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INTERVIEW/078: "Taste the Waste" - Valentin Thurn, Regisseur (SB)


Interview mit dem Regisseur Valentin Thurn am 11. September 2011 in Hamburg


Am 11. September wurde im Hamburger Abaton-Kino der Film "Taste the Waste" gezeigt. Nach der Vorführung stellten sich der Regisseur Valentin Thurn und einige Podiumsteilnehmer dem Publikum für Fragen zur Verfügung. Im Vorfeld dieser Veranstaltung hatte sich Valentin Thurn Zeit für ein Interview mit dem Schattenblick genommen.

Valentin Thurn - Foto: © 2011 by Schattenblick

Valentin Thurn
Foto: © 2011 by Schattenblick

Schattenblick: Wie erklären Sie sich, daß das Thema Lebensmittelvernichtung derzeit auf so großes Interesse stößt?

Valentin Thurn: Ich denke, wir haben es tatsächlich mit einem Megathema zu tun. Bereits bei den Dreharbeiten ist mir weltweit aufgefallen, daß die Menschen ein Unbehagen gegenüber den industriellen Methoden der landwirtschaftlichen Produktion und Verteilung verspüren. Es gibt eine Reihe von Skandalen, aber die Menschen wissen nicht so richtig, welche Konsequenzen sie daraus für sich ziehen können. Ich habe das Gefühl, als ob man mit dem Thema offene Türen einläuft. Tatsächlich habe ich eine große Bereitschaft zuzuhören angetroffen, vielleicht weil jeder täglich Lebensmittel in den Müll wirft, aber das mit schlechtem Gewissen. Ich bin durchaus ein politischer Mensch und denke, man darf die unfähigen Politiker nicht aus ihrer Verantwortung entlassen, allerdings kann es in einem gewachsenen System selbstverständlich nicht den einen Bösewicht geben. Klar, der Handel trägt eine sehr große Verantwortung, aber es ist ein System, und wir stecken mittendrin.

Eigentlich ist das eine Erkenntnis, die wachrüttelt. Mir ging es jedoch nicht nur darum, wachzurütteln oder zu provozieren, denn dann könnte es leicht dazu kommen, daß man sich angesichts der globalen Probleme plötzlich sehr hilflos fühlt. Das war nicht mein Ansatz, sondern ich wollte den Leuten das Gefühl geben, jeder kann etwas dazu beitragen. Ich glaube, das wurde auch mit viel Erleichterung wahrgenommen: Es gibt große globale Probleme, alles stürzt ein, aber ich kann auch etwas tun und muß mich nicht dafür kasteien, sondern profitiere vielleicht sogar persönlich davon, wenn ich mich wieder mit der Frage befasse, wo mein Essen herkommt.

SB: In Ihrem Film werden sehr ausführlich regelrechte Zwangslagen der verschiedenen Akteure dargestellt, wo man eigentlich, wie Sie schon erklärten, nicht genau sagen kann, wer jetzt eigentlich dahinter steckt. Im großen und ganzen ließe sich das jedoch auf den Begriff der Marktwirtschaft bringen, weil die Akteure in einem Konkurrenzverhältnis zueinander stehen. Die Marktmechanismen treiben sie zu einer immer höheren Rationalisierung in der Produktion und Distribution. Sie haben im Film verschiedene Lösungsansätze aufgezeigt. Glauben Sie, daß die notgedrungen im marktwirtschaftlichen Rahmen vollzogen werden müßten?

VT: Die Marktwirtschaft, so wie sie jetzt läuft, hat ein grundsätzliches Problem: Sie ist auf Wachstum gepolt. Es gibt zwar Diskussionen unter dem Stichwort, ob Wohlstand ohne Wachstum möglich ist, fest steht jedoch, unabhängig ob das nun funktioniert oder nicht, daß dieses Wachstum irgendwann ausgereizt ist. Wenn wir uns frühzeitig Gedanken machen, welche anderen Möglichkeiten es gibt, werden wir unseren Wohlstand länger behalten können, als wenn wir das Ding gegen die Wand fahren lassen. Ich glaube an die Kraft der kleinen Schritte, aber nicht daran, daß das System über diese vielen kleinen Schritte revolutioniert wird, sondern daß sich darüber die innere Einstellung verändert, die dann wiederum andere Veränderungen nach sich zieht. Das meine ich mit der Kraft der kleinen Schritte. Das ist eher eine mentale Geschichte. Von einer staatlich gelenkten Wirtschaft, die ja ohnehin nicht mehr zeitgemäß ist, träume ich ehrlich gesagt nicht. Da bin ich auch ernüchtert. Aber die Marktwirtschaft, wie sie jetzt existiert, hat einen Webfehler. Das ist auch offensichtlich.

