Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REPORT

INTERVIEW/106: Kongreß Kurdischer Aufbruch - Norman Paech zur Lage der Kurden (SB)


Interview mit Norman Paech in Hamburg am 3. Februar 2012


Als langjähriges Mitglied der Universität Hamburg wurde dem emeritierten Professor für Verfassungs- und Völkerrecht Norman Paech die Ehre zuteil, die an dieser Hochschule abgehaltene internationale Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern - Alternative Konzepte und der kurdische Aufbruch" mit einer Rede zu eröffnen [1]. Anschließend beantwortete Paech, der als Abgeordneter im Deutschen Bundestag Außenpolitischer Sprecher der Fraktion Die Linke war, dem Schattenblick einige Fragen zum politischen Kontext der auf der drei Tage währenden Veranstaltung referierten und debattierten Themen.

Norman Paech im Profil - Foto: © 2012 by Schattenblick

Norman Paech
Foto: © 2012 by Schattenblick
Schattenblick: In Anbetracht der drängenden Weltlage im Nahen und Mittleren Osten stellen die kurdischen Bevölkerungen in den jeweiligen Ländern im Grunde genommen die große Unbekannte in der geostrategischen Situation der Region dar. Welche Rolle spielen die Kurden in der jetzigen Zuspitzung der Konflikte mit dem Iran und Syrien, und inwiefern sind sie davon betroffen?

Norman Paech: Das Seltsame ist, daß die Konzentration der Aufmerksamkeit bei diesen Konflikten eigentlich immer nur auf die Hauptakteure gerichtet ist. Das sind einerseits die Regierungen, dann jene Oppositionsbewegungen, die sich eventuell auch militärisch organisiert haben, und natürlich der Einfluß von außen, insbesondere der USA und der NATO-Staaten. Jene Völker - nicht nur die Kurden, sondern auch die anderen, die es in dieser Region gibt - haben zumeist in der Wahrnehmung hier überhaupt keine Bedeutung, obwohl sie in der dortigen Region eine dominante Rolle spielen. Wir haben erlebt, daß sich die Kurden in Südkurdistan, das heißt im Norden des Iraks, eine fast autonome Region aufgebaut haben und sich unabhängig von Bagdad in einer Entwicklung befinden, die, so sieht es jedenfalls aus, einmal ein separater Staat werden könnte. Das würde allerdings die geostrategischen Verhältnisse vollkommen umstürzen.

Insofern ist das eines der zentralen Probleme, die im Augenblick nicht nur der Irak hat, sondern auch die Nachbarstaaten Iran, Türkei und Syrien. Ein Volk wie die Kurden mit insgesamt zwischen 15 und 25 Millionen Menschen, die genaue Zahl weiß man nicht, das sich über vier Staaten erstreckt, hat natürlich eine enorme strategische Bedeutung. Wenn sie nicht in ihren Interessen und Rechten berücksichtigt werden, ist das einer der zentralen Fehler nicht nur der Staaten, in denen sie leben, sondern auch derjenigen, die ihre Interessen dort durchzusetzen versuchen, also die NATO-Staaten und die USA.

SB: Inwiefern sehen Sie die Kurden zum Beispiel im Nordirak, wo sie schon während der Zeit Saddam Husseins eine relative Autonomie unter dem Schutzschirm der USA genossen, als eigenständige Akteure oder sind sie gewissermaßen Profiteure einer äußeren Intervention?

NP: Das ist ein schwieriges Thema. Die Kurden wurden von Bagdad in hohem Maße unterdrückt. Sie waren immer ein Objekt des Kampfes, da man ihnen die Gleichberechtigung im irakischen Staat vorenthielt. Sie wurden mit chemischen Waffen angegriffen. Man hat versucht, sie in schlimmster Weise militärisch auszurotten. Das hat die internationale Gemeinschaft, und nicht nur die USA, sondern eben auch die UNO dazu bewogen, ihnen 1991 so etwas wie einen safe haven und damit im Grunde genommen das Startkapital für ihre eigene Unabhängigkeit, Autonomie und Selbstverwaltung einzurichten.

In letzter Zeit haben die Kurden Südkurdistans es allerdings verstanden, sich in der politischen Auseinandersetzung auch international durch gewisse Koalitionen, zum Beispiel gegen die PKK und die kurdische Befreiungsbewegung in der Türkei, zu positionieren und eine sehr eigene, relativ unabhängige Politik zu betreiben. Sie sind also nicht nur Objekt, sondern schon Subjekt ihrer eigenen Geschichte. Damit sind sie natürlich ein Beispiel einerseits für die syrischen, aber andererseits auch für die iranischen und türkischen Kurden.

SB: Wenn die Kurden ein Selbstverständnis als gemeinsames Volk oder als eine Nation besitzen, wie kann es dann sein, daß die Regierung in den Kurdengebieten des Iraks sich gegen die PKK stellt und es so anscheinend immer wieder gelingt, eine Spaltung zu erzeugen, in der regionale Interessen gegen ein übergeordnetes Bündnis in Stellung gebracht werden?

