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INTERVIEW/113: Kongreß Kurdischer Aufbruch - Tom Waibel zur zapatistischen Bewegung (SB)


"Diese Stimme spricht leise, aber sie ist insistent"

Interview mit Tom Waibel am 5. Februar 2012 in der Universität Hamburg

Tom Waibel - Foto: © 2012 by Schattenblick

Tom Waibel
Foto: © 2012 by Schattenblick
In den 1990er Jahren war die emanzipatorische politische Sozialisation in Europa zu einem beträchtlichen Teil vom Wissen über die zapatistische Bewegung und der Referenz auf ihre Theorie und Praxis geprägt. Heute engagieren sich zahlreiche Menschen beim World Social Forum und wissen oftmals nicht, daß die Slogans, die sie benutzen, von den Zapatisten erfunden worden sind. Dem kurzlebigen Wechsel von Elektrisierung und Vergessen eine kompetente Stimme entgegenzusetzen war Tom Waibel bei der Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern - Alternative Konzepte und der kurdische Aufbruch" als Referent zu Gast. Der in Wien lebende Philosoph und Übersetzer hat jahrelang ein Wanderkino im lakandonischen Regenwald in Chiapas betreut. Die Infrastruktur des dabei entwickelten kommunalen Medienprojekts steht nun vollständig der autonomen Bildungsinitiative der Zapatisten zur Verfügung. Der Schattenblick hatte Gelegenheit, ein Gespräch mit Tom Waibel zu führen.

Schattenblick: Die zapatistische Bewegung hat hier zu einem Zeitpunkt, als die Linke am Niedergang war, wie ein Komet eingeschlagen. Auf einmal war da etwas wie eine Hoffnung, auch aufgrund der neuen Idee, die intellektuell ansprechende Botschaft einer revolutionären Bewegung, die als indigen, eingeboren, original verstanden wurde, über elektronische Medien zu transportieren. Das wirkte auf viele Leute wie eine Inspiration, auch wenn das zunächst einmal romantisierend aufgenommen wurde. Für einige Menschen war es jedoch Anlaß, sich näher damit zu beschäftigen. Wie war das bei dir gewesen und was hat sich seitdem für dich verändert?

Tom Waibel: Ich bin damals in der anarchistischen Hausbesetzerszene gewesen, als überall das Ende der sozialen Bewegungen proklamiert wurde. Nach 1989 schien nichts mehr zu gehen. Dann gab es plötzlich einen Aufstand von Leuten, von denen man gar nicht gewußt hat, daß sie überhaupt existieren. Eine der großen Attraktionen dabei war, daß sie nicht nur mit Holzgewehren einen Aufstand probten, sondern sie zitierten dabei auch noch Macbeth, indem sie sagten, das ist der Wald, der sich in Bewegung setzt. Mit einemmal haben auch die Verhältnisse sprachlich zu tanzen begonnen. Alles ist wieder möglich, alles muß neu gedacht werden. Für mich war das überraschend wie faszinierend zugleich. Das wollte ich näher kennenlernen und auch wissen, was da überhaupt dran ist. Ich bin dann Ende 1994 nach Chiapas gekommen und habe für das Menschenrechtszentrum FrayBa gearbeitet, das damals zivile Friedensbeobachtung organisierte. Für mich war das eine sehr gute Möglichkeit, überhaupt in die Gegend zu kommen und die Verhältnisse in den Dörfern kennenzulernen. Die Attraktion war groß, aber meine Spanischkenntnisse so gering, daß ich nach ein paar Monaten feststellen mußte, daß ich nichts machen konnte. Also bin ich wieder nach Hause gefahren und habe Spanisch gelernt und mich vorbereitet, um auch länger zu bleiben. Denn mir war klargeworden, daß die indigenen Bevölkerungen ein seltsames oder eigenwilliges Verständnis von Zeit besitzen. So haben die Leute gesagt, wir waren 500 Jahre unterdrückt, wir müssen nicht in fünf Wochen, fünf Monaten oder fünf Jahren unsere Befreiung erleben.