SB: Können Sie sich vorstellen, daß diese Überschußproduktion, die bisher entweder auf freiwilliger Basis über die Tafeln oder frei organisiert durch die sogenannten Mülltaucher unter die Menschen gebracht oder eben vernichtet wird, in administrative Kanäle gerät? Indem zum Beispiel gesagt würde: 'Hartz IV reicht nicht aus, der Ernährungssatz ist zu klein. Wir organisieren das jetzt staatlich und nehmen etwas von den Überschüssen und teilen das zu.' Hielten Sie das für einen gangbaren Weg oder birgt es aus Ihrer Sicht eine Gefahr, wenn der Anspruch auf Sozialhilfe immer weiter zugunsten beispielsweise von Sachspenden reduziert und eine Zwei-Klassen-Ernährung etabliert würde?

VT: Die Tafeln sind keine echte Lösung. In einer Situation wie heute, wo es noch Überschüsse gibt, stellen sie immer noch die beste Alternative dar, weil es den Menschen zugute kommt. Die Sozialämter behaupten zwar immer, daß sie das nicht wollen, aber sie würden natürlich liebend gern die Lebensmittel auf die Sozialhilfe anrechnen. Bislang wurde es ihnen untersagt, aber ich weiß nicht, wie lange wir noch warten müssen, bis wir den Tag erleben, wo es doch dazu kommen wird. Die eleganteste und nachhaltigste Lösung wäre allerdings, den Überschuß zu vermeiden. Da gibt es durchaus viele Ansätze. Ich finde den Teil der durchaus heterogenen Tafelbewegung, der politisch denkt und sagt, wenn wir uns eines Tages überflüssig gemacht haben, ist unser Ziel erreicht, anerkennenswert. Diejenigen jedoch, die nur karitativ klein-klein arbeiten, überzeugen mich zugegebenermaßen nicht.

SB: Es gibt auch Menschen, die fordern, Nahrungsmittel müßten schlichtweg teurer werden, um die Produktionsbedingungen ökologischer zu gestalten. Würden Sie dem zustimmen?

VT: Darum kommen wir tatsächlich nicht herum. Andererseits spare ich in dem Moment, wo ich effizienter mit Nahrungsmitteln umgehe, auch etwas ein. Ich denke schon, daß die Landwirte vollkommen unterbezahlt werden. Im Tauschverhältnis zu dem, was sie produzieren, stimmt etwas mit dem Wert nicht. Der Durchschnitt der Bundesbürger hätte sicherlich kein Problem mit einer kleinen Preiserhöhung, da zehn bis zwölf Prozent des Einkommens für Lebensmittel ausgeben werden. In den 1960er Jahren waren das noch 40 bis 50 Prozent. Damals hat man noch ganz anders übers Wegwerfen gedacht, weil es eben auch wehtat. Heute tut das kaum noch jemanden weh. Aber für jenen kleinen Bevölkerungsteil, der vom Anstieg im Preisniveau vielleicht betroffen wäre, müßte das irgendwie sozial abgefedert werden.

Das hat nicht nur mit der Unterstützung durch Geld zu tun, sondern auch mit der Vermittlung von Kenntnissen. So mußte man zum Beispiel einen Teil der Tafelkundschaft erst mit Kursen dazu heranführen, daß er sich sein Gemüse kochen konnte. Die Menschen hatten die Zubereitung von Lebensmitteln schlichtweg verlernt. Das ist über Generationen in der Stadt einfach so passiert. Und das wäre eigentlich die günstigere Form, sich zu ernähren, viel günstiger als durch Junk Food - die Industrie will uns jedoch das Gegenteil weismachen. Das Problem anzugehen halte ich für wichtiger, als die Menschen immer nur mit Geld zu unterstützen.

