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INTERVIEW/114: Kongreß Kurdischer Aufbruch - die US-Linke erwacht (SB)


Interview mit John Cronan jun. am 5. Februar in Hamburg


Seit dem letzten Herbst prangert die Occupy-Bewegung, die mit dem Versuch einer Gruppe Kapitalismusgegner, die New Yorker Börse an der Wall Street zu besetzen, ihren Lauf nahm, lautstark die weltweit zunehmend zu verzeichnende Ungleichheit an. Am zweiten Tag der Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern - Alternative Konzepte und der kurdische Aufbruch" an der Hamburger Universität am 5. Februar berichtete John Cronan jun. im Rahmen der Session "Ein neues Paradigma: Demokratische Moderne" unter dem Arbeitstitel "Eine neue Demokratie ist möglich: Ausblick auf eine partizipatorische Ökonomie" über den aktuellen Stand der sozialen Kämpfe in den USA. Kurz danach konnte der Schattenblick mit dem 28jährigen irisch-amerikanischen Politaktivisten das Thema vertiefen.

John Cronan jun. im Portrat - Foto: © 2012 by Schattenblick

John Cronan jr.
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Cronan, könnten Sie uns etwas über ihre Herkunft und ihren politischen Werdegang erzählen?

John Cronan: Väterlicherseits bin ich irischer, mütterlicherseits italienischer Abstammung, was mir als Kind nicht so wichtig war, mir jedoch später einen Einblick in die schwierige Lage der heutigen Einwanderer in die USA verschaffte. Ich bin an der Ostküste in Providence, Rhode Island, aufgewachsen. Mein Vater arbeitete sein Leben lang bei der Eisenbahn. Dort war er Gewerkschaftsvertreter. Also bin ich von Zuhause aus mit Geschichten über den Freiheitskampf der Iren gegen Fremdherrschaft sowie über den ständigen Kampf der Gewerkschaften und der Arbeiterschaft um soziale Gerechtigkeit großgeworden.

Weil meine Eltern wenig Geld hatten, bin ich auf eine staatliche Schule gegangen. Dort waren Weiße wie ich in der Minderheit. Also bekam man es sehr stark mit der Rassenproblematik zu tun. Ich stellte fest, daß meine Familie, da mein Vater über seine Stelle bei der Eisenbahn kranken- und sozialversichert war, im Vergleich zu denen meiner schwarzen und latinostämmigen Schulfreunde, Privilegien genoß. Diese Privilegien gründeten sich zum Teil auf den Rassismus, denn bis in die siebziger Jahren wurden bei der Eisenbahn im Großraum Boston keine Schwarzen oder Latinos, sondern nur Arbeiter europäischer Abstammung wie Iren und Italiener eingestellt. Als Jugendlicher geriet ich recht schnell mit Institutionsvertretern einander. Erstens bekam ich Ärger an der Schule, weil ich dort, nachdem ich nebenbei zu jobben angefangen hatte, häufiger verspätet eintraf. Zweitens fing ich aufgrund wachsenden Bewußtseins an, die katholische Kirche in Frage zu stellen. Ich hatte nicht den Eindruck, daß sich der Klerus nach dem richtete, was Jesus Christus gepredigt hatte, sondern zur Durchsetzung eigener Machtinteressen politische Ziele verfolgte.

Als ich dann irgendwann mein erstes Buch von Noam Chomsky las, hat das mein politisches Denken sehr beeinflußt. Erstmals war ich auf einen Intellektuellen gestoßen, der die gesellschaftlichen Phänomene, die mir beim Aufwachsen aufgefallen waren, benennen und analysieren konnte. Ich bin sehr froh darüber, damals auf die Ideen Chomskys gestoßen zu sein, denn zu dem Zeitpunkt war ich gerade mit der Schule fertig und spielte aus Mangel an anderen Perspektiven mit dem Gedanken, zum Militär zu gehen. Zum Glück habe ich das nicht gemacht, denn bald darauf fing der Krieg gegen den Irak an. Statt dessen habe ich mich auf dem Community College von Rhode Island, einer staatlichen Hochschule, eingeschrieben. Dort belegte ich zunächst Kurse in Chemie und Sportwissenschaft, wechselte aber nach eineinhalb Jahren an die Pace Universität in New York, um Politikwissenschaft zu studieren. Übrigens habe ich über mein Interesse am Sport, hauptsächlich Baseball, Basketball und American Football, einiges über Strategie gelernt, was mir später bei der politischen Arbeit geholfen hat.