Das waren ganz wesentliche Verschiebungen, die bei mir dazu geführt haben, daß ich 1998 wieder nach Mexiko, diesmal ohne Rückflugticket, geflogen bin, um zu sehen, ob ich etwas machen kann und ob das überhaupt erwünscht ist. Der Anfang war schwer, aber ich bin dann doch fast ein Jahrzehnt geblieben. Romantik war natürlich auch mit im Spiel, aber die bin ich sehr schnell losgeworden, weil es da keine solchen Indianer gibt, wie man sie aus Hollywoodfilmen kennt. Es hüpft niemand im Federbusch herum. Auch trifft man keine Gesellschaft jenseits des Kapitalismus an, obwohl die meisten Subsistenzbauern sind. Ihre Söhne, Töchter oder sie selber verdingen sich als Lohnarbeiter in der Stadt oder verkaufen ihre Produkte. Es gibt dort keine Ursprünglichkeit oder Reinheit, aber das ist sogar ein wesentlicher Punkt für das Funktionieren der zapatistischen Bewegung. Sie haben sich niemals auf Authentizität berufen oder gesagt, wir sind indigen und daher so oder so, sondern sie haben immer auf die Anerkennung der Differenz gepocht. Auf diese Weise haben sie sich nie dagegen gesperrt, viele Strategien zu entwickeln, um nicht in dieses Spiel mit der Identität zu geraten. Stets ging es um die Nicht-Identität. Wir sind alle Marcos. Wir haben alle Skimützen und sind unkenntlich. Wir sind nicht diejenigen, die ihr glaubt, die wir sind, sondern immer woanders. Das war sehr effizient und auch praktisch. Angesichts dessen mußte ich mich fragen: Wer bin ich eigentlich? Was tue ich da? Warum tue ich das? Und dann war da diese sehr uneuphorische Haltung der Zapatisten mir gegenüber, als sie wissen wollten, ob ich dort nichts zu tun hätte, wo ich herkomme. Wir machen hier regionale Autonomie, sagten sie, mach das doch bei dir zu Hause, wo du dich besser auskennst und Freunde und Ressourcen hast. Auch diese schroffe Ablehnung, die nichts mit Hurra und Willkommen zu tun hatte nach dem Motto, wir sind alles Internationalisten und werden überall auf der Welt gebraucht, hat viel von meinem überheblichen Selbstverständnis in Frage gestellt.

SB: Waren es viele Europäer, die wie du die zapatistische Bewegung kennenlernen wollten?

TW: Es gab so viele, daß sich die EZLN genau überlegen mußte, was sie mit den Leuten macht. Aufgrund der Analyse und Erfahrungen der Sandinisten hat sie beschlossen, die Leute, die von Übersee oder als Internationalisten kommen, im Unterschied zu den Soli-Brigaden der Sandinisten, die Schulen oder kommunale Netzwerke aufgebaut haben, nicht an konkreten Arbeiten und Projekten zu beteiligen. Statt dessen ist man davon ausgegangen und hat dies auch bis heute beibehalten, daß die Leute die militärischen Bewegungen dokumentieren. So funktioniert man in vielen Fällen auch als legales Schutzschild, weil die Präsenz von internationalen Beobachtern diesen rechtsfreien Raum, in dem das Militär so gerne agiert, sichtbar macht. Das ist einerseits eine sehr schwere Schule, weil man in den Dörfern per Dekret nichts machen darf außer zu schauen. Denn Arbeit ist eine der besten Formen, um mit Leuten in Kontakt zu kommen. Andererseits zwingt einen das dazu, kreativ und innovativ zu sein und neue, unbekannte und bisher noch nicht für sich entdeckte Formen des Umgangs mit anderen zu entwickeln.

SB: Wie ging das bei dir weiter?

TW: Ich war auch einer dieser Verrückten, die mit einem Plan im Kopf hingefahren sind. Auch ich habe mir eingebildet, schon zu wissen, was ich dazu brauchen werde. Bei mir war das, nachdem ich schon vorher einmal da war, vielleicht ein bißchen durchdachter als der erste Antrieb, etwas tun zu wollen. So habe ich feststellen können, daß die Selbstwahrnehmung und die Art, wie die Zapatisten von den Internationalisten und anderen Leuten gesehen werden, enorm auseinanderklafft. Daher habe ich mir das bescheidene Ziel gesteckt, so etwas wie ein Wanderkino zu machen, um den Leuten die Dokumentationen über sie und damit das Bild, das man im Ausland von ihnen hat, zu präsentieren und erst dann in der Folge herauszufinden, inwieweit sie selber daran interessiert sind, dieses Bild von sich zu verändern. Natürlich gab es vor Ort schon Medienkollektive und auch innerhalb der zapatistischen Bewegung war man über ein kommunitäres Radio um den Aufbau autonomer Schulbildung bemüht. So paßte meine Idee gut in dieses Netzwerk hinein. Nur kann man sich das nicht so vorstellen, daß man einfach hingeht und die Filmdokumentationen übersetzt. Konkret hat das vielmehr so ausgesehen, daß ich fast ein ganzes Jahr lang auf Workshops eingeladen wurde, aber grundsätzlich nur beobachten konnte, wie ich lebe, was ich esse und wie ich mich benehme. Ich war vor die schwierige Aufgabe gestellt zu legitimieren, wie ich meinen Unterhalt überhaupt verdiene. Nichts ist verdächtiger als ein Internationalist, der sein Leben auf ein halbes Jahr finanzieren kann. Die Leute fragen sich dann, wer steht hinter ihm. Also habe ich alle möglichen Arbeiten gemacht, die auch die Leute dort machen. Das hat allmählich und mit großer Zögerlichkeit dazu geführt, daß Zuversicht entstehen und Vertrauen aufgebaut werden konnte. Wenn das einmal gelingt, geht alles sehr schnell, dann ist es so, als wäre alles schon ausgemacht gewesen.

