie

Brunnen, Provinz Takhar, 2006
© Rasaq Qadirie

SB: Welchen Beruf hatte Ihr Vater?

RQ: Er war Tischler und auch Zimmermann. Er war ein kräftiger Mann und ein sehr harter Arbeiter. Jedenfalls nach der Ankunft in Deutschland war ich total bestürzt und unglücklich darüber, daß ich Elektrotechnik studieren sollte. Als ich meine Ablehnung bezüglich dieser Entscheidung artikulierte, haben sie zu mir gesagt, mein Land bräuchte aber Technik. Das war 1980.

SB: Mit welchem Ziel sind Sie ursprünglich nach Deutschland gekommen? Was wollten Sie hier studieren?

RQ: Ich wollte Biologie, Geowissenschaft oder mindestens etwas studieren, das mit Naturwissenschaft zu tun hat. Wir dachten, wir könnten es uns selber aussuchen, weil wir so hart an der deutschen Schule in Kabul gearbeitet hatten. Dort wurden ab der zehnten Klasse alle sieben Prüfungsfächer allein auf Deutsch unterrichtet. Für die Schüler war das hart, denn zu Hause haben alle meistens Dari oder Pashtu oder eine andere Sprache, die zu ihrem Stamm gehörte, gesprochen. Insgesamt war die Bildung an dieser Schule gut, aber einige wenige deutsche Lehrer verhielten sich wie echte Straftäter. Sie haben Stühle nach uns geworfen und uns Schweine genannt. Sie haben manchmal ihre Füße auf den Tisch gelegt und uns beleidigt. Wir waren einfach klein und konnten uns nicht dagegen wehren.

Obwohl ich eigentlich etwas anderes machen wollte, habe ich zunächst in der Frage der Elektrotechnik einlenken müssen, weil es hieß, wenn ich nicht akzeptiere, würde ich aus dem Stipendiumprogramm geworfen werden und müßte wieder nach Hause. Und zu der Zeit tobte in Afghanistan der Krieg. Also habe in ungefähr zwei Jahren mit Ach und Krach irgendwelche Scheine gemacht, bis ich endlich einmal nach rechts und links gucken konnte.

SB: Wo war das?

RQ: Das war in Kiel. Dann habe ich mich dort an der Universität für Geowissenschaft eingeschrieben und wurde akzeptiert. Das erfüllte mich sehr, weil Geowissenschaft ein so breites Spektrum mit Landwirtschaft, Sedimentologie, Bodenkunde und etwas Chemie hat. Es hat auch mit Biologie und Botanik zu tun. Ich habe diese Fächer belegt und studiert, danach meinen Master gemacht und auch zusätzlich Salt science, also Bodenkunde, und auch ein halbes Programm von Agrarwissenschaft absolviert.

Damals habe ich davon geträumt, eines Tages nach Afghanistan zurückzukehren, denn ich hatte eine sehr starke Bindung zu meiner Mutter und meiner Familie. Ich habe wie ein Aktivist gedacht, ohne das Wort damals zu kennen. Ich dachte, wenn ich einmal zurückginge, könnte ich Schulter an Schulter den Menschen in den Dörfern helfen. Vor Sonnenaufgang würde ich aufstehen und dann mit den Dorfleuten einfach zusammen auf die Felder gehen, arbeiten, Erfahrungen austauschen, lernen, aber auch mich selber einbringen, mit dem was ich wußte. Das war mein Traum. Nur, der Krieg hat niemals aufgehört. Trotzdem bin ich immer wieder nach Afghanistan gereist, unter zum Teil sehr schwierigen Bedingungen. Irgendwann habe ich bei der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit eine Stelle bekommen, bei der es um Lehmbau, der auch mit Geologie zu tun hat, ging. Ich mußte den Ingenieuren, die das Labor in Peshawar in Nord-Pakistan leiteten, beibringen, wie man Böden analysiert und entscheidet, welche sich für die Steinproduktion für den Lehmbau eignen und welche nicht.

SB: War das Ihre erste Anstellung nach dem Studium?

RQ: Ganz genau. Nebenbei während des Studiums hatte ich auch noch mehrere HiWi-Stellen. Ich habe zum Beispiel viele Bodenproben getestet. Manchmal haben Professoren mir Proben aus Grönland und Alaska gegeben, um den Sand- oder Salzgehalt festzustellen, wodurch ich auch viel gelernt habe. Zusätzlich dazu habe ich frühmorgens Zeitungen ausgetragen, als Pfleger im Krankenhaus gearbeitet und auch Gartenarbeit gemacht, um zusätzlich etwas Geld zu verdienen. Ich habe manchmal bis Mitternacht gearbeitet. In der Zeit zwischen 1986 und 1990 war ich an manchen Tagen bis zu 21 Stunden im Einsatz. Ich hatte nur ein kleines Zimmer, das nicht mehr als acht Quadratmeter groß war. Das habe ich als Entspannungssarg gesehen, wo ich nach dem ganzen Arbeits- und Studiumstreß mich immerhin hinlegen und abschalten konnte.

Damals habe ich feststellen müssen, daß solche Schulen wie die deutsche und die französische auch einen großen Nachteil für uns hatten, denn wir hatten niemals Englisch gelernt. Und die ganzen Unterlagen, die ich für den Master studieren mußte, waren alle auf Englisch. Jedenfalls den Master habe ich irgendwann abgeschlossen. Kurz danach habe ich bei der britischen Botschaft in Düsseldorf ein Visum beantragt, um in England einen Englischkurs machen zu können. Nachdem ich ungefähr sechs Monate lang keine Antwort erhalten hatte, hat meine damalige Freundin, die besser Englisch konnte als ich, dort angerufen, um danach zu fragen. Bei der englischen Botschaft erklärten sie die Verzögerung bei der Bearbeitung meines Visumantrags wie folgt: "Wir zahlen ihm etwas heim, denn er ist Afghane. Wir haben eine alte Rechnung mit den Afghanen offen." Obwohl meine Freundin einwandte, daß ich für die militärischen Niederlagen der Engländer im 19. Jahrhundert in Afghanistan nichts konnte - schließlich war ich damals nicht geboren - mußte ich mit dem Zug von Kiel persönlich nach Düsseldorf fahren und dort begründen, warum ich nach Großbritannien wollte.