SB: Wann hat Ihre politische Betätigung begonnen?

JC: Mit 18, 19 Jahren war ich schon radikalisiert. Als ich zur Pace University ging, kam es dort wie überall an den amerikanischen Hochschulen zu einer Wiederbelebung des Politischen infolge der Proteste gegen den Irakkrieg.

SB: Also während der Amtszeit George W. Bushs als Präsident?

JC: Genau. Dazu gehörte 2006 die Neugründung der Organisation Students for a Democratic Society (SDS), die in den sechziger Jahren eine wichtige Rolle bei der Bürgerrechts- und Antikriegsbewegung gespielt hatte, jedoch 1969 aufgrund eines heftigen Richtungsstreits auseinandergebrochen war. Damals gehörten Studenten im ganzen Land zu den politischen Aktivisten. So wurde ich zum Beispiel zwischen 2004 und 2007 neunmal verhaftet.

SB: Weswegen?

JC: Wegen zivilen Ungehorsams - also Störung der öffentlichen Ordnung, Behinderung der Polizei bei der Ausübung ihrer Pflicht, Verstoßes gegen die Straßenverkehrsordnung und ähnliches.

SB: Wenn ich mich richtig erinnere, gab es riesige Protestaktionen und ebenso umfassende Gegenmaßnahmen der Polizei in New York im September 2004 anläßlich des republikanischen Parteitages, bei dem Bush jun. erneut zum Präsidentschaftskandidaten gewählt wurde.

JC: Stimmt. Bei einer jener Demonstrationen wurde ich das erste Mal verhaftet. Insgesamt nahmen damals rund 500.000 Menschen an den Protesten gegen die Republikaner-Gaudi teil und mehr als 1000 von ihnen wurden von der Polizei in Gewahrsam genommen. An der Pace haben wir in diesen Jahren zahlreiche Aktionen gegen Stellen- und Mittelkürzungen, höhere Bildungsgebühren und überzogene Gehälter für die Universitätsleitung durchgeführt. Wir haben damit auch einigen Erfolg gehabt. So haben wir dafür gesorgt, daß der Präsident der Universität, der, man glaubt es kaum, ein Gehalt von jährlich 700.000 Dollar bezog, und vier Vorstandsmitglieder zurücktreten mußten. Während einer Aktion bin ich sogar auf dem Campus der Universität von der Polizei festgenommen worden, was natürlich Proteste der Studenten gegen die Einschränkung der Redefreiheit nach sich zog.

Da ich neben meinem Studium auch abends jobbte, meistens in der Gastronomie, habe ich angefangen, mich auch in der Arbeitswelt politisch zu betätigen. Als Mitglied einer kleineren, unabhängigen Gewerkschaft habe ich versucht*, Lagerhallenarbeiter, die zumeist illegale Einwander aus Mexiko und den anderen Staaten Lateinamerikas waren, gewerkschaftlich zu organisieren.

SB: Da hatten Sie noch nicht angefangen, in der Gastronomie Leute gewerkschaflich zu organisieren?

JC: Nein, erst seit kurzem arbeite ich für das Restaurant Oppertunities Center - New York (ROC-NY). Es ist keine Gewerkschaft, sondern eine von Mitgliedern getragene, gemeinnützige Organisation, die nach den Anschlägen vom 11. September 2001 mit dem Ziel gegründet wurde, die Arbeitsbedingungen in der New Yorker Gastronomie zu verbessern und für den ordentlichen Mindestlohn, die Krankenversicherung und den Schutz vor willkürlicher Entlassung zu kämpfen. Als Voluntar habe ich vor zweieinhalb Jahren angefangen, Beschäftigte in der Gastronomiebranche in New York gewerkschaftlich zu organisieren. Vor kurzem hat das Center mir eine Vollzeitstelle als Organisator gegeben. Davor hatte ich zwölf Jahre lang als Bedienungshilfe und Kellner in Nobelrestaurants gearbeitet. Damit habe ich mein Studium finanziert - zuerst den Bachelor in Politikwissenschaft und danach den Master in Gewerkschaftsstudien. Das Studium habe ich im vergangenen Mai abgeschlossen und die Stelle beim Restaurant Oppertunities Center im letzten Dezember bekommen.