SB: Der Verlust an Kulturtechniken wie das Kochen wird dann durch Convenience Food kompensiert, das man schnell in die Mikrowelle schieben kann ...

VT: Das Problem ist nicht nur, daß das teurer ist, sondern daß die Menschen dadurch von der Industrie abhängig werden. Die weckt Bedürfnisse, sucht nach Wachstum und erfindet immer weitere Bedürfnisse.

SB: In den Ländern des Südens wird praktisch alles verwertet, weil die Menschen ihr Überleben nicht anders organisieren können. Dort hat sich ja auch eine Kleinbauernbewegung gebildet, die in Lateinamerika besonders stark vertreten ist. Wäre das für Sie ein Vorbild für eine nachhaltige Lebens- und Ernährungsweise und würden Sie das unserer Wirtschaftsweise gegenüberstellen?

VT: Daß sie sehr viel nachhaltiger leben, ist offensichtlich. Sie essen weniger Fleisch und gehen sparsamer mit den Ressourcen um. Nur passiert leider in den Entwicklungsländern etwas, das auch zu sehr viel Lebensmittelverschwendung führt, jetzt aber nicht aus Gleichgültigkeit, sondern weil die Infrastruktur zwischen den Feldern und den Städten - Straßen, Kühlhäuser, etc. - nicht existiert. Da fehlt das Kapital, um infrastrukturelle Maßnahmen zu finanzieren. Ich glaube, da wird sich in den nächsten Jahren ein Feld der Entwicklungszusammenarbeit auftun. Die Welternährungsorganisation verfolgt bis zum Jahr 2030 das Ziel, daß, wenn die Weltbevölkerung steigt und die Schwellenländer mehr Fleisch verzehren, bis zu 70 Prozent mehr Lebensmittel erzeugt werden. Das ist überhaupt nicht zu schaffen, weder mit Gentechnik noch mit dem Einsatz von Düngemitteln! Abgesehen davon, daß dadurch das Klima weiter belastet wird. Das ist ein Wahnsinnsziel.

Andererseits sind sie vor einem halben Jahr auf den Trichter gekommen, daß sich eine große Menge einsparen ließe, wenn man die Kleinbauern darin unterstützt, ihre Produkte auf den Markt zu bringen, ohne daß die Ware zwischendurch verrottet. Drehen wir also ersteinmal an dieser Stellschraube, die wir bisher vernachlässigt haben, bevor wir an der Intensivierung der Landwirtschaft drehen, die ohnehin für das Elend vieler Kleinbauern verantwortlich ist. Diese Erkenntnis wäre im doppelten Sinne gut. Aber so schizophren, wie große Organisationen nun einmal sind, haben sie das 70-Prozentziel immer noch nicht aufgegeben.

Jetzt aber gleichzeitig zu sagen, Effizienz sei etwas, das auch den Kleinen zugute kommt, erinnert ein wenig an die Energiedebatte. Kurz- und mittelfristig auf regenerative Energien setzen ist gut und schön, aber zugleich ist die größte Energiequelle das Energiesparen! Langfristig verhält es sich natürlich nochmal anders, aber mit Blick auf die nächsten 20 Jahre muß man sagen, gibt es kein wirksameres Mittel. Das gleiche gilt für Lebensmittel. Ich glaube, die entscheidende Triebfeder, die uns so weit gebracht hat, ist das industrielle Erzeugen und Verteilen. Aber wie kommt man davon zurück? Wollen wir jetzt wirklich kleinbäuerliche Strukturen auch in Deutschland einführen? Das ist wahrscheinlich illusionär. Andererseits stellt sich die Frage, ob es erforderlich ist, daß bei einer Großproduktion immer links und rechts so viel herunterfällt. Kann man das nicht optimieren?

SB: In Ihrem Film kommt ja auch Herr Graefe zu Baringdorf zu Wort, der ein anderes Konzept verfolgt.

