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INTERVIEW/046: Energiekonferenz - Gerhard Harder, Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg (SB)


Interview zur Energiekonferenz der Partei Die Linke am 3./4. September 2010 in der Hamburger Fabrik


"Atomkraft abschaffen - Die Zukunft ist erneuerbar!" - Unter dieses Motto stellten sechs Landtagsfraktionen und die Bundestagsfraktion der Partei Die Linke ihre Energiekonferenz, die nach zweijähriger Vorbereitungszeit am 3./4. September im Kultur- und Kommunikationszentrum Fabrik in Hamburg-Ottensen veranstaltet wurde. Ein besonderes Merkmal des gut besuchten Treffens bestand in der uneingeschränkten Offenheit für alle Interessierten.

Ungeachtet des dichten Programmablaufs mit Fachvorträgen, Foren und Workshops gab uns Gerhard Harder, Vorstandsmitglied der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg, deren Vorsitz er zwei Jahre lang führte, die Gelegenheit zu einem Gespräch. Harder war von der ersten Stunde der Besetzung der Tiefbohrstelle 1004 am geplanten Endlagerstandort Gorleben an dabei. Seine Frau und er betreiben ein Tagungshaus im niedersächsischen Wendland.



Gerhard Harder, Vorstandsmitglied der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg
© 2010 Schattenblick


Schattenblick: Hat sich aus Ihrer Sicht die Protestbewegung im Laufe der letzten zwanzig, dreißig Jahre geändert?

Gerhard Harder: Das ist ja das Witzige, daß die Betreiber wohl darauf gesetzt haben, daß sich das totläuft. So wie jetzt in der neuen Debatte auch, wo sie sich einfach Zeit verschaffen wollen. Wir sehen an solchen ehrenwerten Damen wie Marianne Fritzen und Lilo Wollny, die über achtzig Jahre alt sind, dann wir als nächste Generation, unsere Kinder und deren Kinder wieder, daß die in gleicher Weise aufstehen, losmarschieren und dagegen kämpfen. Das hat niemand erwartet. Ich glaube, das macht den Widerstand stark und das beeindruckt auch die Leute draußen. Da kann man nicht mehr sagen, das sind so ein paar verlorene Spinner, denen mal zufällig was nicht paßt.

SB: Bei der Atomkette von Krümmel nach Brokdorf waren 120.000 Leute gekommen ...

GH: Ja. Aber so sehr wir uns darüber freuen, tut es uns immer ein bißchen weh, daß der Gorleben-Protest durch die Medien immer so dargestellt wird, als daß man da besser nicht hingeht, wenn man nichts riskieren will. Zur Menschenkette kann man raustreten, und dann sieht man, wieviele Leute wirklich gegen Atomkraft sind. Den Protest in Gorleben zu messen ist natürlich schwieriger.

SB: Was glauben Sie, woran es liegt, daß der Gorleben-Protest nicht mehr so den Rückhalt hat?

GH: Doch, den Rückhalt hat er. Er hat nur nicht die Füße. Das liegt natürlich daran, daß immer gezielt Informationen gestreut werden wie: Da ist es gefährlich, da machen die Leute irgendetwas, da sind die Autonomen, da werden Schienen besetzt, da passieren auch mal Dinge, die mir als Normalmensch vielleicht nicht einfallen würden, und ich setze mich dem dann aus ...

Wir machen gerade eine Kampagne und zwar eine echte Partnerschaft, bei der konkret versucht wird, Leute aus der Stadt mit Leuten vor Ort zusammenzubringen und zwar im Vorfeld. So was wie Patenschaften, damit die wissen, wo sie hinkommen, wo sie bleiben können und mit wem sie auch mal irgendwo hingehen können. Wir haben gemerkt, daß die Vorstellung, daß der Protest gefährlich werden könnte, viele abhält. Die würden zu einer Demonstration oder zu einer Auftaktkundgebung kommen, aber dann wissen sie schon nicht weiter und fragen sich: Was macht man denn dann, rennt man durch den Wald oder ist man da irgendwem ausgesetzt? Das wollen wir aufbrechen, und es sieht zur Zeit ganz gut aus. Wir kriegen mehr als zehn-, fünfzehntausend Leute dahin, die dann auch bleiben. Der scheidende Polizeidirektor hat mal gesagt, mit hundert gewaltbereiten Autonomen werden wir locker fertig, dafür sind wir ausgebildet. Aber wenn sechs-, siebentausend Leute friedlich auf der Straße sitzen, dann haben wir ein Problem.