SB: Als jemand, der seit Jahren aktiv an den sozialen Kämpfen in New York teilnimmt, sind sie vermutlich von der ersten Stunde an bei der Occupy-Bewegung mit dabei gewesen. Im vergangenen Sommer hatten verschiedene Leute und Gruppen, darunter Kevin Zeese von der Friedensbewegung, für den 6. Oktober, den Jahrestag des Beginns des Afghanistankrieges, zu einer Großdemonstration in Washington aufgerufen, die wie die auf dem Kairoer Tahirplatz tage- oder auch wochenlang dauern sollte. Doch bevor es überhaupt dazu kommen konnte, hatte die Initiative Occupy Wall Street mit Protesten in New York begonnen und einen Steinwurf von der Börse entfernt in Südmanhattan ein Zeltlager im Zuccotti Park aufgeschlagen. Können Sie uns vielleicht schildern, wie Sie die Entstehung der Occupy-Bewegung erlebt haben?

JC: Im Frühjahr 2011 lief bei den Gewerkschaften, Wohltätigkeits- und Bürgerrechtsorganisationen in New York eine breite Mobilisierungskampagne gegen die von Bürgermeister Michael Bloomberg geplanten Haushaltskürzungen an. Ein Höhepunkt der Kampagne, in die ich auch involviert war, bildete ein Protestmarsch am 12. Mai, an dem rund 20.000 Menschen teilnahmen und dessen Route an der Wall Street vorbei führte, bevor es vor dem nahegelegenen Rathaus zur Schlußkundgebung kam. Im Rahmen dessen wurde unter dem Titel "Bloombergville" auch ein Zeltlager vor dem Rathaus errichtet. An dieser Aktion haben zu Beginn rund 100 und danach zwischen 50 und 60 Leuten teilgenommen. Bei denjenigen, die nachts im Freien vor der City Hall schliefen, handelte es sich hauptsächlich um Anhänger und Mitglieder renommierter linker Gruppierungen und Parteien. Irgendwann haben die Verantwortlichen der Anti-Konsum-Zeitschrift Adbusters zu einer Aktion am 17. September vor oder in der unmittelbaren Nähe zur New Yorker Börse aufgerufen, wo viele der Hauptverantwortlichen für die aktuelle Weltwirtschaftkrise tätig sind. Daß es sich dabei um eine bedeutsame Aktion handeln würde, war schon im Vorfeld klar. In den Wochen davor fanden deswegen hauptsächlich in New York zahlreiche öffentliche Treffen statt, an denen jeweils rund 100 Personen teilnahmen, darunter auch etliche Anarchisten, die eine meines Erachtens wenig konstruktive Haltung einnahmen. Sie wollten zum Beispiel nicht mit den Gewerkschaften zusammenarbeiten, weil deren Vertreter angeblich allesamt Verräter an der Arbeiterschaft seien. Es wurde die Frage diskutiert, ob man die Börse erstürmen und besetzen sollte - und wenn ja, dann für wie lange. Jedenfalls hatte ich, kurz bevor es losging, keine allzu hohen Erwartungen. Wenngleich einige meiner Freunde die Facebook-Seite für die ursprüngliche Occupy-Wall-Street-Bewegung eingerichtet hatten, haben wir uns vom Restaurant Oppertunities Center als Organisation etwas zurückgehalten, denn wir wollten unsere Kräfte nicht zu sehr an eine einzelne Aktionen binden.

Die geplante Demonstration am fraglichen Tag fiel daher auch nicht besonders groß aus. Um die hundert Leute haben in den ersten Tagen auf dem Gelände des Zuccotti Parks kampiert, aber ohne Zelte, weil sie dort verboten sind. Jedenfalls lief zunächst alles recht unspektakulär ab. Eine Reihe von Ereignissen hat dem Ganzen jedoch kräftig Schwung verliehen. Dazu gehörten die Proteste anläßlich der Hinrichtung von Troy Davis am 21. September. Rund eine Woche später fand ein Marsch vom Zuccotti Park zum Union Square statt. Während des Protestmarsches, an dem rund 2000 Menschen teilnahmen, haben wir den Bürgersteig verlassen und die Straße blockiert, was in New York verboten ist. Darauf hat die NYPD ziemlich heftig reagiert. Rund hundert von uns wurden festgenommen, einschließlich ich. Einigen jungen Frauen wurde Reizgas direkt ins Gesicht gesprüht. Die Bilder davon waren kurz danach im Internet bei Youtube zu sehen und haben natürlich für Empörung gesorgt. Plötzlich interessierten sich auch die großen Medien für die Proteste, was zu einem Schneeballeffekt führte. Von der ersten Woche an haben wir uns bemüht, Arbeiter im Billiglohnsektor und Leute von den Einwandererorganisationen zu mobilisieren, da die Occupy-Bewegung anfangs hauptsächlich von jungen Weißen aus der Mittelschicht, darunter viele Studenten, getragen wurde. Doch erst die Brutalität der New Yorker Polizei und das Interesse der Medien haben das Ganze zu einem landes- und weltweiten Phänomen werden lassen.