Nachdem ich den Botschaftsleuten die Gründe genannt hatte, sagten sie mir, ich könnte doch nach Kanada oder woanders hin gehen. Als ich erklärte, daß das zu teuer und zu weit weg wäre, haben sie eingewilligt und mir doch noch das Visum gegeben. Nichtsdestoweniger mußte ich den gleichen Zirkus mit vielen Schikanen bei der Einreise am Flughafen von London über mich ergehen lassen. Ich mußte sogar mein Portemonnaie aufmachen und den Inhalt zeigen. Ich habe zwar dort mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt, aber innerhalb von dreieinhalb Monaten Englisch gelernt. Als ich zurück nach Deutschland kam, habe ich in der Uni-Bibliothek in Kiel ein System für mich entwickelt, mit dem ich weiter Englisch lernen konnte. Somit habe ich auch diese Lücke geschlossen. Irgendwann bin ich auch nach Kanada gegangen, weil ich nach den zahlreichen Erfahrungen mit Fremdenfeindlichkeit, die ich öfter in Deutschland gemacht habe, irgendwann nicht mehr hier leben wollte. Aber nach Hause konnte ich auch nicht. Ich hatte zwar Indien, Pakistan und solche Länder auf der Suche nach einer geeigneten Möglichkeit bereist, doch leider gab es sie nicht.

SB: Lief der Krieg in Afghanistan gegen die Sowjetarmee noch?

RQ: So war es. Nach Hause konnte ich also nicht, also bin ich nach Kanada gegangen, wo ich fast 10 Jahre gelebt habe. Dadurch hat sich mein Englisch deutlich gebessert, wiewohl ich immer noch einen Akzent habe. Aber immerhin kann ich auf Englisch schreiben, lesen und mich artikulieren. Die ganzen Jahre über galt aber nach wie vor mein Hauptinteresse Afghanistan. Daher habe ich mir überlegt, was ich als Geologe, als Bodenkundler, in meiner Heimat machen könnte. Afghanistan ist ein Erbe der Menschheit, das hat mit einer einzigen Nationalität nichts zu tun. Es leben dort mindestens zwölf verschiedene Stämme und Nationalitäten, die mindestens zwölf verschiedene Sprachen sprechen. Das einzige, was mir eingefallen ist, war, daß die Afghanen immer sehr gesunde Zähne hatten, obwohl sie von Bioanbau niemals etwas gehört hatten. Trotzdem war alles organischer bzw. biologischer Anbau. Es wurden keine Pestizide oder Chemikalien eingesetzt. In den letzten Jahren, vor allem ab 2001, bin ich immer wieder nach Afghanistan gereist.

Rasaq Qadirie beschriftet das gesammelte lokale Saatgut © Rasaq Qadirie

Rasaq Qadirie beschriftet das gesammelte lokale Saatgut
© Rasaq Qadirie

Seit 1987 hatte ich den Traum, irgendwann einmal ein Gehöft auf die Beine zu stellen, wo viele Leuten zusammen arbeiten und leben könnten. Ich erinnerte mich, wie mir mein Vater, als ich klein war, erzählt hatte, daß er bei seinem Vater auf dem Bauernhof gebraucht wurde, aber zur Schule gehen mußte. Wenn er aber zur Schule ging, fühlte er sich schlecht und sein Kopf war bei seinem Vater auf dem Feld. Wenn er aber auf dem Feld war, war sein Kopf in der Schule. Deshalb hat er letztendlich die Schule geschmissen und ist auf dem Feld geblieben. Vor diesem Hintergrund hatte ich die Idee, diesen Hof irgendwo in der afghanischen Provinz zu machen, damit die Leute dort ihren Alltag miteinander leben und dabei lesen und schreiben lernen könnten, ohne aus ihrer natürlichen Umgebung herausgerissen zu werden.

Entsprechende Vorschläge habe ich vielen NGOs wie auch dem Deutschen Entwicklungsdienst, der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit, dem Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit et cetera unterbreitet. Ich habe aber keinen Erfolg gehabt, weil sie eine andere Politik verfolgen. Ich habe Anträge eingereicht und sie sehr rational begründet. Ich hätte auch sehr wenig Geld für die Verwirklichung dieser Idee gebraucht. Es wären damals fünfzehn- bis achtzehntausend Mark gewesen. Aber ich habe nichts bekommen. Dennoch habe ich die Hoffnung niemals aufgegeben. Irgendwann habe ich mich gefragt, was die Menschen in diesen 30 Kriegsjahren am meisten verloren haben. Das war erstmal die Nahrung. Ich habe elf Jahre alte Kinder mit schwarzen Zähnen gesehen. Ich habe traumatisierte Kinder gesehen, die durch den Krieg Dinge erlebt haben, die sie niemals hätten erleben sollen. Die haben so viele tote Menschen gesehen, Leichen gerochen, die rechts und links lagen. Damals waren sie sechs, sieben, acht Jahre alt; heute sind sie 25. Eines kann ich Ihnen versichern, daß sie genug von Haß und vom Krieg haben. Leider sieht die Realität anders aus.