NP: Das ist eben das Problem der Kurden. Es hat sich noch kein Nationalgefühl in der Art entwickelt, wie es für die Bildung eines Nationalstaates in Europa die Voraussetzung gewesen ist. Das gibt es derzeit nicht. Das ausgeprägteste Gefühl kurdischer Identität wurde in Nordkurdistan durch die Bewegung der PKK und die Kämpfe um Autonomie, Selbständigkeit und zeitweilig auch um einen eigenen Staat hervorgebracht. Allerdings eint das noch nicht die Kurden in Südkurdistan und auch nicht im Iran. Das ist eine immer noch sehr stark in Clans und Untergruppierungen geteilte Gesellschaft. Den Kurden ist durchaus bewußt, daß sie noch nicht die Identität entwickelt haben, die zu einem nationalen Kurdistan oder einem Nationalstaat im europäischen Sinne führen könnte.

SB: In dem zur Begrüßung verlesenen Text Abdullah Öcalans war ein recht differenziertes Verhältnis zum Thema Nation herauszuhören, das jedenfalls sehr viel kompatibler ist mit dem Ideengut der europäischen Linken als das archaische Verständnis anderer kurdischer Fraktionen. Könnten die in der Türkei lebenden Kurden Ihrer Ansicht nach eine Avantgarde-Funktion im Rahmen einer möglichen gemeinsamen Entwicklung einnehmen?

NP: Zweifelsohne sind die türkischen Kurden, also die Kurden in Nordkurdistan, durch ihren Kampf sehr viel weiter in der Entwicklung einer Identität als die in Syrien, im Irak oder auch im Iran. Jeder Befreiungskampf, ob er nun militärisch oder politisch geführt wird, entwickelt ein höheres Bewußtsein innerhalb der Bevölkerung. Das haben wir in Afrika, bei den Palästinensern und auch bei den Sahauris gesehen. Dies wirkt überall wie eine Gärhefe, die eine Gesellschaft vorantreibt.

Öcalan selbst ist einer der Visionäre, die wohl am weitesten gen Westen geschaut haben, was leider weder von den Türken noch hier anerkannt wird. Seine Vorstellung von einer eigentlich dezentralisierten, sich gar nicht auf einen Staat gründenden Gesellschaft föderaler Strukturen im ganzen Nahen und Mittleren Osten ist im Grunde weit fortschrittlicher als jede Sozialphilosophie in dieser Region. Er hat da eine sehr weit in die Zukunft reichende Funktion. Das ist vielleicht auch einer der Gründe, weswegen er so isoliert wird und man ihn aus den politischen Debatten heraushalten will.

SB: Diese Konferenz scheint ein Versuch zu sein, daran etwas zu ändern, weil alternative Konzepte und der kurdische Aufbruch zusammengedacht werden. Meinen Sie, daß diese Entwicklung, die für einen europäischen Menschen schwer nachzuvollziehen ist, weil sie aus einem nationalen Befreiungskampf kommt, aber gleichzeitig darüber hinausgreift in moderne linke Konzepte, auch einen Impuls für die westliche Linke darstellen könnte, um in der Frage, wie es weitergehen könnte, voranzukommen?

NP: Ich glaube, dazu ist die Situation der Kurden im Augenblick zu desolat. Sie befinden sich immer noch im Kampf um Basisrechte, um die die Linke gar nicht mehr kämpfen muß, so daß sie keine solche Bedeutung als Vorreiterfunktion haben. Wichtig ist, daß es eine Solidarität zwischen der Linken in diesen etablierten Staaten und den Kurden gibt, genauso wie sie mit den Palästinensern, aber auch mit den Sahauris notwendig ist. Aber der Zustand der Kurden liegt so weit unter dem Menschenrechtsstatus, dem Status der Grundrechte und der zivilisatorischen Zugeständnisse, die Linke hier genießen, daß das nicht zu vergleichen ist.

Im Augenblick ist es wohl eher so, daß die kurdische Bewegung aus den Kämpfen um die Nationalstaatlichkeit in Europa, wie sie in Irland oder bei den Basken geführt wurden, für ihr Modell einer dezentralisierten Partizipation an der türkischen Gesellschaft und für Autonomie und Selbstverwaltung zu lernen versucht. Aus dem Dialog allerdings mit den Kurden können auch wir viel über strategische Momente eines Kampfes um weitere Rechte und für die Durchsetzung von Gleichheit gegen Armut und Hunger lernen. Insbesondere die Solidarität solcher Bewegungen stärkt die Internationalität der Linken, die dringend notwendig ist, da sie meistens nur auf Lateinamerika geschaut hat, weniger auf den Nahen und Mittleren Osten. Dies ist eine der Notwendigkeiten der linken Bewegung, sich den Befreiungsbewegungen nicht nur der Kurden, sondern auch der Palästinenser zu öffnen und mit ihnen für eine gemeinsame Zukunft zu kämpfen.

SB: Im Westen betrachtet man die Türkei gerne als eine Art Vorbildgesellschaft, mit der man den orientalischen Gesellschaften eine neue Konzeption überstülpen und so den eigenen Expansionismus voranbringen kann. Dafür scheint sich das kurdische Modell ganz und gar nicht zu eignen, weil es zu emanzipatorisch ist.