SB: Wie haben die Leute die Sache mit dem Wanderkino aufgenommen, war man hellauf begeistert oder hielten sie dich für naiv?

TW: Das ist sehr differenziert zu bewerten. Mein Anspruch bestand durchaus darin, ein Wanderkino für alle Dörfer zu machen, unterschiedslos, ob es nun zapatistische oder nicht-zapatistische Dörfer sind. Das war sehr problematisch, nicht für die Zapatisten, aber den anderen Internationalisten gegenüber, denn ich kam sofort in den Verruf, ein Separatist zu sein. Wieso zu den anderen Bauern fahren? Es hat viele Jahre gebraucht, bis sich das Mißtrauen endlich gelegt hat und auch andere Organisationen darauf gekommen sind, daß diese klare Trennungslinie zwischen einem zapatistischen und einem nicht-zapatistischen Dorf gar nicht zu ziehen ist, sondern es gab immer auch Einsprengsel von zapatistischen Leuten in Dörfern, die mehrheitlich regierungstreu waren. Mir ging es im wesentlichen um eine Gegenstrategie zur Aufstandsbekämpfung der Regierung, die auch kommunal angenommen wird. Kino ist nicht nur Information, sondern auch eine Form von Ausnahmezustand. Wir sind in Dörfer gekommen, in denen es keinen Strom gab, wo die Leute noch nie ferngesehen hatten und überhaupt kein Kino kannten. Es wurde ein riesiges Spektakel und die Leute wollten dann in aller Regel nicht mehr schlafengehen. Für mich war diese Zeit sehr anstrengend, denn ich mußte am nächsten Tag weiterziehen. Die meisten nicht-zapatistischen Organisationen, die solidarisch ausgerichtet waren, hatten mit mir ausgemacht, daß das Kino etwas kosten müsse. Denn das einzige, was es für arme Leute gratis gibt, ist die Infiltration. Wenn ein Kino kostenlos ist, dann glauben die Leute, du bist bei einer Partei oder, was sie auch nicht wollen, machst Werbung für die Zapatisten. Wenn ein Film etwas kostet, hast du ein Interesse zu kommen, denn du verdienst dir deinen Lebensunterhalt damit. Es gab ein ganz genaues Kalkül von Gegenseitigkeit: Was gibst du und was verlangst du dafür? Natürlich habe ich nur wenig genommen. Ein Peso pro erwachsene Person, aber die Hälfte der Anwesenden war ohnehin unter 14 Jahre. Das füllte die Räume, aber meistens zeigten wir den Film unter freiem Himmel. Die Zapatisten waren gegen diese Regelung. Ihr Leitspruch war: Nichts kostet etwas. Bei ihnen bestand der Deal darin, daß ich immer von Zapatisten begleitet wurde, aber in den Dörfern Unterkunft und Verpflegung bekam und die Transportmöglichkeiten für mich organisiert wurden. Auch da gab es einen gegenseitigen Austausch, nur funktionierte dieser auf geldfreier Basis. Insofern muß man also differenzieren, aber generell war das faszinierend für mich genauso wie für die Leute, die in vielen Fällen zum ersten Mal mit Kino in Berührung gekommen sind.

SB: Welche Erfahrung hast du mit der Aufstandsbekämpfung gemacht und wie verhielten sich der kämpfende und der zivile Flügel der Zapatisten zueinander?

TW: Zunächst einmal muß man sagen, daß die Aufstandsbekämpfung seit 1996 verstärkt worden ist. 1997 war das Massaker von Acteal. 1998, als ich gerade hingekommen bin, wurden ganz massiv Morde begangen, die aber keine internationale Resonanz hervorriefen, aber 20 oder 30 Leute aus einer Dorfbevölkerung das Leben gekostet haben. Die Leichen wurden, eingeschweißt in Blechsärge, wieder zurückgebracht. Verantwortlich dafür waren die Paramilitärs, deren Verbindung zum offiziellen Heer ganz offensichtlich war. Die haben mit Waffen im Eigentum der Bundesarmee geschossen. Auf den Projektilen waren noch Markierungen drauf. Zum Teil trugen sie sogar Uniformen der regulären Bundesarmee. Ein Blinder hätte sehen können, daß die Paramilitärs für die Aufstandsbekämpfung von den Militärs ausgerüstet und organisiert wurden. Für die zapatistische Bewegung hatte das weitreichende Folgen. So wurden zwischen 1997 und 1998 die Regelungen verändert. In den vorangegangenen zehn Jahren der klandestinen Vorbereitung bis zum öffentlichen Auftritt und der Konstitution als anerkannte kriegführende Macht waren die Leute aufgefordert worden, sich an vielen sozialen Organisationen zu beteiligen und heimlich Zapatisten zu sein. Das war ein Spezifikum auch anderer armer indigener Gegenden, galt aber insbesondere für Chiapas, wo es seit langer Zeit einen hohen Organisationsgrad gibt. Es ist üblich, daß Leute in drei oder vier unterschiedlichen Organisationen involviert sind. Die eine besorgt den Austausch von Waren, die nächste kümmert sich um das Verteilen von Handwerkszeug, die dritte ist eine religiöse Gruppierung und die vierte arbeitet an einer indigenen Gesetzgebung. Die Leute konnten sich über die vielen Organisationen auch legitimieren.