SB: Wie beurteilen Sie die Auswirkungen der Occupy-Bewegung rund ein halbes Jahr später? Wird es eine langfristige Angelegenheit sein oder wie ein Strohfeuer verpuffen?

JC: Meines Erachtens sind drei unübersehbare und wichtige Folgen zu benennen: Erstens hat Occupy den politischen Diskurs in den Vereinigten Staaten radikal verändert. Einer wissenschaftlichen Studie zufolge wurde in den drei Monaten nach dem Auftakt der Occupy-Proteste das Wort "Ungleichheit" um ein vielfaches häufiger in den Medien verwendet als in den ersten neun Monaten des Jahres 2011. Das lag daran, daß sich die Politiker und Medienkommentatoren gezwungen sahen, die von uns ins Gespräch gebrachten Themen, allen voran die ungerechte Ressourcenverteilung und die wachsende Kluft zwischen arm und reich, eingehender zu behandeln. Zweitens haben wir einige kleine Erfolge im Bereich des sozialen Kampfes errungen. So haben wir mit unseren Protesten zum Beispiel die Bank of America dazu gebracht, auf die Einführung einer Transaktionsgebühr von fünf Dollar auf alle Kontobewegungen zu verzichten. Drittens haben Mitglieder der Occupy-Bewegung in letzter Zeit vielfach mit Protestaktionen im ganzen Land die Durchführung von Räumungsbefehlen bei Familien, die mit den Zahlungen ihrer Hypotheken an die Bank in Rückstand geraten waren, verhindert und obdachlose Menschen in freistehenden Wohnungen untergebracht und sie damit von der Straße geholt.

Ein wichtiger Aspekt der Occupy-Bewegung in den USA ist vor allem, daß Menschen, die für soziale Gerechtigkeit und Gleichheit eintreten, nicht mehr ohne weiteres als radikal-linke Spinner abgetan werden können. Die Teilnehmer der Proteste stammen aus allen gesellschaftlichen Schichten. Dadurch kennt praktisch jeder beziehungsweise jede jemanden, der an den Occupy-Aktionen teilnimmt. Wenn es nicht nur "irgendwelche Chaoten", sondern die eigenen Familienangehörigen, Verwandte, Freunde oder Arbeitskollegen sind, die von der Polizei drangsaliert und vielleicht mißhandelt werden, reagiert man ganz anders, sobald man Bilder davon in den Abendnachrichten sieht. Durch meine Arbeit im Restaurant habe ich mitbekommen, wie die Gäste über die Occupy-Bewegung und die Gründe für die Proteste diskutieren, und ob es eine gute oder schlechte Sache sei. Das ist ungewöhnlich, denn in den USA wird nicht viel über politische Inhalte geredet. Der Diskurs beschränkt sich normalerweise auf das übliche Parteiengezänk zwischen Demokraten und Republikanern und auf Fragen wie: Soll man dieses Jahr 250 oder vielleicht doch 255 Milliarden Dollar für den Krieg in Afghanistan ausgeben? Nach meiner subjektiven Einschätzung halten die meisten Amerikaner die Kritik am kapitalistischen System für angebracht. Schließlich sind sie selbst von der wirtschaftlichen Krise betroffen, zumal ihnen die seit Jahren anhaltende Verschlechterung der Arbeitsbedingungen nicht entgangen ist.