Letztendlich ist Afghanistan ein Agrarland. Wir haben keine nennenswerte Industrie und auch keine Autoindustrie wie hier in Deutschland. Wenn man überhaupt Ruhe und Stabilität in Afghanistan einkehren lassen will, dann muß man den Hunger, den Hauptfeind der Menschen dort, besiegen. Afghanistan ist ungefähr zweimal so groß wie Deutschland. Hier leben 85 Millionen Menschen, dort dagegen um die 28 Millionen, aber nur zwölf Prozent des Territoriums von Afghanistan sind urbar und werden bewirtschaftet - und das von den Menschen selbst. Also an Manpower mangelt es nicht, wiewohl man sehr vieles verbessern könnte.

Straßenverkäufer in Kabul © Rasaq Qadirie

Straßenverkäufer in Kabul
© Rasaq Qadirie

Und jetzt komme ich dazu, warum ich mich, mit Blick auf Afghanistan, als Student hauptsächlich für Geologie und Bodenwissenschaft interessiert habe. In den alten Gedichten Afghanistans wird die Schönheit der Natur dort beschrieben. Ich kann mich erinnern, wie ich mich als Kind gefreut habe, wenn ich aus einer Wasserquelle Süßwasser getrunken hatte. An den Geschmack kann ich mich heute noch erinnern. Als ich noch ein Kind war, lebten 200.000 Menschen in Kabul. Heute sind es 6,5 Millionen. Die Umweltverschmutzung dort ist ungeheuerlich. Auch die NGOs tragen in dem ganzen Wirrwarr dazu bei, daß vieles zerstört wird. Im Namen von "Water For Life" werden ohne den Rat von Geowissenschaftlern oder Hydrologen überall Brunnen gebohrt. Das hat dazu geführt, daß viele Verschmutzungen ins Grundwasser gelangt sind und inzwischen an vielen Ecken die Brunnen einerseits stinken und andererseits die Leute, besonders im Sommer, Magen-Darm-Erkrankungen bekommen und zudem der Wasserspiegel dadurch rapide sinkt, so daß wir zwischen 1999 und 2002 diese Dürre hatten. Aber wenn man Afghanistan überhaupt helfen möchte, muß man in die Landwirtschaft investieren.

Der Grund, warum ich mir über Saatgut Gedanken gemacht habe, ist folgender. In ganz Afghanistan kommt es zur Anpassung an das Saatgut, das international gehandelt wird. Es ist eigentlich bewiesen, daß bereits vor 25.000 Jahren die Menschen in Afghanistan eine Art Ackerbau betrieben haben. Nicht umsonst hat Nikolai Wawilow, ein russischer Wissenschaftler, der Anfang des 20. Jahrhunderts Afghanistan bereiste, dort über 130 verschiedene Getreidesorten, darunter wilde Arten von Hafer und Weizen, vorgefunden und beschrieben, die mit sehr wenig Bedarf an Wasser, ohne Pestizide, ohne Chemikalien wuchsen und sehr nährstoffreich waren. Er hat sogar von den verschiedenen Anbaugebieten wissenschaftliche Karten angefertigt. Inzwischen gibt es in St. Petersburg ein nach ihm genanntes Institut für Agrarwissenschaft. In Kanada und Nordamerika wird Wawilow als Pionier der damaligen Wissenschaft hoch angesehen, der gesagt hat, Afghanistan ist das drittwichtigste Land auf der ganzen Erde, was genetisches Saatgut und Fruchtbäume angeht. Und zuletzt 2005 hat der italienische Wissenschaftler Giuliano Finetto aus Italien, der in Afghanistan geforscht hat, geschrieben, daß das Land das Zentrum für Gensorten ist, was Fruchtbäume angeht. Er hofft, daß die afghanische Regierung sogar einen Gensaatpool auch für Fruchtbäume schafft, damit sie nicht gänzlich aussterben.

Lalmi Weizen, der auf steiniger Hügellandschaft wächst, 2006 © Rasaq Qadirie

Lalmi Weizen, der auf steiniger Hügellandschaft wächst, 2006
© Rasaq Qadirie

Wer diese Erkenntnisse noch nicht akzeptiert, ist die westliche Welt, die unter Aufsicht der staatlichen US-Entwicklungshilfeorganisation USAID sogar Fruchtbäumesamen oder Saatgut von Montsanto nach Afghanistan importiert. Als Wissenschaftler könnte ich mich nur dazu äußern, wenn ich dieses Saatgut unter die Lupe nehmen und seine Herkunft zweifelsfrei bestimmen könnte. Aber Fakt ist, daß dieses Saatgut hybrid ist und nicht zu den einheimischen Sorten paßt, die für unsere Böden geeignet sind, weil sie sich dort über die Jahrtausende entwickelt haben. Das ist, als würde man einen Buschmann aus Afrika enge Jeans anziehen lassen und ihm sagen, er solle sich nun elegant bewegen. Genauso ist es, wenn man Einweg-Saatgut, das man nicht einmal für die Weiterverwendung im nächsten Jahr behalten darf, in die Böden in Afghanistan einbringt, wo sich unsere eigenen Getreide seit Jahrtausenden an wenig Wasser angepaßt haben, weil Wasserknappheit in Afghanistan sehr groß geschrieben wird. Mit welchem Recht, mit welcher Legitimität und Argumentation bringt man im Namen von Hilfe Hybrid-Saatgut nach Afghanistan? Das Hauptproblem ist, daß Jahr für Jahr unser eigenes Saatgut immer mehr verschwindet, während dieses Hybrid-Saatgut die Böden dermaßen auslaugt, daß das eigene, indigene Saatgut, würde man es im nächsten Jahr benutzen, auch nicht mehr besonders gut wüchse.