Nach dem Massaker von Acteal und in der Folge davon hat sich diese Politik verändert. Die Zapatisten haben gesagt, entweder bist du Zapatist oder du bist es nicht. Bist du für uns, mußt du die Mitgliedschaften in anderen Organisationen aufkündigen. Das war eine Sicherheitsmaßnahme gegen die Aufstandsbekämpfung. Allerdings brachte dies ein riesiges Problem für die Organisation der autonomen Bildung mit sich, weil oftmals indigene Lehrer, die ein minimales Gehalt vom Staat bekommen haben, aber in ihrer Freizeit in jahrelanger Anstrengung auch indigene Bildung mit Sprachkenntnissen in den Dörfern förderten, plötzlich nicht mehr bezahlt wurden, sofern sie nicht im Regierungsauftrag arbeiteten. So wurden sie vor die Wahl gestellt, entweder den Job bei der Regierung zu kündigen und ganz zu den Zapatisten zu gehen oder draußen zu bleiben. Viele Leute konnten sich das ökonomisch einfach nicht leisten. Da gingen die Bruchlinien nicht durch die Frage, ob man solidarisch ist oder nicht, sondern man mußte sich der existentiellen Not stellen: Ich lebe in einer Gegend, die von Paramilitärs durchsetzt ist. Entweder ziehe ich in autonome Gebiete, aber da besitze ich kein Land. Und was tue ich mit dem, was ich hier aufgebe? Das waren sehr komplexe Fragen, mit denen man sich auseinandersetzen mußte, als die Zapatisten ihr Vorgehen veränderten.

Man ist vorsichtiger geworden, aber auch argwöhnischer. Wir hatten ein lokales Radio in Zusammenarbeit mit einer Organisation von Kaffee-Produzentinnen betrieben, die 1994 mit den Zapatisten gemeinsam Ländereien besetzt hatten und wo es große personelle Überschneidungen gab, aber sich ab den nuller Jahren plötzlich eingebildet haben, daß es für sie lukrativer ist, mit der Regierung gemeinsame Sache zu machen. Ab diesem Zeitpunkt waren sie effiziente Agenten der Aufstandsbekämpfung, denn sie kannten die innere Organisation sehr gut. Das ist auch das Perfide an den paramilitärischen Maßnahmen, daß Leute abgeworben werden oder sich aus irgendwelchen Gründen korrumpieren lassen. In dem konkreten Fall hat es dazu geführt, daß wir dieses Gebiet rasch verlassen mußten und so Radio und Antenne nicht mehr mitnehmen konnten. Das hat uns viel Häme eingebracht, denn es hat dann geheißen, daß wir die Aufstandsbekämpfung mit dem Radio unterstützt hätten. Tatsächlich war es schmerzhaft, auf diese Weise Lehrgeld zu bezahlen, denn die Arbeit hat sich im Anschluß fast ausschließlich auf zapatistische Organisationen und Gebiete fokussiert. Das war ursprünglich nicht die Intention, aber Folge der Aufstandsbekämpfung gewesen. Die Leute waren also gezwungen, sich zu entscheiden, auf welcher Seite sie stehen.

SB: Hat sich im Zuge des sogenannten Antidrogenkriegs etwas für die zapatistische Bewegung verändert, zumal die Amerikaner die mexikanischen Streitkräfte im Kampf gegen die Drogenkartelle mit Drohnenflügen und militärischer Ausrüstung verstärkten? Schließlich sind in Mexiko mehr Tote zu beklagen als im Irak und Afghanistan.