Wenn wir die dahin bekommen könnten, dann würde auch deutlich werden, daß die sogenannte leidige Entsorgungsfrage überhaupt nicht gelöst ist, daß das auch nur ein Verschiebebahnhof ist. Es wird nur hin und her gefahren. Es hat mal einer aus der elften Klasse erstaunt gefragt: Recycling aus La Hague, Frankreich? Was macht das denn in Gorleben, warum geht das denn nicht dahin zurück, wo es herkommt? Ich denke, daß mehr Leute verstehen müßten, daß die ungelöste Entsorgung die Achillesferse ist. Vom Uranabbau ganz zu schweigen und von dem leidigen Zusammenhang, der bei uns gar nicht mehr diskutiert wird, nämlich daß die ganze sogenannte friedliche Nutzung auch eine unfriedliche ist, sonst bräuchte man das Wort ja nicht, und das ist die militärische. Diese Option wurde durch die Politik eingeleitet. Deshalb glaube ich auch, daß es so etwas wie - das Wort ist schon leicht verbraucht -, eine Mafia oder Strolche gibt in der Ministerialbürokratie. Die eigentlich von Anfang an über Adenauer, Strauß, Schmidt bis zu den heutigen Ministerialbürokraten auf der Seite der Unternehmen stehen. Das sind die eigentlichen Betreiber. Die Konzerne sind stumpfe Kapitalisten. Die nutzen das aus, was am Markt möglich ist, und wer immer eine Vorrangstellung am Markt hat, der nutzt die gnadenlos aus.



SB-Redakteur und Gerhard Harder beim Gespräch im ersten Stock der Fabrik
© 2010 Schattenblick


SB: Die Unternehmen sind Teil eines Systems ...

GH: Das kann man beim Autobahnbau sehen oder beim U-Bootbau und ähnlichem. Das ist Teil des Systems. Die Unternehmen braucht man nicht dafür zu prügeln, daß sie im Kapitalismus ihr Geld verdienen wollen. Aber die das Ganze anzetteln und eintüten und die - bei wechselnder Regierungsmacht über ihnen - sowieso immer das gleiche tun, was sie tun wollen, und damit geködert werden, daß sie tolle, lukrative Jobs erhalten, wenn sie bei der Stange bleiben. Da wird ein leitender Aufsichtsbeamter für die Atomkraft ein Manager, umgekehrt wird ein Manager dann wieder rückwärts berufen. Dieses Wechselspiel zwischen Politikern aus der zweiten Reihe, dort sind die Gefährlichen.

Ich wage mal einen fürchterlichen Vergleich - wahrscheinlich schreien alle auf -, aber mir ist das erste mal richtig bewußt geworden, als ich die Galerie im Haus der Wannsee-Konferenz gesehen habe, wer die Endlösung der Judenfrage beschlossen hat. Das waren nicht die Obersten, die uns bekannten Namen, sondern das waren Staatssekretäre. Das war auf der Ebene der Ministerialbürokratie mit ihren übelsten Vertretern. Die Hälfte mit Doktortitel, Klavier spielen, abends den Schäferhund streicheln, Kinder auf dem Schoß, und so weiter. Da kriegt man eine Gänsehaut, weil man immer gedacht hat, das kann ja gar nicht sein, das müßten doch irgendwelche physiognomisch erkennbare Strolche und Monster sein. Genau das sind sie nicht. Ich mache diesen Vergleich bewußt. Ich glaube, daß diese Leute in ähnlicher Weise verblendet sind. Das ist für die natürlich auch spannend, sie haben wirklich Macht. Die Regierung hat ja nur Regierung, aber sie hat keine Macht, verkürzt gesagt. Und die Macht, die hier sitzt, verbündet sich mit den Konzernen, mit den Kapitalisten, das sind die gleichen Interessen.