Während der letzten fast zehn Jahre NATO-Besatzung in Afghanistan hat man in Verbindung mit diesen importierten Saatgutsorten an die armen Bauern Düngemittel umsonst verteilt, die den Böden dermaßen zugesetzt haben, daß auf den verwendeten Flächen praktisch nichts mehr wächst. Auf die Weise wird unser einheimisches, selteneres Saatgut langsam aber sicher verdrängt und verschwindet. Die Leute, die das Fachwissen im Umgang mit den einheimischen Nutzpflanzen haben und vor dem Krieg vielleicht 20 Jahre alt waren, sind heute mehr als 50. Aber mit 50 Jahren ist man in Afghanistan bereits ein alter Mann, und viele von ihnen können weder schreiben noch lesen; sie bedienen sich einer anderen Art der Wissensvermittlung, die nur von Mund zu Mund und nicht auf Papier stattfindet. Bei Wissen meine ich, wie man einen Baum pfropft; welche Getreidesorten wie oft Wasser brauchen; wie man die unterschiedlichen Baumsorten - Kirschbäume, Mandelbäume, Aprikosebäume, Granatapfelbäume et cetera - pfropft. Mit der Zeit werden die afghanischen Bauern so abhängig vom internationalen Saatguthandel, daß sie kaum mehr etwas haben, womit sie auf eigenen Füßen stehen könnten. Und von den NGOS, die im Namen der Sicherheit, Gesundheitsfürsorge und so weiter die Armut der Menschen dazu benutzen, um das Christentum zu verbreiten, möchte ich lieber nicht reden.

Traditionelle Bauernfamilie in der Provinz Balkh erntet Karotten © Rasaq Qadirie

Traditionelle Bauernfamilie in der Provinz Balkh erntet Karotten
© Rasaq Qadirie

SB: Herr Qadirie, lassen Sie uns einen kurzen Schritt zurückgehen. Nachdem Sie Ihr Studium abgeschlossen haben und nach Kanada gegangen sind, wie häufig waren Sie in Afghanistan vor dem Einmarsch der NATO in 2001?

RQ: Insgesamt bin ich zwischen 25- und 30mal nach Afghanistan gereist.

SB: Wie sind die landwirtschaftlichen Ansätze der Kommunisten bzw. in der Zeit der sowjetischen Besatzung zu bewerten?

RQ: Ich treffe häufig auf Menschen in der linken Szene hierzulande, die vom Kommunismus schwärmen und überzeugte Kommunisten sein wollen. Jedenfalls was Marx und Lenin geschrieben haben, das ist eine Sache. Es gibt in Afghanistan ein altes Sprichwort, das lautet: "Geh' nicht zum Arzt, geh' zu jemandem, der es erlebt hat bzw. überlebt hat." Also es mag sein, daß gewisse Leute praktisch und theoretisch "richtige Kommunisten" sind und das auch umsetzen. Aber Fakt ist, bei der kleinen Lebenserfahrung, die ich habe: Man könnte einen guten Christen, einen guten Buddhisten, einen guten Moslem und einen guten Kommunisten an einen Tisch setzen und sie würden bestens miteinander auskommen und ihre Ideen austauschen.

Kehren wir zurück zu der von Ihnen angesprochenen Ära in Afghanistan. Damals hat die kommunistische Regierung in Kabul den armen Leuten, die meistens Analphabeten waren, unter anderem gesagt: "Ihr kriegt Land!"; "Bauern kriegen Land"; "Das Land wird jetzt fair verteilt". Die Menschen haben sich natürlich wie kleine Kinder gefreut, die Geschenke bekommen sollen. Sie haben gewartet, aber dann passierte folgendes: Innerhalb der kommunistischen Regierung hat die eine Fraktion gegen die andere geputscht. Es kam zu Säuberungen. Plötzlich verschwanden Leute, selbst Nachbarn von uns. Es setzte daraufhin eine Fluchtwelle ein. Klassenkameraden von mir, die versucht haben, mit ihren Familien nach Pakistan zu fliehen, sind in den Kofferräumen von Autos erstickt und haben ihr Ziel niemals erreicht. In den Häusern war nachts Weinen zu hören. Ab acht Uhr abends war kein Besuch mehr möglich. Es herrschte Sperrstunde. Man durfte kein Licht anmachen. Mit russischen Jeeps fuhren gestapo-ähnliche Charaktere, welche die Leute abgeholt haben, durch die Gegend. Die wichtigste Frage lautete: "Bist du für die Regierung oder dagegen?"

Ich kann mich an Leute an der Kabuler Universität erinnern, die Unschuldige Kommilitonen an die Behörden verpfiffen, um selbst ein Stipendium in Moskau zu bekommen. Das lief teilweise so ab: Sie haben einen gefragt, ob sie dessen Unterlagen zum Photokopieren kurz ausleihen konnten, weil sie angeblich die Vorlesung verpaßt hätten. Wenn man die Unterlagen zurückbekam, war irgendwo dazwischen ein Flugblatt versteckt, von dem man überhaupt keine Ahnung hatte. Eine Viertelstunde später kamen die Ordnungskräfte mit Maschinengewehren und haben denjenigen abgeholt, weil er gegen das Regime war. Das ihm untergejubelte Flugblatt bewies es. Und während der eine für immer verschwand, ist der andere belohnt worden. Heute findet man unter anderen in Malmö, Schweden, am Baumwall in Hamburg und an anderen Orten frühere sogenannte Kommunisten, die damals auf Kosten ihrer eigenen Landsleute profitierten, ihre Gelder in Sicherheit gebracht und heute Geschäfte im Ausland haben. Was ich damit sagen will ist, daß es sich um eine Art Sozialimperialismus handelte. Die großen Pläne sind nicht umgesetzt worden. Es hat keiner Land bekommen und die Russen natürlich, die die Ausbeutung Zentralasiens betreiben - auch Afghanistan gehört dazu - haben die Rohstoffe wohlweislich recherchiert. Sie haben zum Beispiel Erdöl entdeckt. Es gibt in Afghanistan über 500 Bohrungen, die aus der damaligen Zeit stammen. Sie haben alles gemacht, was die anderen inzwischen benutzen. Also, es ging um Ausbeutung und nicht um den Kommunismus oder das, was Marx im "Kapital" geschrieben hat. Sie haben auch nicht wirklich versucht, Lenins Ansätze umzusetzen.