NP: Es ist vollkommen idiotisch, den neuen Gesellschaften in Nordafrika die Türkei als ein mögliches Modell säkularer Herrschaft anzubieten. Zunächst weiß man, wie weit die gesellschaftliche Bedeutung und auch der politische Einfluß der religiösen Kräfte in der Türkei reichen. Auf der anderen Seite ist das, was die türkische Politik im Augenblick mit den Kurden macht, weit unter jedem Standard, den wir überhaupt tolerieren können. Daraus, daß man das türkische Modell für Nordafrika in Betracht zieht, spricht offensichtlich die vollkommene Unkenntnis über die innenpolitische Situation der Kurden. Denn auch die Gesellschaften im Norden Afrikas sind nicht monoethnisch, sondern bestehen aus vielen Völkern und müssen sowohl mit religiösen als auch ethnischen Minderheiten umgehen. Deswegen ist es absolut notwendig, daß die türkische Gesellschaft zunächst ihr Vielvölkerproblem auf einer Ebene löst. Da kann Europa durchaus ein Vorbild sein, das dann allerdings weiterentwickelt werden muß.

SB: Müssen Sie als Mitglied der Linkspartei nicht befürchten, daß das Engagement für die Probleme der kurdischen Bevölkerung von den bürgerlichen Parteien als weiterer Anlaß genutzt wird, um gegen Die Linke vorzugehen?

NP: Zunächst einmal wissen wir, daß der Verfassungsschutz alle jene beobachtet, die irgendwie in Kontakt mit Kurden stehen und damit, wie stets kurzschlüssig gemeint wird, mit der PKK zu tun haben. Das ist immer so gewesen. Wer sich mit Befreiungsbewegungen beschäftigt, wird immer zum Objekt des Verfassungsschutzes. Hinter dieser vollkommen verqueren, sehr reaktionären Ideologie steht die Meinung, daß der Kontakt zu Befreiungsbewegungen antidemokratisch oder gegen den Verfassungsstaat gerichtet ist. Genau das Gegenteil ist wahr. Gerade der Kontakt zu und die Unterstützung von Befreiungsbewegungen ist das, was ein demokratischer Rechtsstaat braucht, um ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Rechte gegen Unterdrückung zu erkämpfen, die wir uns in Jahrzehnten und Jahrhunderten erkämpft haben.

Allerdings ist es ebenso richtig, daß die Unterstützung der Palästinenser wie auch die Unterstützung der Kurden in dieser Gesellschaft immer noch einen politisch prekären Weg darstellt. Es ist unsere Aufgabe, zumindest die Linkspartei wie auch die anderen Parteien davon zu überzeugen, daß diese Unterstützung nicht den Untergang jener Staaten bedeutet, die im Augenblick die Unterdrückung praktizieren, sondern daß es gilt, auch diese Staaten von einer antidemokratischen und antirechtsstaatlichen Hypothek zu befreien, unter der sie selber leiden. Damit meine ich sowohl Israel wie auch die Türkei.

SB: Sie werden morgen an einer Konferenz in Istanbul teilnehmen. Könnten Sie erklären, worum es dabei geht?

NP: Dies ist eine kurzfristig zusammenberufene Konferenz, in der es um die aktuelle Situation der Kurden in der Türkei geht. Es gibt derzeit ungefähr 5000 Menschen kurdischer Herkunft, die in Gefängnissen sitzen, und zwar als politische Gefangene. Das sind zu einem wesentlichen Teil Mitglieder des Parlaments, aber auch Bürgermeister, Mitglieder in Stadträten, Rechtsanwälte oder sonstige Politiker. Das ist eine sehr angespannte und auch gefährliche Situation, weil Erdogan von seiner ursprünglichen Ankündigung, die schon etliche Jahre zurück liegt, sich dem kurdischen Problem politisch zu nähern, abgerückt ist und jetzt versucht, eine militärische Lösung herbeizuführen. Das ist eine für die Kurden sehr bedrohliche Situation.

Der zweite Punkt ist, daß die Situation von Öcalan auf der Insel Imrali nach wie vor katastrophal ist. Um beides geht es bei dieser Konferenz. Man verbindet die Existenz der kurdischen Bewegung mit der Existenz von Öcalan auf der Insel Imrali. Man will auf der Konferenz darüber beraten, welche Schritte man innerhalb der türkischen Gesellschaft unternehmen muß, um die türkische Politik wieder auf einen politischen Kurs weg von militärischen Maßnahmen zu bringen. Dazu wurde ich kurzfristig eingeladen. Ich fahre hin, um meinen Beitrag dort zu leisten, denn die kurdische Sache hat mich immer beschäftigt, und ich habe auch immer für die Befreiung der Kurden innerhalb der kurdischen Gesellschaft gekämpft.

SB: Herr Paech, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnote:
[1] http://norman-paech.de/app/download/5783890267/Kapitalistische+Moderne+herausfordern.pdf

(Fortsetzung folgt)

Paech und SB-Redakteur im Gespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Norman Paech mit SB-Redakteur
Foto: © 2012 by Schattenblick

9. Februar 2012