Da liegt das eigentliche Problem, das zu brechen wäre. Die Konzerne umzuändern in einem System, das marktwirtschaftlich, kapitalistisch ist, ist schwer. Da kann man es begrenzen, fordern, daß sie kleiner werden, aber wir werden damit den Systemkonflikt, wie eben Hermann Scheer ganz deutlich gemacht hat, nicht lösen. Wir werden ihn auch nicht damit lösen, daß wir auf diese Kaste losgehen, die ich beschrieben habe.

Man muß es als System verstehen und sich fragen: Gegen wen arbeite ich eigentlich an, mit wem muß ich mich auseinandersetzen? Das wird ja in den USA anders gemacht. Da wird diese Garde mit der Neuwahl einer Regierung insgesamt ausgewechselt. Das ist teuer, sichert aber, daß die Regierung auch das umsetzen kann, was sie will. Das können wir gar nicht. In Schleswig-Holstein mußte dieselbe Ministerialgarde, die eben noch zuständig für Reaktorbau war und alles eingetütet hat, am Tag nach der Wahl das Gegenteil rausposaunen. Sie mußte auf einmal dagegen sein. Kein Mensch wurde ausgewechselt. Das können die locker. Die setzen ein neues Gesicht auf und lassen die Minister oben einfach abtropfen. Das halte ich für bedenklich, und das halte ich für die eigentliche Gefahr, die wir bisher so nicht gesehen haben.

SB: Haben sich die Strategien und Vorgehensweisen der Anti-Akw-Bewegung und auch der staatlichen Kräfte im Laufe der Jahre geändert?

GH: Ja, wenn ich das auf Gorleben beziehe, ändert sich das ständig. Bei den ersten Demonstrationen saßen wir direkt vor dem Zwischenlager und haben die Zufahrt blockiert. Dann hat die Polizei dazugelernt. Daraufhin haben wir vor der Ausfahrt des Verladekrans gesessen. Auch da ist es nicht mehr möglich. Inzwischen ist es so, daß wir durch Berichte wissen - ich nenne mal die Pastoren als glaubwürdig -, daß wir viele Provokateure haben. Was der Polizeichef damals gesagt hat, daß sie mit sechs-, siebentausend Personen, die auf der Straße sitzen, ein Problem haben, das können die natürlich nicht hinnehmen. Man kann als Polizei, den Behörden, der Verwaltung und den Politikern verpflichtet, nicht sagen, "ja, tut uns leid, haben wir nicht geschafft, sind zu viele Menschen". Sie haben die Strategie heute so weit geändert, daß sie nicht mehr wie bisher den Ereignissen hinterherlaufen. Wann immer früher irgendwo Bauern aus dem Wald kamen oder eine Blockade war, mußten sie mit ihren Einheiten, schwerfällig wie sie waren, erstmal dahinfahren über wiederum gesperrte Straßen oder durch den Wald. Deshalb haben sie sich die alte Napoleon-Strategie zunutze gemacht. Das ist, glaube ich, das aktuellste. Sie zetteln die Herde dort an, wo sie in der Überzahl sind und können sich darauf verlassen, daß wir uns dann über unsere Ketten - Telefon, Handy, SMS -, auch dahin mobilisieren. "Kommt sofort alle dahin, da ist was los!" Und die Polizei, schlau wie sie inzwischen ist, macht dort den Alarm, wo sie gut aufgestellt ist.

SB: Mit Agents Provocateurs?

GH: Ja, das haben wir oft genug erlebt. Ich habe das selber erlebt. Wir haben den Bundesverband der Bürgerinitiativen mit einem großen Bus durch den Landkreis gefahren und sind dann im Verlauf dieser Vor-Castor-Demonstrationen kurz vor dem Verladekran an eine Sperre gekommen. Dort wurden wir durch die Polizei gestoppt und gefragt, wo wir hinwollten. Ich habe zu dem gesagt: "Wir sind verdeckte Ermittler." Daraufhin ist der zum Wagen zurückgelaufen, kam wieder und fragte uns nach dem Passwort. Dann habe ich ein Passwort genannt, er rannte wieder zurück, den Kopf ins Auto gesteckt, kam wieder zurück und sagte: "Das Passwort ist falsch." (lacht)

SB: Alles klar.