Ein Mann und zwei Ochsen bereiten den Boden für die landwirtschaftliche Nutzung vor, 2006 © Rasaq Qadirie

Ein Mann und zwei Ochsen bereiten den Boden für die landwirtschaftliche Nutzung vor, 2006
© Rasaq Qadirie

SB: Würden Sie sagen, das war Imperialismus, wie die NATO ihn heute in Afghanistan betreibt?

RQ: Lassen Sie mich es wie folgt formulieren: Ob man von der rechten oder von der linken Faust eins auf die Nase bekommt - weh tut es so oder so.

SB: Verstehe.

RQ: Es gibt sogar jetzt noch unzufriedene Mitglieder der kommunistischen Partei Afghanistans, die es vielleicht wirklich gut gemeint haben und die damals nicht in die höheren Stellen gelangt sind, einfach weil sie nicht korrupt waren. Als ich 1993 Reisen in Zentralasien machte und Kirgistan, Turkmenistan und Usbekistan besuchte, fand ich genau diesen Sozialimperialismus wieder vor. Alles an Know-how einschließlich der mächtigen Positionen bei der Polizei, bei der Datenverarbeitung oder zum Beispiel am Flughafen war in der Hand der Russen. Es ist so weit gekommen, daß aufgrund des sowjetischen bzw. russischen Kulturimperialismus die Kirgisen, die Tadschiken, die Usbeken, die Turkmenen und die Kasachen inzwischen die eigene Muttersprache kaum noch fließend sprechen können. Wenn jemand ursprünglich Mahmad hieß, wurde er offiziell in Mahmadow umbenannt. Es waren Zwangsumnennungen. Das ist für mich kein Ausdruck von Kommunismus, geschweige denn von Demokratie.

SB: Sie sagten, daß ein Programmpunkt der damaligen kommunistischen Regierung in Afghanistan war, den Bauern kleine Parzellen zu geben. Gab es nicht solche Ansätze auch schon in den 1950er Jahren, als die Amerikaner in Südafghanistan diese ganzen Bewässerungssysteme aufgebaut haben? Wissen Sie auch etwas darüber?

RQ: Ich weiß lediglich über Hörensagen davon, weil ich damals noch nicht geboren war. Aber ich kann aufgrund der Besprechungen zum Thema Saatgut in den Dörfern, in die ich in letzter Zeit reise, folgendes sagen: Wenn eine Regierung nicht von einem Volk selbst gewählt, sondern als Stellvertreterregime irgendwelcher Großmächte eingesetzt worden ist, um deren dreckige Interessen wahrzunehmen, dann ist für mich die Frage eigentlich erledigt. Das Land wird nicht fair verteilt und es geht gar nicht um Wohlstand oder Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen vor Ort.

Ich kann auch ein Beispiel nennen. Heute wird häufig über das goldene Zeitalter unter dem letzten König Zahir Shah geschwärmt. Ich weiß aber nicht, wovon hier die Rede ist, denn gegen Ende jenes "goldenen Zeitalters" bin ich aufgewachsen und habe mit älteren Menschen gesprochen, welche die Jahrzehnte davor durchlebt hatten. Korruption war so eine nackte Tatsache, daß die Drogendealer aus bestimmten Provinzen zum Beispiel die wichtigsten Posten im Bildungsministerium besetzten. Sie hatten selbst keine Bildung gehabt, aber sie hatten Macht. Sie konnten Leute schlagen oder sie versetzen oder verhaften lassen. Sie konnten einfach alles. Auch damals wurden Drogen angebaut und mit Nomadenkarawanen über die Grenze nach Pakistan gebracht. Die Verantwortlichen hatten Waffen, Geld und Macht. Diese Regierungen, von denen ich spreche, sind niemals vom Volk selbst bestimmt worden, und wegen der Korruption wurde für den Wohlstand oder die Bildung der einfachen Menschen nichts gemacht.

1972, als der Cousin des Königs putschte, traf ich vor meiner Schule, der deutschen Schule, die in der Nähe des Königspalastes lag, auf einen alten Mann, der mich fragte, was passiert war. Ich antwortete: "Es hat gerade einen Machtwechsel gegeben." "Welcher Machtwechsel?", sagte er. Da erwiderte ich: "Jetzt ist nicht mehr Zahir Khan an der Macht, sondern Daud Khan". "Zahir Khan? Wer war denn vorher an der Macht?", fragte der Alte. Da meinte ich erstaunt: "Wissen Sie das nicht?" Dazu er: "Nein, ich komme aus Nordost-Afghanistan, aus der Provinz Warachan. Wir kommen einmal im Jahr nach Kabul hinunter, verkaufen Felle, kaufen ein bißchen Tee und dann gehen wir wieder hoch. Wir haben mit der Regierung nichts zu tun. Jedesmal, wenn jemand von der Regierung mit Krawatte und Anzug hoch in die Berge zu uns gekommen ist, dann haben wir nichts Gutes erlebt. Deswegen haben wir sowenig wie möglich mit der Regierung zu tun." An die Szene und die Aussage kann ich mich gut erinnern. Bis heute sind die Afghanen scheu. Sie sind nicht prinzipiell gegen die Zivilisation, aber in manchen Dörfern sind die Leute mißtrauisch, wenn sie Menschen in Anzügen auf sich zukommen sehen.

Ein junger Afghane verkauft Gemüse aus afghanischem Saatgut, Takhar, 2006 © Rasaq Qadirie

Ein junger Afghane verkauft Gemüse aus afghanischem Saatgut,
Takhar, 2006
© Rasaq Qadirie

SB: Abgesehen von dem Sozialimperialismus, den Afghanistan zur Sowjetzeit zu ertragen hatte und heute unter der NATO noch erträgt, wie kann man die Wirtschaftspolitik bzw. die Landwirtschaftspolitik unter der Herrschaft der ehemaligen Mujahedin und dann später der Taliban, sozusagen als einheimische Kräfte im Lande das Sagen hatten, bewerten?