TW: Überraschenderweise gilt das nicht für das zapatistische Gebiet, aber ansonsten ist fast das gesamte mexikanische Bundesgebiet betroffen. Allerdings haben die Zapatisten von Anfang an sehr strenge Vorsichtsmaßnahmen getroffen, um nicht den Ruf als Drogenhändler umgehängt zu bekommen. Natürlich war das eine beliebte Aufstandsbekämpfungsstrategie ab 1994 zu sagen, ihr habt Waffen, weil ihr Drogen produziert. Ihr seid ja arme Bauern, wie kommt ihr sonst zu Waffen. Schon in der klandestinen Phase gab es strenge Regelungen gegen alle Arten von Drogen, vom Schnaps angefangen bis zu den illegalisierten Drogen, die verboten, verpönt und mit drakonischen Strafen versehen waren, auch wenn sie in autonomen Gebieten von Nicht-Zapatisten konsumiert wurden. Diese über ein Jahrzehnt angewendete Praxis hat in den zapatistischen Gebieten verhindert, die Zapatisten ab 2006, 2007, als der Drogenkrieg in Mexiko begann, in Verruf zu bringen. Die waren schon zu gut organisiert und hatten als moralische Instanz klargemacht, daß sie notfalls auch bewaffnet gegen Drogenhändler vorgehen würden. Natürlich umfaßt das autonome oder zapatistische Gebiet nicht ganz Chiapas und tatsächlich herrscht die Tendenz vor, daß die Drogenkartelle einen Teil ihrer Aktivitäten im Drogenhandel von Chiapas nach Guatemala verlagern. Die guatemaltekische Regierung hatte die UNO im letzten Jahr gebeten, Blauhelme zu schicken, weil die Banden der Drogenhändler der nationalen guatemaltekischen Armee überlegen sind. Der Konflikt in Mexiko betrifft also generell das ganze Gebiet, aber mit deutlichen Unterschieden. So gibt es auch autonome Gebiete, in denen eine kommunitär organisierte Polizei in Zusammenarbeit mit den Dörfern und ihren in Autonomie ergriffenen Maßnahmen den Drogenhändlern die Drogen abnimmt, um so die externen Polizeikräfte aus dem Gebiet herauszuhalten. Diese Maßnahmen haben viel mit dem zapatistischen Vorbild zu tun, auch wenn sie nicht in einem nationalen Maßstab greifen. Man kann da nicht allzu optimistisch sein, aber es sind konkret praktizierte Alternativen, die in manchen Regionen, vor allem im Süden und Südosten Mexikos, existieren, aber auf den Norden des Landes kaum übertragbar sind.

Tom Waibel - Foto: © 2012 by Schattenblick

Internationalismus aus erster Hand
Foto: © 2012 by Schattenblick
SB: Es gab Phasen, in denen die Zapatisten bei Parlaments- und Präsidentenwahlen durchaus Einfluß genommen haben wie zum Beispiel mit dem berühmten Marsch auf die Hauptstadt, der auch in westlichen Medien frequentiert wurde. Wie steht es heutzutage mit dem Verhältnis der Zapatisten zur Bundespolitik in Mexiko?

TW: Das hat sich radikal geändert. Der Wendepunkt war dieser Marsch auf die Hauptstadt und der Auftritt im Parlament, was tatsächlich nur auf Grund massiven öffentlichen Drucks möglich war. Der darauf folgende Gesetzesvorschlag hat allerdings zu keinem Konsens oder einer Verhandlungsposition, sondern zum radikalen Gegenteil dessen geführt, was da eingefordert wurde. Damit haben sich hinter dieser Art von politischem Kampf die Türen geschlossen. Ohne daß die Zapatisten es gewollt oder intendiert hätten, hat die Regierungsreaktion das Ende einer fast ein Jahrzehnt andauernden bestimmten Form der politischen Stellungnahme und Intervention besiegelt. Es war klar, daß sie in dieser Hinsicht nicht mehr erreichen können als den symbolischen Sieg, im Parlament zu sprechen, also den Parlamentssessel zu besetzen, ohne die Staatsmacht erobert zu haben. Nur daß der Effekt keine Veränderung mit sich gebracht hat, sondern eher eine Verschlechterung. So wurde diese Art von politischer Einflußnahme nach 2001 auch nicht mehr unternommen, man veränderte vielmehr die Ausrichtung radikal hin zu einer Konstituierung von regionaler Autonomie und Räterepubliken. Es ist der zapatistischen Bewegung etwas gelungen, das meines Wissens bisher keine bewaffnete Bewegung geschafft hat, nämlich daß der bewaffnete Arm einer sozialen Bewegung Teile seiner Macht zugunsten der Zivilbevölkerung abgibt. Das sind Prozesse, die sonst oft auf Zwang oder aufgrund von Friedensverhandlungen angestrebt werden. In diesem Fall hatten es die Zapatisten aus eigener Überlegung heraus getan. Die Jahre von 2001 bis 2005 waren davon geprägt, die Regionalautonomie in die Hände der Zivilbevölkerung zu legen, weg von den militärischen Beauftragten und ausgebildeten Kadern. Das sind natürlich politische Strategien, die auf etwas ganz Konkretes abzielten. Der Beschluß, daß wir niemanden mehr um Erlaubnis fragen und auch nicht darüber verhandeln, weil wir alles versucht haben, was möglich war, jetzt aber keine Notwendigkeit mehr dazu sehen, markiert eine radikale Veränderung.