Langfristig müssen wir zusehen, daß wir die Occupy-Bewegung institutionalisieren, ohne dabei deren Vorzüge und Kreativität zu verlieren. Wenngleich ich der ganzen Sache zu Beginn skeptisch gegenüberstand, muß ich doch zugeben, daß es der Occupy-Bewegung gelungen ist, linke Systemkritik gesellschaftsfähig zu machen - etwas, was die etablierten Parteien und Gruppierungen links von der demokratischen Partei seit Jahren beziehungsweise seit Jahrzehnten nicht hinbekommen hatten. Von daher bin ich der Meinung, daß sich die Linke in den USA nicht einfach über das größer gewordene Publikum für ihre Botschaft freuen darf und ihre Arbeit einfach wie bisher fortsetzt, sondern daraus lernen muß, wie es die Occupy-Bewegung fertiggebracht hat, so viele Menschen zu politisieren.

SB: Einige Beobachter wie zum Beispiel die Autoren von der World Socialist Website warnen bereits vor der Gefahr der Vereinnahmung oder der Kooptierung der Occupy-Bewegung durch die Gewerkschaften und Barack Obamas Demokraten. Sind solche Befürchtungen begründet?

John Cronan am Stehpult von links - Foto: © 2012 by Schattenblick<

Foto: © 2012 by Schattenblick

JC: Ich halte die Occupy-Bewegung für nicht-vereinnahmbar beziehungsweise für nicht-kooptierbar. Bei meiner Einschätzung beziehe ich mich auf die tiefsitzende Skepsis der meisten Occupy-Aktivisten gegenüber der Parteienpolitik. Die Menschen, die sich in der Occupy-Bewegung engagieren, sind in der Mehrzahl des üblichen Politgeschäfts der Demokraten und Republikaner überdrüssig geworden. Damit wollen sie auf keinen Fall mehr etwas zu tun haben. Nichtsdestotrotz gehe ich davon aus, daß die Demokraten um Präsident Obama und Außenministerin Hillary Clinton versuchen werden, mittels der Übernahme oder des einfachen Nachplapperns einiger Forderungen der Occupy-Bewegung den Anschein zu erwecken, als hätten sie ihr soziales Herz wieder entdeckt und stünden an der Seite der Lohnabhängigen und der gesellschaftlich Benachteiligten und seien nicht wie die Republikaner den Großkonzernen zu Diensten. Ich glaube aber nicht, daß sie damit erfolgreich sein werden.

Bei den Gewerkschaften liegen die Dinge etwas anders. Man könnte argumentieren, die Gewerkschaften schielten jetzt auf den großen Zulauf, den die Occupy-Bewegung in den letzten Monaten zu verzeichnen hatte, und wollten daher die Gelegenheit nutzen, um neue Mitglieder anzuwerben und den Prozentsatz der gewerkschaftlich organisierten Menschen in den Betrieben wieder anzuheben. Ich hingegen bin der Überzeugung, daß die Gewerkschaften bei der Entstehung der neuen Protestbewegung eine wichtige und positive Rolle gespielt haben. Dazu kommt, daß die große gesellschaftliche Resonanz, auf die die Forderungen der Occupy-Bewegung nach sozialer Gerechtigkeit stoßen, es den Gewerkschaften erlaubt, radikalere und unnachgiebigere Positionen gegenüber den Arbeitgeberverbänden einzunehmen. Als beispielsweise im letzten Herbst die Mitarbeiter des Telekomunternehmens Verizon, von denen viele gewerkschaftlich bei der Communication Workers of Amerika organisiert sind, streikten, solidarisierten sich die Occupy-Aktivisten mit ihnen und nahmen an ihren Demonstrationen teil. Schließlich liegt das Hauptquartier von Verizon in unmittelbarer Nähe zum Zuccotti Park. Und als Bürgermeister Bloomberg erstmals mit der Räumung des Zuccotti Parks aus "hygienischen Gründen" drohte, waren es Gewerkschaftler, die sich nach Südmanhattan aufmachten, eine Menschenkette um das Gelände bildeten und die Polizei an der Zwangsräumung hinderten. Gleichzeitig tauchten Mitglieder von 32BJ, der Gewerkschaft der Hausmeister auf, und säuberten den Platz vorschriftsmäßig.

Natürlich muß man zwischen den Interessen der Führung und der einfachen Mitglieder in den Gewerkschaften unterscheiden. Häufig macht die Gewerkschaftsführung irgendwelche Deals mit der Konzernspitze, die die Interessen der eigenen Mitglieder untergraben. Im Fall von Occupy hält sich die Führung der großen Gewerkschaften auffällig zurück. Offenbar haben die Verantwortlichen dort erkannt, daß es nur Vorteile für sie bringt, wenn die Gewerkschaften eine gewisse Distanz zur Occupy-Bewegung halten und diese nicht einfach schlucken. Ich hoffe es jedenfalls.