RQ: Es verhält sich so, daß in Afghanistan sehr viel Mohn für die Opiumproduktion angebaut wird, und daß die Großgrundbesitzer, die Drogenbarone und die Kriegsherren, die früher an der Macht waren, bis heute noch an der Macht sind. Man darf auch nicht vergessen, daß es heute noch in der Regierung Hamid Karsais Altkommunisten gibt. Da schüttelt man den Kopf und fragt sich: "Wie kann es angehen, daß ehemalige Kommunisten immer noch an der Macht sind?" Das hat mit Terrorismus, mit den Machtstrukturen und den Großgrundbesitzern mit ihren Ländereien zu tun. Es gibt ein Sprichwort: "In manchen Kriegen blühen bei manchen die Weizen-Felder auf." Und so gesehen hat sich in dem Sinne gar nichts dramatisch geändert. Es sind die gleichen ungerechten und asozialen Strukturen erhalten geblieben.

SB: Als die Buddhastatuen in Bamiyan beschossen wurde, löste dies große Empörung in der ganzen Welt aus. Einigen Berichten zufolge soll es aber so gewesen sein, daß die Taliban-Kommandeure, die den Entschluß gefaßt haben, die Statuen zu beschießen, es unter anderem aus Verärgerung darüber taten, daß es Hilfsgelder für die Restaurierung dieser, aus ihrer Sicht heidnischen Götzen, aber keine für die Landbevölkerung gab, die damals unter einer schweren Hungersnot infolge von Dürre litt. Diese weniger bekannte Version des Vorfalls läßt auf ein gewisses Ausmaß an Sozialgewissen auf der Seite der Taliban, die sonst immer verteufelt werden, schließen. Wie sehen Sie die Sache?

RQ: Da weder Sie noch ich da waren, wissen wir nicht, was sich genau abgespielt hat. Aber was die Taliban angeht, kann man sie nicht alle über einen Kamm scheren. Es gibt die Ranghöheren, die fließend Englisch sprechen, und es gibt die Ranguntersten, die sehr einfach, kulturreligiös denken. Wenn man die rechten Parteien in Deutschland betrachtet, so gibt es einerseits die Ranghöheren, die Biochemie oder Jura studiert haben, Doktortitel haben, in Villas leben, und rechtes Gedankengut pflegen, und andererseits die Ranguntersten, die als Skinheads unterwegs sind und Afrikaner, Türken, Kurden oder was auch immer an Immigranten zusammenprügeln, weil sie ihnen angeblich die Arbeitsplätze weggenommen haben. Also sind für mich die rechten Taktgeber in Deutschland vergleichbar mit denjenigen in Afghanistan, die auf die Straße gehen und Munition und Waffen an ihre turbantragenden Anhänger verteilen und dann später mit Krawatte, im westlichen Anzug gekleidet, vielleicht dreimal im Jahr ins Ausland reisen, um ihre Gelder in Sicherheit zu bringen. Damit ist eigentlich alles gesagt.

SB: Gibt es von den Nicht-Regierungs- oder Hilfsorganisationen überhaupt welche, von denen Sie sagen würden, die machten eine gute Arbeit in Afghanistan?

RQ: Ärzte ohne Grenzen ist sicherlich ein Beispiel für eine Hilfsorganisation, die ihrem eigenen Anspruch gerecht wird. Ich möchte trotzdem nicht behaupten, daß alle toll sind. Ich möchte auch denjenigen, deren Arbeit ich noch nicht kenne, nichts unterstellen. Aber ich erzähle Ihnen etwas. Ich rede sehr oft in meiner Heimat mit einfachen Leuten, die ich sehr schätze. Sie leben vor Ort und wissen jederzeit, was da läuft. Wenn zum Beispiel eine NGO aus Japan hilft, dann schreibt man ganz schlicht und einfach: Vom Volk Japans für das Volk Afghanistans. Wenn aber eine deutsche NGO hilft, dann steht da auf einem DIN-A3-Begleitblatt geschrieben: "Diese Mittel sind aus Steuergeldern, gemäß Paragraph so und so" - und das auch noch mit einer deutschen und einer afghanischen Flagge geschmückt. Die Afghanen sagen: "Warum lackiert man die Zweige eines Baumes, der keine Wurzeln hat?" Einige NGOs richten Schulen ein, ohne sich Gedanken zu machen, wie diese armen Mädchen von zu Hause, elf oder zwölf Kilometer entfernt, dahin kommen sollen. Sie schaffen nicht einmal eine öffentliche Busverbindung, damit die Mädchen auch pünktlich zur Schule erscheinen können. Dafür werden jedoch die Fenster solcher Schulen alle sechs Monate frisch gestrichen; Hauptsache auf den Plakaten steht ganz groß, daß Deutschland, BMZ und wie sie alle heißen, helfen. Das machen nicht nur die Deutschen, sondern auch die Briten, Franzosen und andere.