SB: Könnte die Dauerhaftigkeit der Bewegung von der vergleichsweise geringen Angreifbarkeit herrühren, denn als Außenstehender fragt man sich unvermittelt, wie diese Lebensweise trotz aller Anfeindungen und Angriffe immer noch bestehen kann? Woher nimmt sie ihre innere Stärke?

TW: Diese Stärke hat viel mit den jahrhundertelangen Resistenzen der indigenen Bevölkerung zu tun. Das sind in den meisten Fällen freie Subsistenzbauern, denen es nicht an Nahrungsmitteln fehlt, aber jahrhundertelang an Land gemangelt hat. Sie haben seit 1994 beträchtliche Gebiete erobert und besetzt, so daß es momentan keinen großen Mangel an Land gibt. Sie sind in der Lage, das Land urbar und produktiv zu machen. Das gibt ihnen eine ökonomische Unabhängigkeit, die nicht vollständig ist und zu 100 Prozent funktioniert, aber sie garantiert den größten Teil ihres sozialen Lebens. Das macht die Leute selbstsicher und verhilft ihnen zu Lebensentwürfen, in denen sie den Standpunkt formulieren können, die Armut kenne ich und sie erschreckt mich nicht, aber ich ziehe die Armut der Unfreiheit vor. Hinzu kommt ein Maß an Geübtheit in Armut, das mich als eingefleischten Mitteleuropäer wirklich verblüfft hat. Wie ist es möglich, unter solchen Bedingungen noch dermaßen kreativ, fröhlich und unbeschwert Politik zu machen? Das waren tiefgreifende Lehren und Erfahrungen für mich.

SB: Gibt es wesentliche Unterschiede in den zapatistischen Dorfgemeinschaften hinsichtlich der Produktionsweise?

TW: Ja. Es gibt auch in anderen indigenen Dörfern Traditionen kommunaler Bewirtschaftung. Das war schließlich einer der Gründe für den Aufstand 1994, als mit dem Inkrafttreten des Freihandelsvertrages zwischen den USA, Kanada und Mexiko ein gesetzliches Konstrukt, das über fast ein Jahrhundert den sozialen Frieden in Mexiko garantiert hatte, hinfällig wurde, nämlich das Gemeindeland. Die Bundesverfassung regelte, wieviel Land einer Kommune oder Gemeinschaft zugeteilt wurde. Dort wurden dann die Nutzungsrechte intern verhandelt. Der gesetzliche Schutz dieses Landes ist aufgehoben worden. Dieses Gemeindeland gibt es auch in vielen anderen indigenen Gemeinschaften, aber was die Zapatisten im wesentlichen angestoßen haben und wofür sie immer noch ein wesentlicher Referenzpunkt sind, ist die rigorose Untersuchung, was an den Traditionen brauchbar ist und was über den Haufen geworfen werden kann. Die zapatistischen Frauen waren die ersten, die gesagt haben, den ganzen patriarchalen Müll, der sich in der indigenen Tradition angesammelt hat, wollen wir nicht mehr. Es gibt überhaupt keine Veranlassung, es wertzuschätzen, nur weil es althergebracht ist. Das ist ein völlig neues Vorgehen und so verwundert es nicht, daß die Zapatisten im mexikanischen indigenen Nationalkongreß auch eine bedeutende Rolle in der Frage der Neubedeutung der Tradition spielen. Insofern beziehen sich die Zapatisten natürlich nicht nur auf ein bestimmtes kulturelles Erbe.

SB: John Holloway, der als Aktivist selber vor Ort war, hat die Rezeption der Zapatisten in Europa in starkem Maße bekanntgemacht. Wie würdest du seine theoretische Ausarbeitung im Verhältnis zur politischen Realität der Zapatisten bewerten?

TW: Was John Holloway ausgezeichnet gemacht hat und wofür ich ihm sehr dankbar bin, ist, die Praxis der Dörfer in einem sehr hohen Maße wiederzugeben. Allerdings hat er es in eine Sprache übersetzt, die in den Dörfern nicht verstanden werden würde oder nur von wenigen Intellektuellen, die auch Lehrer sind und andere weiterbilden, aber nicht die breite Masse erreichen. Das heißt nicht, daß das eine Verfälschung oder Lüge ist, sondern eben die Übersetzung in eine andere Sprache. Das ist, so glaube ich, eine der wesentlichen Leistungen von John Holloway, daß er es tatsächlich geschafft hat, Konzepte von absurder Intervention der Politik in einer Sprache begreiflich zu machen, die in vielen Fällen Anknüpfungspunkte mit der Sprache hat, die die Linken gelernt haben und kennen. Wenn man mit Leuten aus der zapatistischen Unterstützungsbasis spricht und sie fragt, wollt ihr einen Sozialismus gestalten, dann erwidern sie darauf, mit dem Sozialismus haben wir nichts zu tun. Was sollen wir damit? Wenn man dann aber ins Detail geht und konkrete Schritte und Maßnahmen bespricht, dann tauchen sehr viele Übereinstimmungen auf. Ach, das ist Sozialismus?, sagen sie dann. Das wollen wir natürlich. Darin sehe ich die große Übersetzungsleistung von Holloway.