GH: Dann war das klar. Wir sahen natürlich auch alle so aus wie solche Leute. Im Bundesverband der Bürgerinitiativen sitzen Leute vom Imkerverband und sonst was, die einen mit langen Bärten - also, eine tolle Komikertruppe. Die hätte genau für solche Zwecke verkleidet sein können. Deshalb ist uns auch klar, daß es das natürlich alles gibt. Die Polizei wäre aus ihrer Sicht schlecht beraten, einfach nur dazustehen und aufzupassen. Die sind im Vorfeld dabei, sie haben einen technischen Apparat am Start, sie können sozusagen risikolos an dem Widerstand üben für kommende Zeiten.

Aber für was? Für was üben die da? Einsatz von Hubschraubern, Wärmebildkameras und und und. Es ist doch noch nie ernsthaft was passiert! Das ist doch ein Bürgerprotest in Gorleben! Wenn wir uns mal Frankreich angucken oder Italien, da wäre das schon ganz anders eskaliert. Trotzdem wollen sie uns immer wieder in die gewaltbereite Ecke schieben, indem sie möglicherweise auch Provokateure einschleusen, immer dann, wenn sie merken: "Oh Gott, jetzt sitzen hier zu viele Leute friedlich auf der Straße, was machen wir denn nun?" Die Polizei kann ja nicht einfach ohne Grund dazwischenhauen. Da reicht ein Stein gegen ein Auto, gegen einen Wasserwerfer, und dann haben sie ihren Vorwand. Diese Formen spielen seit Jahren mit hinein, das geht hin und her. Die einen reagieren auf den anderen.

Taktisch ist die Polizei natürlich besser aufgestellt, sie hat nur einen schwerwiegenden Fehler: Sie denkt hierarchisch, und das gibt es im Widerstand gar nicht. Sie suchen immer nach den Rädelsführern und glauben, wenn sie die wegfangen, dann stehen die anderen hilflos da. (lacht) Das wäre bei ihnen der Fall, wenn der leitende Polizeidirektor ausfällt, dann muß erst künstlich geguckt werden, wie die Befehlsstruktur weitergeht. Das ist, so wie Hermann Scheer es sagte, einfach ein ganz anderes System. Die interpretieren die Dinge dort ganz anders: Wir sind die Störer, wir sind eine Menge, und die ist sozusagen hierarchisch zu bedienen, mit absperren und so weiter. Aber der Widerstand dort, das sind einzelne Gruppen, einzelne Trupps; vielleicht sprechen sich einfach nur mal ein paar Bauern ab. Es gibt keine Lenkung, und deshalb kann man das auch gar nicht lenken, und deshalb ist das auch ein wirklicher Protest und ein Widerstand. Weil sich keiner mit Mikro hinstellen und sagen kann, jetzt machen wir alle das, bringt alle das mit und dann machen wir um zwölf Uhr alle das. So etwas funktioniert nicht.



Aufmerksames Zuhören
© 2010 Schattenblick


SB: Sie hatten sich bei der gestrigen Podiumsdiskussion zu Wort gemeldet, nur war die Zeit am Ende ein bißchen knapp. Waren Sie mit der Diskussion zufrieden?

GH: Mir geht das immer so, daß ich von Leuten beeindruckt bin, die authentisch sind und es ehrlich meinen, und dann ist man auch geneigt, ihnen etwas zugute zu halten. Erst heute beim Vortrag von Hermann Scheer merkte ich, wieviel Unsinn gestern dabei war. Das hatte ich nur gefühlt, aber ich konnte es nicht äußern. Ich dachte, der Kirchenmann ist nett. Der konnte gut sprechen, und das war alles prima, und die Gesine Lötzsch hat auch gesagt, "Sie sind ein geborener Politiker", und das freute ihn auch. Aber er hat den Konsens verteidigt und hat nicht verstanden, warum wir sagen, der Konsens war Nonsens.

Noch brisanter war der von den Stadtwerken gewesen, der nur den Neubau von Kohlekraftwerken verteidigt hat. Das ist genau das Problem, das wir in diesem Systemzusammenhang haben, daß der unverdächtig ist, weil er ja nur von den Stadtwerken kommt und kommunal ist; er ist nicht groß und nicht E.ON-abhängig. Aber er sagt: "Es geht nicht anders, Leute, wir müssen ja auch vorhalten, wir sind doch gezwungen." Das sind alles Auswirkungen dieses zentralistischen Denkens und des Systems. Es sei dem Mann zugute gehalten, daß er in seinem System denkt - warum sollte er auch außerhalb denken? Aber wie machen wir das, daß der anfängt, außerhalb zu denken? Geht das? Das wurde gestern auch als Beispiel genannt: Dann ist er seinen Job los. Dann wird er als Kommunist nach Hause geschickt, wenn er sagt, das System ist der Fehler. Wobei wir noch nicht einmal unser gesellschaftliches System angreifen müßten, es reicht ja, unser Energiesystem in Frage zu stellen.