Ein von Hand gebautes Schmelzwassersystem, Provinz Takhar, 2006 © Rasaq Qadirie

Ein von Hand gebautes Schmelzwassersystem, Provinz Takhar, 2006
© Rasaq Qadirie

Wenn man die Zweige eines Baumes mit goldener Farbe bemalt, der selbst keine Wurzeln hat, ist es selbstverständlich, daß man auf dem falschen Weg ist. Inzwischen bekämpfen über 36 Nationen in Afghanistan angeblich die Taliban - und das seit über 10 Jahren. Fakt ist, daß die Soldaten pro Kopf alle 24 Stunden 6 Flaschen sauberen Trinkwassers geliefert bekommen. Man muß sich das pro Tag, pro Woche, pro Monat, pro Jahr ausrechnen. Allein mit dem Geld für dieses Trinkwasser für die ganzen Soldaten könnte ich Afghanistan zwanzigmal aufbauen - von den Unsummen, welche die NATO-Streitkräfte in Afghanistan für Waffen, Treibstoff et cetera ausgeben, ganz zu schweigen. Aber dann kommt eine andere Frage. Warum schafft es die NATO seit fast zehn Jahren nicht einmal, eine Provinz unter Kontrolle zu bringen? Einerseits schätzt man die Anzahl der Aufständischen auf irgendwo zwischen 40.000 und 60.000. Ein Taxifahrer meinte dazu: "Ich habe keine Mathematik studiert, aber eines gibt mir zu denken. Seit 10 Jahren höre ich jeden Tag im Radio in meinem Taxi Meldungen von wegen '13 Taliban getötet', '70 Taliban getötet', '21 Taliban getötet', '18 Taliban getötet' oder '25 Taliban getötet'. Und ich frage mich, wie viele sind das wirklich? Hat überhaupt jemand nach jenen Angriffen die Leichen gesehen? Ich verstehe das nicht." Also gibt es viele offene Fragen. Fakt ist aber, daß die NATO in Afghanistan sehr aktiv ist, nur daß alles in der falschen Richtung läuft.

SB: Mit dem Einmarsch der NATO in Afghanistan hat sich in der Landwirtschaft dort vieles verändert. Früher hatten die Taliban den Mohnanbau verboten und bis 2001 praktisch ausgerottet. Aber seit die NATO ins Land gekommen ist, florieren der Mohnanbau und der Opiumhandel besser als jemals zuvor. Haben Sie dafür eine Erklärung?

RQ: Natürlich. Das hängt mit Angebot und Nachfrage zusammen. Wenn es die Taliban geschafft haben - was auch Fakt ist - das Geschäft mit illegalen Drogen auszustampfen, indem sie einfach Leute auf der Straße mit Kabeln, die sie herausgerissen haben, verdroschen haben, wie kann es dann möglich sein, daß es den mehr als 100.000 Soldaten aus mehr als 36 NATO-Staaten mit ihrer Satellitenüberwachung und anderem High-Tech-Schnickschnack nicht gelingt, Mohnanbau und Opiumhandel zu unterbinden? Sollen sie wirklich nicht imstande sein, die Lage unter Kontrolle zu bringen? Angeblich wurden im Jahr 2008 in Afghanistan 8.880 Tonnen Opium produziert. Das sind 8.880 Lastwagenladungen in einem einzigen Jahr. Das ist keine Menge, die von einzelnen Drogenkurieren in der Tasche, unter der Burkha oder in den Schuhabsätzen versteckt aus Afghanistan herausgeschmuggelt wird. Wichtiger als die Frage des Herkunftlandes ist für mich die, wo die Drogen hinkommen und wo die ganzen Milliarden aus dem Geschäft schließlich landen.

SB: Was halten Sie von den Bemühungen Präsident Karsais um eine Beendigung des Krieges durch eine Versöhnung mit den Taliban?

RQ: Wenn eine Regierung, die nicht wirklich vom Volk bestimmt worden ist ... es ist doch klar, was ich damit sagen möchte.

Importierte Chilischoten aus Pakistan

Importierte Chilischoten aus Pakistan

SB: Inwieweit sind die Lebensverhältnisse der Paschtunen in Afghanistan mit denen ihrer Stammesverwandten in Pakistan zu vergleichen? Die Frage stellt sich deshalb, weil in letzter Zeit die Kleinbauern in Pakistan gegen die Einführung einer Mehrwertsteuer auf die Barrikaden gehen, die auf Geheiß des Internationalen Währungsfonds eingeführt werden soll, sozusagen als Bedingung dafür, daß die Regierung in Islamabad Finanzhilfe in Milliardenhöhe bekommt.

RQ: Was die technischen Voraussetzungen betrifft, so würde ich sagen, daß die pakistanischen Landwirte gegenüber denen in Afghanistan im Vorteil sind, weil ihnen einfach mehr Technologie, auch wenn sie rudimentär ist, zur Verfügung steht. Insgesamt ist auch mehr Wasser in den nordwestlichen Provinzen Pakistans vorhanden. In manchen Gegenden Pakistans ähneln die Verhältnisse denen in Afghanistan und in manchen anderen wiederum nicht. Insgesamt genießen die Bauern in Pakistan einen Frieden, den es so in Afghanistan nicht gibt. In Afghanistan werden jedes Jahr nicht wenige Kleinbauern wegen Streitigkeiten um Landverteilung und Landnutzung im Auftrag der Großgrundbesitzer einfach erschossen.

SB: Wiewohl es auch die These gibt, daß sich hinter dem aktuellen Aufstand der pakistanischen Taliban ein soziales Aufbegehren der armen Bevölkerung gegen die Großgrundbesitzer dort verbirgt. Was halten Sie von diesem Erklärungsmuster?

RQ: Es mag sein, daß es bei diesen Aufständischen einige gibt, die nach Gerechtigkeit streben, während sich andere in den vorhandenen Strukturen eingerichtet haben, weil sie davon Vorteile haben. Im ZDF wurde mal vor ein paar Jahren ein Interview mit einem führenden Mitglied des pakistanischen Geheimdienstes ausgestrahlt. Er erklärte offen heraus: "Wir trainieren die Taliban und benutzen sie, wann und wo wir sie brauchen." Darauf fragte der deutsche Reporter: "Wollen Sie nicht, daß in Afghanistan Ruhe einkehrt?" "Tut mir leid, aber das ist nicht unsere Politik", antwortete der Geheimdienstchef. Es wissen doch alle, daß seitens Pakistans die Taliban, egal zu welchem Stamm sie gehören, eine starke Rückendeckung genießen. Aber man kann sie nicht alle über einen Kamm scheren. Wenn man schon bei fünf Menschen drei verschiedene Meinungen hat, wie soll es denn dann bei 40.000 oder 60.000 Taliban aussehen?