SB: Holloway zitiert sehr gerne den Leitsatz der Zapatisten, fragend schreiten wir voran. Hast du den Eindruck, daß seine zum Teil elaborierte Theorie eine Rückübersetzung auf das zapatistische Element der Nicht-Identität und des kollektiven Auftretens in Masken ermöglicht?

TW: Unbedingt. Das trifft sich in vielen Alltagspraktiken, wie in der Frage nach der religiösen Identität, um ein Beispiel zu nennen, weil die Zapatisten oft für europäische Linke darüber unangenehm aufgefallen sind, daß sie die Jungfrau Maria mit sich herumtragen und lauter Dinge machen, die sich als Linke wirklich nicht gehören. Für die Zapatisten gibt es diese Ausschließlichkeit nicht, nur dies oder jenes zu sein. Es steht dir frei, zu sein, was du willst. Das Pochen auf Differenz ist eine alltägliche Notwendigkeit, die viel mit der inneren Strukturiertheit zu tun hat. Schließlich handelt es sich nicht um eine homogene indigene Bevölkerung. Im Kern sind es vier Ethnien mit unterschiedlichen Sprachen und Geschichten. Es berührt die elementare Alltagserfahrung dieser Leute, wie man mit der Differenz umgeht. Innerhalb der zapatistischen Bewegung gilt für alle Milizionäre, Spanisch zu lernen. Spanisch ist die Umgangssprache, also die Neubedeutung einer eigentlich hegemonialen Kolonialsprache, die man sich aber als Verständigungswerkzeug aneignet. Natürlich wird es auch unterstützt, andere indigene Sprachen zu lernen. Das ist ein Bildungsziel. Aber das wird nicht homogenisiert in dem Sinne, wir, die Indigenen, müssen die indigenen Sprachen lernen. Das können wir, wenn wir es wollen, aber es ist nicht die identitäre Homogenisierung, die uns zu Zapatisten macht. Da gibt es jede Menge konkreter Lebens- und Alltagspraktiken, die das unterstützen.

So verhält es sich auch mit dem Leitsatz, fragend schreiten wir voran. Tatsächlich ist das ein Slogan, der erst ab 1996 oder 1998 aufgekommen ist, den es aber in der zapatistischen Praxis seit Anbeginn gibt. Das ist ein oft nicht genügend wertgeschätztes Detail, daß der erste Befehl des zapatistischen Heers 1994 nicht etwa hieß, "die Macht ausüben, ohne den Staat zu erobern", wie John Holloway behauptet, sondern der erste Marschbefehl für das zapatistische Heer lautete: "Wir nehmen eine Stadt nach der anderen ein, bis wir nach Mexiko City kommen und das ganze Land erobert haben." Da startete man mit dem klassisch leninistisch-maoistischen Konzept vom langen Marsch ins Zentrum, um die Macht neu zu strukturieren. Der Ausspruch wurde unterwegs über Rückbefragungen zu zapatistischen Unterstützungsbasen verändert, weil ihr Aufstand ein großes öffentliches Interesse erregte, mit dem sie nicht gerechnet hatten. Das Heer ist nicht angetreten, um die neueste Propagandamaschine zu erfinden, sondern um ihre Rechte einzufordern. Die waren selber überrascht, was für eine Lawine an internationaler und nationaler Solidarität sie losgetreten haben. Das hat dann zu diesen Veränderungen geführt. Damit wird eine konkrete politische Praxis beschrieben und nicht die schöne Theoretisierung von etwas, das sich vielleicht zufällig oder in Spuren so ereignet hat, Nein, das verdeutlicht durchaus das Bewegungselement für das Funktionieren des Zapatismus.

SB: Hast du den Eindruck, daß die Organisations- und Lebensformen, die du hier auf der kurdischen Konferenz vermittelst, auf Interesse stoßen und Menschen vielleicht dazu anregt, über Dinge neu nachzudenken?