SB: Hermann Scheer sagte vorhin ebenfalls, daß es eigentlich um keine energietechnische, sondern eine gesellschaftspolitische Frage geht ...

GH: Ja!

SB: ... aber zielt sein Ansatz nicht doch zunächst einmal auf die Energiefrage?

GH: Ja. Es läuft jetzt gerade auf Arte ein Zweiteiler über das Erdöl. Daran kann man wunderbar den roten Faden sehen und begreifen, daß die Kämpfe der letzten sechzig, siebzig, achtzig Jahre, eigentlich beinahe bis hin zum ersten Weltkrieg, um das Öl stattgefunden haben, welche Begehrlichkeiten das geweckt hat und was alles dafür eingesetzt wurde. Dann versteht man eigentlich, worum es geht, wenn Scheer von der globalen Vernetzung durch die Energiesysteme spricht. Da sind die eigentlichen Machtzentralen im Hintergrund, denn jedes Land muß Energie bereitstellen, für wen auch immer.

SB: Den Einwohnern von Nigeria, die da wohnen, wo das Öl aus der Erde gepumpt wird, geht es ziemlich dreckig damit. Sie sind extrem verarmt.

GH: Ja, die haben überhaupt nichts davon. Noch schlimmer sind die verseuchten Gebiete, wo das Uran gefördert wird. Auch das ist überhaupt nicht in unserem Fokus, in unseren Diskussionen hier. Wenn die Leute auch das noch wüßten, was dort beim Zusammenkratzen von Uran angerichtet wird, das immer unergiebiger ist, bevor man das Gestein überhaupt nutzen kann. Das ist unglaublich. Allein in Wismut Aue gibt es noch heute zwölftausend anerkannte Fälle von Berufsunfähigkeit durch den Uranabbau. Es sind schon Tausende gestorben. Das hat hier stattgefunden, bei uns! Wie wir vorhin gehört haben, kostet die Sanierung Milliarden. Das sind unglaubliche Folgekosten.

SB: Und mit der DU-Munition, der Munition aus abgereichertem Uran, wird das Uran in der Welt verteilt, beispielsweise in Kosovo, Afghanistan, Irak. Ist das auch Thema von Ihrer Bürgerinitiative?

GH: Ja, natürlich, unser Pressesprecher Wolfgang Ehmke hat das ja angesprochen. Für mich war das immer ein Thema, das zuwenig belichtet wurde. Wir haben darüber diskutiert und haben diesen Zusammenhang auch mit in unsere Arbeit aufgenommen. Außerdem können sich die Leute das gar nicht vorstellen. Sie wissen, daß eine alte Patronenhülse, für irgendeine Kanone, in Ölpapier eingewickelt auch nach sechzig Jahren noch schießt. Aber die hochwertigen Atomwaffen, die müssen immer nachgeladen werden. Die müssen immer neu bestückt werden. Deshalb gibt es diese Begehrlichkeit um das waffenfähige Plutonium.

Das ist noch gar nicht ausgereizt und abgeschlossen mit dem siebenfachen Overkill oder wieviel auch immer. Man könnte ja sagen, daß es nun mal gut sei. Nein, die Begehrlichkeiten wachsen, und andere wollen die Bombe auch haben. Deshalb nennen wir sie dann Schurkenstaaten, weil wir befürchten müssen, daß, wenn die solche Waffen haben, das dann gefährlich wird und die damit um sich werfen - nicht wie wir, wir machen das ja vernünftig, wir werfen ja mit Atomwaffen vernünftiger um uns, nicht?

SB: Wenn man sagt, Wachstumspolitik ist problematisch, bedeutet dann das Gegenteil davon so etwas wie Einschränkungen für alle?