VT: Ja, ich glaube schon, daß es Regulierungen gibt, die marktwirtschaftlich kompatibel sind. Müllgebühren erhöhen, weniger scharfe Normierungen, vielleicht steuerliche Benachteiligungen. Das wären Regulierungen, die zwar in das Wirtschaftsgeschehen eingreifen, aber nicht den Unternehmen die Lösung vorschreiben, damit sie die Lebensmittel nicht in die Tonne werfen. Was sie dann machen, dazu kann man ihnen Alternativen überlassen: Sie können sie billiger verkaufen, an die Tafeln geben, an die Kunden verschenken oder was auch immer.

SB: Wobei die Entsorgung des Lebensmittelüberschusses bereits in die Waren eingepreist wird. Für die Konsumenten bedeutet das faktisch ein Anstieg der Müllgebühren, wenn sie höhere Preise für Lebensmittel bezahlen, weil die Firmen von vornherein mit einer Mehrproduktion rechnen.

VT: Ja, wir zahlen das alles mit. Wir haben das in dem Buch ausführlich analysiert ["Die Essensvernichter" (2011), Valentin Thurn und Stefan Kreutzberger]. Es läßt sich historisch nachvollziehen, wie sich das in der Nachkriegszeit mit der Waren-Distribution in den Supermärkten entwickelt hat. Aber was bringt uns diese Betrachtung? Sie bringt uns zumindest die Erkenntnis, daß der Supermarkt an sich ein Problem darstellt. Ich glaube zwar nicht, daß wir das System in der Art revolutionieren können, daß die Supermärkte abgeschafft werden. Vielleicht muß man das aber auch gar nicht, möglicherweise reicht es, wenn sich fünf Prozent der Kunden für radikale Lösungen wie Food-Coops entscheiden. Je mehr da hindrängen und das Modell dann populärer wird, desto mehr wird der Handel darauf reagieren, weil sie sonst immer mehr aus dem Markt verschwinden würden. Sie werden sich ändern, da bin ich mir sicher.

SB: Haben Sie den Anspruch, nicht nur einen Film zu machen, sondern durchaus auch zu einer sozialen Bewegung anzuregen?

VT: Anspruch ist vielleicht zu hoch gegriffen. Es gab bereits vorher Bewegungen, die sich mit dem Thema beschäftigt haben. Ich glaube, das einzige, was ich gemacht habe, ist, die Bewegungen zu vernetzen, die schon vorhanden waren. Umwelt- und Entwicklungsverbände haben hin und wieder beim Thema Konsumstile zusammengearbeitet. Nur blieb das in der Regel bei Spar-Appellen. Wir haben das ein wenig erweitert. Daran sind jetzt auch Verbraucherinitiativen, Ernährungsberatungsstellen, die Initiative Slow Food vor allem, beteiligt. Das ist für mich das Synonym für diese Message, die eigentlich im Zentrum steht, aber alles andere beinhaltet: Leute, ihr gewinnt an Lebensstandard, wenn ihr euch wieder Gedanken macht, wo eure Lebensmittel herkommen. Was sind sie eigentlich wert? Gebt ein bißchen mehr aus für das einzelne Stück Fleisch, aber kauft dann eben weniger. Das ist sowieso besser für die Gesundheit. Und automatisch werft ihr weniger weg und tut noch etwas für Umwelt und Welthunger - das ist, sagen wir mal, das Nebenprodukt.

SB: Obwohl es eine gewisse Mobilisierung zugunsten der Hilfe in Somalia und der Krise in Ostafrika gab, würde man heute mit einer solchen Botschaft, bei der es um den Welthunger an erster Stelle geht, wohl nicht die nötige Resonanz erzeugen.

VT: Nein, die Leute sind betroffen, wenn sie Hungernde sehen. Aber was geschieht? Man schaut sich das an, fühlt sich klein und hilflos, und am nächsten Tag macht man genauso weiter wie vorher. Das Thema Konsumstile ist ein hartes Brett. Ich denke aber, es ist etwas schiefgelaufen in unserer Eßkultur. Die Leute fühlen sich unwohl damit. Ich glaube, gerade junge Leute machen sich Gedanken darüber. An dem Hebel sollte man ansetzen. Ob sich daraus eine mehrheitsfähige Bewegung entwickelt, weiß ich nicht, aber es gibt viele, die längst nach einer Orientierung suchen. Das habe ich nicht erfunden, das ist ein Trend, der seit mehreren Jahren zu beobachten ist. Seit ungefähr fünf Jahren spürt man dieses Unbehagen.