SB-Redakteur mit Rasaq Qadirie

SB-Redakteur mit Rasaq Qadirie

SB: Vor kurzem hat US-Präsident Barack Obama General David Petraeus als Nachfolger von Stanley McChrystal nach Afghanistan geschickt, um dort die militärische Wende herbeizuführen und den Krieg zu gewinnen. Angesichts der momentanen Lage kommt einem dieses Vorhaben etwas überambitioniert vor. Daher die Frage: Was meinen Sie, wie der Sieg oder die optimale Lösung für die Amerikaner in Afghanistan aussehen könnte? Etwa irgendeine Art Arrangement mit den Taliban, während die US-Streitkräfte drei bis vier große Militärstützpunkte behalten und amerikanische Energieunternehmen über Afghanistan und das pakistanische Belutschistan eine Öl- und Gaspipeline vom Kaspischen Meer bis an den Indischen Ozean verlegen dürfen?

RQ: Mit der letzten Formulierung haben Sie eigentlich selbst die Antwort vorweggenommen. Es geht den USA nicht darum, daß Afghanistan zur Ruhe kommt, oder daß das Land Fortschritte macht, oder daß die Afghanen Bildung und Gesundheitsfürsorge genießen oder schlicht eine Regierung bekommen, die von ihnen selbst bestimmt wurde. Eigentlich ist der Krieg in Afghanistan im klassischen Sinne nicht zu gewinnen. Letztendlich geht es um Rohstoffe, weshalb die USA in Kabul ein ihnen freundlich gesonnenes Regime haben wollen. In Afghanistan gibt es sehr viele Rohstoffe. Die Afghanen sagen selbst, daß manche von ihnen auf Gold schlafen, ohne davon eine Ahnung zu haben. Damit meinen sie Rohstoffe ingesamt. Es gibt in Afghanistan Berge, bei denen man schon bei einer Autofahrt von der Straße aus sehen kann, daß sie Bauxit, Aluminium, Eisen oder Kupfer enthalten. Unter den rund 100 Mineralien, deren Vorhandensein in Afghanistan nachgewiesen worden ist, gibt es Lithium und Wolframit in größeren Mengen. Letzteres wird international zum vierfachen Preis des Goldes gehandelt.

Ich weiß nicht, in welcher Form die USA und die NATO den Krieg gewinnen wollen. Eine Strategie läuft auf pure Gewaltanwendung und ständige Regimeveränderung hinaus. Es gibt ein altes Sprichwort aus Afghanistan: Wenn man das Wasser trüb macht, kann man gut fischen. Will heißen: Wenn man Unstimmigkeit zwischen Leuten stiftet, dann kann man die eigenen Ideen anbringen und machen, was man will. Doch manchmal glaube ich an Karma oder Geist, und wenn ich einfache Afghanen sehe, die ihre getöteten Kinder, Eltern, Brüder oder Schwestern beweinen, denn denke ich mir, daß sie sich mit dieser gegenwärtigen Politik in ihrem Land nicht zufriedengeben und sich über kurz oder lang artikulieren werden. Nach dreißig Jahren ununterbrochener Kämpfe sind die Menschen des Krieges überdrüssig. Sie wollen ihn nicht mehr, sondern einfach friedlich nebeneinander leben. Fakt ist aber, daß man durch Korruption, Geld und Macht Unzufriedenheit stiften kann, indem man der einen Seite hilft und der anderen nicht. Was Afghanistan angeht, hoffe ich sehr, daß die Großmächte schnell ein Umdenken an den Tag legen.

SB: Was das Thema des Bodenreichtums Afghanistans betrifft, so war vor kurzem in einem Artikel der New York Times, der auf Angaben des Pentagon beruhte, von Afghanistan als dem Saudi-Arabien des Lithiums die Rede. Man kann sich schwer vorstellen, wie Ihre Träume bezüglich des Erhalts des landwirtschaftlichen Reichtums Afghanistans verwirklicht werden sollten, sollte aus Afghanistan tatsächlich das Saudi-Arabien des Lithiums werden. Was meinen Sie dazu?

Ein afghanischer Junge verkauft einheimische Produkte © Rasaq Qadirie

Ein afghanischer Junge verkauft einheimische Produkte
© Rasaq Qadirie

RQ: Das würde sogar jedes zehnjährige Kind in Afghanistan genauso formulieren. Dieser Bodenreichtum ist Eigentum des Volkes. Die Bevölkerung Afghanistans soll eigentlich selbst über Ausbeutung der Bodenschätze entscheiden und an der Erforschung derselben teilnehmen. Aber wir kommen immer wieder auf das Problem eines Regimes zurück, das nicht von den Afghanen selbst bestimmt worden ist. In so einer Situation arbeiten die Gruppierungen, die durch Korruption und ausländische Hilfe an die Macht gekommen sind, zusammen. Das Ergebnis ist Ausbeutung, Neokolonialismus et cetera. Das ist immer der Fall. Allein durch die Landwirtschaft könnte man Afghanistan ganz schnell wieder auf die Beine bringen und für Sicherheit und Stabilität sorgen. Diese Rohstoffe, ob nun organisch oder anorganisch, sind das Eigentum des afghanischen Volkes. Aber wir dürfen über uns selbst nicht bestimmen. Es wird über uns bestimmt.

SB: Wir bedanken uns herzlich, Herr Qadirie.

Lokale Bäuerinnen auf dem Weg nach Hause © Rasaq Qadirie

Lokale Bäuerinnen auf dem Weg nach Hause
© Rasaq Qadirie

27. Juli 2010