GH: Es gibt von dem guten alten Ivan Illich den schönen Begriff "konvivial", "konviviales Leben". Mir ist vor kurzem wieder ein Buch von ihm in die Hände gefallen - Schulen helfen nicht und so weiter. Darin betreibt er Gesellschaftskritik von Anfang an. Er beschreibt, was dezentral, Energie vor Ort, heißt. Es würde sich etwas ändern, aber es würde nicht schlechter werden. Mit dem Weniger definieren wir vom falschen Standpunkt aus, was ein schlechteres Leben sein muß. Einsparen hört sich immer nach Gürtel enger schnallen an. Aber Illich fragt, und das frage ich mich natürlich auch, was uns alles an Lebensqualität, an Solidarität, an Auseinandersetzung, an Kommunikation und so weiter verloren geht. Die Menschen leiden doch auch gerade bei uns darunter. Meine Frau führt ein Tagungshaus, da kommen immer ganz viele Gruppen, beispielsweise Körper- und Psychotherapiegruppen. Die Therapeuten spiegeln das wunderbar, was gerade läuft. Die Menschen merken, daß sie zur Ware verkommen. Sie sind nur noch das wert, ganz konkret, was sie für andere wert sind. Sonst bleibt nichts mehr übrig. Vorher gab es immer noch einen Rest, den konnte man dann sozusagen privat machen. Da war man noch außerhalb seines Berufszusammenhanges in Vereinen, hatte Hobbys, seine Verwandtschaft, Freundeskreise. Da galt das nicht: Wieviel verdienst du im Monat? Ich glaube, daß ist durch den Druck in dieser Gesellschaft sehr viel stärker geworden, so daß da kein Rest mehr übrig ist und sich die Menschen nur noch verwurstet fühlen.

Die Sprache ist ja verräterisch und natürlich können wir mit Sprache nicht das Gesellschaftssystem ändern, aber wir können es zementieren, wenn wir sie immer falsch benutzen. So fällt mir auf, daß viele Menschen glauben, Kernkraft sei was anderes als Atomkraft und das für friedlicher halten. Oder Tschernobyl. Das ist Atomkraft, und was wir machen, ist Kernkraft. Die Betreiber machen das ganz geschickt, indem sie damit herumspielen. Gesellschaftlich ist das Spiel, wir nennen das - Hermann Scheer übrigens auch - Privatisierung. Ich finde, das ist ein fataler Begriff, wir sollten ihn Kommerzialisierung nennen. Weil "privat" wirklich nach nett und zu Hause klingt und nach "wir alle unter uns". Das Gegenteil ist der Fall. Privatisierung ist das Gegenteil von dem, was sie damit beschreiben wollen. Auch deshalb fallen so viele darauf rein und sagen, na ja, was soll ich jetzt dagegen haben, daß die Beamtenschaft, von der jeder weiß, daß keiner da richtig arbeitet, endlich mal in vernünftige Hände kommt und privatisiert wird. Also, es gibt sprachlich ganz viel, was wir beobachten müssen, um nicht immer wieder das zu bedienen, was sozusagen den Kreis schließt.

SB: Herr Harder, wir bedanken uns für das Gespräch.



Gerhard Harder und SB-Redakteur beim Tausch der Email-Adressen
© 2010 Schattenblick


Anmerkungen:

Die Schattenblick-Redaktion wird die Berichterstattung zur Energiekonferenz in den kommenden Tagen vertiefen und die Beiträge wie gewohnt unter POLITIK -> REPORT -> BERICHT und POLITIK -> REPORT -> INTERVIEW einstellen.

Näheres unter:
BERICHT/033: Energiekonferenz - sozialer Widerstand gegen Monopolanspruch der Atomwirtschaft (SB)
BERICHT/034: Energiekonferenz - Podiumsdiskussion zu Alternativen der Atomwirtschaft (SB)
BERICHT/035: Energiekonferenz - Fachvorträge mit Biß gegen Profitstreben und Kontrollzuwachs (SB)
BERICHT/036: Energiekonferenz - Foren und Workshops zur Abschaffung der Atomkraft (SB)
INTERVIEW/044: Energiekonferenz - Alexis Passadakis von Attac (SB)
INTERVIEW/045: Energiekonferenz - Wolfgang Ehmke von der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg (SB)

12. September 2010