Valentin Thurn und SB-Redakteur - Foto: © 2011 by Schattenblick

Valentin Thurn und SB-Redakteur
Foto: © 2011 by Schattenblick

SB: Sie tragen auf dem T-Shirt eine Grafik, die an Filme wie "Super Size Me" anknüpft und etwas von einem Comic-Appeal hat. Aber gleichzeitig ist Ihr Film überhaupt nicht spektakulär, sondern sehr nüchtern. Das Interessante kommt tatsächlich aus dem Inhalt. Sind Sie als Medienmacher darauf angewiesen, auf eine konventionelle Weise zu vermarkten?

VT: Ja, sicher. Was die Grafikerin entworfen hat, hat sicherlich mit den Versatzstücken und Assoziationen zu tun, die es ohnehin schon gibt. Ich fand das Plakat ganz schön, aber wenn ich jetzt gefragt worden wäre, ob ich damit die Ästhetik im Film gestalten wollte, hätte meine Antwort gelautet: Nein, das paßt nicht zusammen. Ich habe gerade keinen provokativen Stil. Ich finde es in Ordnung, was andere machen - besonders im Food-Bereich gibt es sehr kämpferische Filme -, aber ich wollte dagegen vor allem das Gefühl der Hilflosigkeit bei globalen Problemen betonen. Es hat mich immer geärgert, daß das bisher gefehlt hat. Jeder kann etwas tun, das ist doch das Schöne daran. Das wollte ich aufbrechen.

Ich sehe mich durchaus als einen kritischen Menschen. Aber wenn man ein Thema hat, bei dem man allzu leicht den Schwarzen Peter hin und her schieben kann, dann ist es Konsumstile. Dem wollte ich nicht nachgeben, sondern sagen: Hier, du bist mittendrin, aber du kannst auch etwas tun. Ich wollte auch wiederum nicht nur mit dem Finger auf den Verbraucher zeigen. Es gibt keinen Schwarzen Peter, alle hängen drin, alle müssen etwas tun. Das System, wie es im Augenblick ist, wird in den nächsten 20, 30 Jahren nicht mehr stabil bleiben.

SB: Sie haben mit dem ersten Film schon Einfluß genommen und es gab auch Reaktionen politischer Art. Dokumentationen werden ansonsten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen stark zurückgefahren. So haben es Dokumentarfilmer unglaublich schwer, ihre Projekte im Medienbetrieb finanziert zu bekommen oder auch Sendeplätze zu erhalten. Können Sie sich vorstellen, daß es zu einer Renaissance für politisch bewußte Filme kommt, um mit Dokumentationen auch in den Mainstream-Medien vielleicht eine Art von Gegenöffentlichkeit zu erzeugen?

VT: Ich hatte bei dem Thema durchaus starke Unterstützung erhalten. Aber man darf sich nichts vormachen, das hatte damit zu tun, daß es quotenträchtig war. Was sich auch erfüllte. Es gab eine absolute Rekordquote für den Vorläuferfilm "Frisch auf den Müll". Was mich im besonderen gefreut hat, waren die direkten Antworten aus der Politik. Nun ist es interessant zu wissen, daß wir uns dumm und dämlich gesucht haben, aber in Deutschland gab es niemanden, der über das Thema Bescheid wußte. Alle unsere Experten sind entweder aus dem Ausland oder haben dort lange Zeit gelebt. Die Debatte ist in anderen Ländern sehr viel weiter, sie tobt da schon seit Jahren. In Deutschland war sie nicht existent.