TW: Ja, und auch zu meinem eigenen Erstaunen, denn die große Welle der Sympathie ist natürlich abgeflaut. Wir sind nicht mehr in den 90er Jahren, wo der größte Teil der politischen Sozialisation über das Wissen oder die Referenz zu den Zapatisten erfolgt war. Heute engagieren sich die Leute beim World Social Forum und wissen gar nicht, daß die Slogans, die sie benutzen, von den Zapatisten erfunden worden sind. Auf diese Weise kommt es zu einer großen Aktualität dieser Ideen. Wenn Leute zum ersten Mal damit in Berührung kommen, erleben sie Momente von Elektrisierung. Allerdings will ich auch nicht verschweigen, daß wir in wirklich schwierigen Zeiten sind, insbesondere durch den sogenannten Drogenkrieg in Mexiko. Ich sage deshalb "sogenannter Drogenkrieg", weil es im Grunde genommen ein Bürgerkrieg und nicht so sehr ein Drogenkrieg ist. Es ist ja nicht so, daß die Regierung gegen die Drogenhändler vorgeht, sondern die Regierung ist Teil einer kriegführenden Partei in dieser Gemengelage aus Drogenbanden, Paramilitärs und Leuten, die um ihre Machtpfründe verhandeln. Das ist eine waschechte Bürgerkriegssituation. Das staatliche Machtmonopol wird gar nicht mehr in Frage gestellt. Das ist obsolet. Das offizielle Militär ist eine von fünf, vielleicht sechs kriegführenden Parteien und noch nicht einmal die stärkste. Das hat enorme soziale Folgen, weil die gesamte Bevölkerung darin verwickelt ist. Da gibt es keine Trennung zwischen denen, die im Drogenhandel involviert sind, und jenen, die nichts damit zu tun haben. Die Konsequenz ist jedenfalls, daß über 250.000 Militärs nicht in ihren Kasernen sind, sondern in den Dörfern herumlungern, unglaublich schlecht bezahlt sind und sich ihr Geld ständig auf eigene Faust erwirtschaften, wie zum Beispiel Migranten aus Mittel- und Südamerika, die durch Mexiko in die USA gelangen wollen, entführen und erpressen. Den Ärmsten der Armen wird noch das Wenige weggenommen, was sie haben, und dann enden sie in Massengräbern. Das hat mit Drogenkonflikten überhaupt nichts zu tun, sondern das ist eine soziale Eskalation, ein postkapitalistischer Bürgerkrieg, könnte man sagen.

In einer solchen Situation haben es natürlich alle sozialen Gruppierungen schwer, insbesondere eine bewaffnete Bewegung, die ihre Waffen nicht einsetzt. Viele Leute schlagen die Hände über den Kopf zusammen und sagen, wenn ihr Waffen habt, dann benutzt sie doch wenigstens. Das muß man den Zapatisten allerdings hoch anrechnen, daß sie nach wie vor dazu stehen, daß die Waffe nicht das letzte Argument ist. Die Waffe ist ein Mittel zur Unterstützung eines politischen Arguments. Es macht jedoch keinen Sinn, als eine weitere kriegführende Partei in diesem Szenario aufzutreten. Diese Stimme spricht leise, aber sie ist insistent und immer noch vorhanden und bringt trotz aller widrigen Umstände auch Modelle hervor, die, das muß man allerdings einräumen, insbesondere in Mexiko nicht mehr diese große Strahlkraft besitzen.

SB: Besteht seitens der Mexikaner die Befürchtung, daß es im Rahmen dieser failed state-Doktrin irgendwann zu einer Intervention durch die USA kommt, die militärisch eingreifen, um einen gescheiterten Staat vor ihrer Haustür wieder auf die Beine zu stellen?

TW: Es gibt diese Angst, aber ich würde sagen, sie ist naiv. Die Intervention ist schließlich längst im Gange. Sie hat nicht den Charakter einer großen Militärintervention oder militärischen Besetzung, sondern nimmt in den letzten Jahren dadurch Gestalt an, daß die US-amerikanische Behörde für Drogen und Waffen Tausende von Waffen nach Mexiko geschleust hat, unter dem Vorwand, den Weg der Waffen verfolgen zu wollen, um so die Netzwerke der Drogenhändler aufzudecken. In Wirklichkeit sind die Waffen für die Amerikaner spurlos verschwunden. Inzwischen weiß man, daß 90 Prozent aller Waffen, die in Mexiko zum Krieg verwendet werden, aus den USA stammen. Auf diese Art von Intervention braucht man nicht zu warten, es gibt sie längst schon. Das hat sehr gefährliche Ausmaße angenommen, vor allem, weil es immer noch Leute gibt, die von einer drohenden Intervention sprechen. Auf diese Weise verschließt man die Augen vor den realen Zuständen, in denen sich das Land befindet.

SB: Tom Waibel, wir bedanken uns für dieses ausführliche Gespräch.

Tom Waibel mit SB-Redakteur - Foto: © 2012 by Schattenblick

Tom Waibel mit SB-Redakteur
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29. Februar 2012