Mir gefällt es, daß die Politik trotzdem relativ schnell darauf reagiert hat, weil auch sie erkannt hat, daß es sich um ein Thema handelt, das die Menschen berührt. Die Leute haben teils richtig ärgerlich reagiert. Fünf Tage nach der Ausstrahlung kam der Verbraucherminister Nordrhein-Westfalens, Johannes Remmel, und erklärte: Wir möchten einen runden Tisch zwischen Bauern und Handel einberufen, um darüber zu diskutieren, wie man in dieser Situation die Normen, die soviel Müll auf dem Feld verursachen, verändern kann. Ich weiß nicht, ob der runde Tisch zu einem Ergebnis kommen wird, aber immerhin haben sie sich getroffen und jetzt auch eine Studie in Auftrag gegeben. Kurz darauf kam auch Ilse Aigner, hat sich dem ebenfalls angeschlossen und gesagt: Es ist kein Zustand, daß wir noch nicht einmal wissen, wo und wieviel Müll produziert wird. Wir lassen das jetzt einmal messen. Nun muß man abwarten, ob das ernstgemeint war.

SB: Diese Müllmessung, die Sie vorgestellt haben, gibt es in Österreich, aber in Deutschland bisher noch nicht?

VT: Nein.

SB: Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, wie sehr alles andere sonst administriert wird.

VT: Ja, es gibt nichts dergleichen. Wir wissen über Bio-, Aluminium- und jede andere Fraktion des Mülls Bescheid, aber wir wissen nichts über Lebensmittelmüll. Das ist wirklich interessant, denn bei der Beschäftigung mit Lebensmitteln wird deutlich, daß sie eine große Auswirkung auf das Weltklima haben. Dann das Thema Wasserverbrauch. Seit ungefähr zehn Jahren setzt man sich intensiver damit auseinander. Diese Entwicklung hat Deutschland verschlafen, während die Amerikaner, die ja sonst nicht als die Fortschrittlichsten gelten, bereits erste Studien durchgeführt haben.

SB: Vielleicht liegt das auch daran, daß in den USA im Unterschied zu Deutschland wesentlich mehr Menschen von staatlicher Lebensmittelhilfe abhängig sind, die Zahl liegt derzeit bei über 40 Millionen. Das bedeutet, daß die Not in den USA in einem viel größeren Ausmaß präsent ist. Ähnliches gilt für England, wo die Regierung vor kurzem sogar angemahnt hat, mehr in die Landwirtschaft zu investieren, weil gerade mal 50 Prozent der Nahrungsmittel im eigenen Land produziert werden.

VT: Es sind genaugenommen sogar unter 50 Prozent. Das ist der Hauptgrund dafür, daß England so früh in die Debatte eingestiegen war, als 2008 die Nahrungsmittelpreise explodierten und die Wissenschaftler prognostizierten, daß sich das wiederholen und immer schärfer werden wird. Also hat man in England angefangen, sich Gedanken zu machen. Deutschland hat, glaube ich, eine Eigenversorgung von ungefähr 70 Prozent. Da läßt sich etwas gelassener in die Zukunft blicken, aber auch nur ein bißchen.

SB: Ein englischer Minister hatte 2007, 2008 darauf hingewiesen, daß sich die Verbraucher darauf einstellen sollten, nicht mehr alle Waren in den Supermarktregalen vorzufinden. Das hatte den Beiklang einer Vorbereitung auf eine zukünftige Mangelverwaltung.

VT: Ja, aber haben wir in Deutschland von dieser Ernährungskrise etwas gespürt? Wir haben gar nichts davon gespürt, und die Engländer haben es auch nicht wirklich gespürt. Die Aussage des Ministers war sicherlich etwas übertrieben, aber zumindest haben sie sich Gedanken gemacht. In den Entwicklungsländern war die Krise deutlich zu spüren. Da kam es in rund 40 Ländern zu Lebensmittelunruhen; Regierungen sind darüber gestürzt. Als 2010 die neue Preis-Rallye einsetzte, haben einige Regierungen entsprechend dafür gesorgt, daß die Brotpreise subventioniert werden, damit nicht ähnliches wieder passiert. Die wollen an der Macht bleiben. Aber das können sie natürlich nur, wenn sie Finanzreserven haben. Ewig kriegen sie das auch nicht hin.

SB: Sind Sie eigentlich mit diesem Thema an die ARD herangetreten oder war es umgekehrt?

VT: Wir sind eine kleine Produktionsfirma und haben dieses Thema entwickelt, wie man so schön sagt. Bei sogenannten Pitchings, Filmfestivals, stellt man das dann vor. Wir wollten von Anfang an eine internationale Co-Produktion daraus machen, weil uns klar war, daß das Budget ein bißchen größer sein wird, als uns ein einzelner Sender wie unser Haussender WDR in Köln normalerweise zur Verfügung stellt. Wir wollten das Projekt auch ein bißchen anders gestalten. Dieser Moment - wir gehen ins Kino und wir machen was mit sozialen Bewegungen - war uns von Anfang an wichtig. Wir wußten, daß das, anders als das hierzulande immer hochgehalten wird, wo man sagt, beim angelsächsischen Modell ist der Journalist distanziert und bezieht keine Stellung, angesichts der globalen Themen wie Klimaerwärmung und Welthunger für uns nicht in Betracht kommt. Gerade bei diesen kontroversen Themen war es uns wichtig, daß der Filmemacher Stellung bezieht.

Als ich einmal während der Fernsehausstrahlung das Wort Kampagne erwähnte, zuckten die Damen und Herren Redakteure zusammen. Das entsprach nun nicht ihrer Vorstellung. Sie legen sehr starken Wert auf ihre Unabhängigkeit. Finde ich auch gut, denn sie wollen sich vor keinen Karren spannen lassen. Das will ich allerdings auch nicht. Ich arbeite mit Slow Food und Brot für die Welt zusammen, die ihre eigene Agenda haben. Das weiß ich, und so gibt es nur eine punktuelle Zusammenarbeit. Wir sind schließlich keine Organisation, sondern eine Filmproduktion. Aber sie profitieren natürlich von dem Hype, den wir jetzt mit dem Film erzeugen konnten. Das ist durchaus gewünscht, und ich finde das auch gut. Diese Organisationen waren schon vorher an Themen wie Nahrungsmittelspekulation oder Land Grabbing dran, aber wir haben das jetzt in den Kontext einer globalen Ernährung gestellt. Also, die haben jetzt angefangen zu begreifen, daß sie ihre wichtigen Fachthemen ein bißchen anders verpacken müssen.

SB: Sie rütteln mit dem Thema Ernährung schon ein bißchen an den Grundfesten der gesellschaftlichen Produktion und Verwertung, indem Sie die EU-Richtlinien und die marktwirtschaftliche Art, wie Lebensmittel hergestellt werden, hinterfragen. Können Sie sich vorstellen, daß Sie bei einer grundlegenderen gesellschaftlichen Kritik die Unterstützung der ARD bekommen hätten oder hätte die Fernsehanstalt dann abgewunken, weil ihr das zu politisch wäre?

VT: Das ist sicher richtig. Wenn meine Hauptaussage darauf gemünzt wäre, daß das Wirtschaftssystem daran schuld sei, nun, ich glaube auch nicht, daß sich viele Menschen dafür interessiert hätten. So eine abstrakte Systemdebatte interessiert heute kaum noch jemanden. Man mag das bedauern, aber der politische Diskurs ist konkreter geworden, vielleicht auch oberflächlicher dadurch.

SB: Allerdings sprechen Sie vom System, was ich durchaus interessant finde.

VT: Ja, ich spreche vom System, aber ich setze mich von dem ab, was man noch aus den 70er Jahren her kennt. Es stimmt schon, daß die jungen Leute durchaus unzufrieden sind, weil dieser eingebaute Wachstumsmodus, und nicht nur bei der Ernährung, den Planeten langsam zerstört. Das sorgt gerade bei jungen Menschen für ein grundsätzliches Fragezeichen, das sie mit sich herumtragen. In Deutschland ist das etwas schwächer ausgebildet als in den romanischen Ländern, wo man klarer von Décroissance, also der Schrumpfung oder zumindest Wachstumsbegrenzung, spricht. Es ist ein großer Diskurs bis hin zum französischen Präsidenten, der es vielleicht nicht ernst meint, aber darauf reagieren muß. Auch in Deutschland gibt es eine parlamentarische Gruppe, die sagt, daß sich das Bruttosozialprodukt nicht als Berechnungsgrundlage für den Wohlstand eignet. Nach 20 Jahren reden wir endlich darüber.

SB: Die wollen mehr Lebensgefühl oder Lebensqualität in die Bewertung des Wohlstands einfließen lassen.

VT: Ich fürchte, es wird nicht wirklich etwas ändern. Vielleicht muß man solche Schritte machen, um schließlich sagen zu können, daß das Instrument des Bruttosozialprodukts untauglich ist und wir etwas Neues brauchen. Das ist dann ein Baustein in einer Kette von Neubetrachtungen des Wohlstands.

SB: Man kann Ihren Film vergleichen mit dem schon erwähnten "Super Size Me", der die Fast-Food-Industrie angreift, dann mit "Von Gift und Genen" von Marie-Monique Robin, der Monsanto aufs Korn nimmt, "Bananas!", der sich gegen Dole richtet, und auch "Water makes Money", der sich mit dem Veolia-Konzern anlegt. Die haben entsprechende rechtliche Probleme bekommen ...

VT: Ich habe davon gehört.

SB: Haben Sie die Entscheidung bewußt getroffen, in Ihrem Film zwar das System, wie Lebensmittel produziert werden, kritisch zu hinterfragen, aber letztlich keine Firma direkt anzugreifen?

VT: Ich hatte nicht die Angst, daß mich irgendeine Supermarktkette hätte verklagen können. Wenn ich das Gefühl gehabt hätte, daß es einzelne Akteure gibt, die man auch benennen muß, da sie sich gravierend von anderen unterscheiden und eine treibende Kraft darstellen, hätte ich es getan. Das muß man dann auch tun. Ich habe mich in einigen Filmen durchaus sehr direkt mit, um es einmal vereinfacht zu sagen, Schweinereien beschäftigt und die Verantwortlichen namentlich genannt. Als es zum Beispiel um die hessische Landesregierung und die Großbanken ging. Aber in diesem Fall verhält es sich anders. Gut, man kann natürlich den Konzentrationsprozeß attackieren, was ich auch getan habe, aber wenn man die fünf Großen nimmt - da tut sich nicht viel. Jeder hat diesen Zwang zu den vollen Regalen, keiner kommt davon herunter, weil er in diesem Wettbewerb nicht anders handeln zu können glaubt. Die Discounter haben sicherlich noch den einen oder anderen Vorteil, weil sie die Regale abends nicht immer randvoll haben müssen, da die Leute dort aus anderen Gründen hingehen.

Andererseits bieten sie ihre Produkte in viel zu großen Verpackungen an, erzeugen damit wieder Müll beim Verbraucher. Da könnte ich ein paar Geschichten erzählen, aber das lassen wir jetzt. Jedenfalls habe ich nicht das Gefühl gehabt, daß ich weiterkomme, wenn ich einzelne Unternehmen an den Pranger stelle. Bei der Politik ist das etwas anderes. Wenn da ein politischer Akteur ist, der etwas zu sagen und zu entscheiden hat, sollte man den schon benennen. Das haben wir jetzt im Kinofilm nicht gemacht. Wohingegen der Fernsehfilm mehr Information enthält. Ein Kinofilm soll mehr Geschichten in Bildern erzählen. Wir haben das jetzt bewußt gemeinsam mit dem Buch auf den Markt gebracht, um darin dann die ganze Debatte um EU-Regulatorien und Bundespolitik ausführlicher behandeln zu können. Ich glaube, dafür ist ein Kinofilm nicht wirklich geeignet, auch wenn in "Taste the Waste" schon relativ viel Komplexität hineingekommen ist. Ich glaube, die meisten anderen Filmemacher vereinfachen viel stärker, weil sie dem Publikum nicht so viel zutrauen. Das wollte ich nicht, aber ich mußte dennoch irgendwo eine Grenze ziehen, denn es gilt immer noch das erste Gebot: Du sollst nicht langweilen. (lacht)

SB: (lacht) Haben Sie herzlichen Dank für das Gespräch.

19. September 2011