SB: Die großen Gewerkschaften in den USA stehen traditionell im Ruf, ihre Mitglieder im Sinne der Arbeitgeber zu lenken, statt sich wirklich für ihre Interessen einzusetzen. Unter anderem ist es diese Haltung, die in den letzten vier Jahrzehnten zum großen Schwund unter den Gewerkschaftsmitgliedern geführt hat. Eine Verbesserung ist nicht in Sicht. Bei der von der Obama-Regierung subventionierten und durchgeführten "Rettung" der US-Autoindustrie hat die Gewerkschaft United Auto Workers geholfen, eine Halbierung der Arbeitergehälter durchzusetzen. Durch den Einsatz von Mitteln aus der Rentenkasse ihrer Mitglieder ist die UAW zum Großaktionär bei General Motors und sogar zum Hauptanteilseigner bei Chrysler geworden und hat in dieser Funktion die neue Lohnkürzungspolitik durchgedrückt. Kann die Occupy-Bewegung mit solchen Leuten überhaupt gemeinsame Sache machen?

JC: Seit langem sehen die Gewerkschaften bei uns ihre Aufgabe darin, für den betrieblichen Frieden zu sorgen, damit sich das jeweilige Unternehmen am Markt behaupten kann und die Mitglieder dadurch ihre Arbeitsplätze nicht verlieren. Eine solche Haltung läßt keinen Raum für den Kampf um soziale Gerechtigkeit zu. Deswegen müssen die großen US-Gewerkschaften dringend reformiert werden. In den letzten Jahren haben sich einige Gewerkschaften um Einwanderer aus Lateinamerika, die meistens im Billiglohnsektor tätig sind, gekümmert. Das hat sich für beide Seiten ausgezahlt. Die Bevölkerungsgruppe, die derzeit bei den Gewerkschaften am rasantesten wächst, ist die der farbigen Frauen.

Natürlich sind die Gewerkschaften von Stadt zu Stadt und von Bundesstaat zu Bundesstaat verschieden. In New York haben wir viele progressive Gewerkschaften. Ich denke da an die New Yorker Transportgewerkschaft, deren Mitglieder 2005 einen massiven Streik gegen Kürzungen und Preiserhöhungen im öffentlichen Verkehr und für Lohnzuwachs durchgeführt haben. Seitens der Öffentlichkeit, speziell der Millionen von Menschen, die täglich mit Bus und U-Bahn zur Arbeit und danach wieder nach Hause fahren, ist der Streik der Transportgewerkschaft damals auf sehr viel Verständnis gestoßen. Und das ungeachtet oder vielleicht gerade wegen der Tatsache, daß der Vorsitzende der Gewerkschaft in diesem Zusammenhang wegen Mißachtung irgendwelcher Gesetze vorübergehend verhaftet wurde. Dieser Vorfall zeigte, wie arbeitnehmerfreundlich die Gesetze in den USA wirklich sind, und damit, wie sehr sie reformbedürftig sind.

Traditionell stehen die Gewerkschaften den Demokraten nahe. Vermutlich ist es diese Nähe, die verhindert hat, daß es in den USA, im Gegensatz zu den europäischen Industrienationen, nicht zur Entstehung einer großen und mächtigen sozialdemokratischen Partei gekommen ist. Auch wenn die europäischen Sozialdemokraten seit Jahren nach rechts tendieren, stehen sie in ihren Positionen immer noch links von unseren Demokraten. Von daher, meine ich, ist die Zeit für die amerikanischen Gewerkschaften gekommen, eine neue Richtung einzuschlagen. Und in diesem Zusammenhang glaube ich, daß der Einfluß der Occupy-Bewegung auf die öffentliche Diskussion den Gewerkschaften den nötigen Freiraum für einen solchen Kurswechsel verschafft.

Gleichwohl muß auf Seiten der progressiven linken Kräfte in den USA strategischer gedacht werden. Dieses Jahr steht die Präsidentenwahl an. Es werden für die Demokraten Präsident Obama und für die Republikaner irgendein reaktionärer Schreihals wie Newt Gingrich oder Rick Santorum kandidieren. Letztere sind für progressiv oder liberal denkende Menschen vollkommen unwählbar, aber gleichwohl stellt sich die Frage, warum man Obama seine Stimme geben sollte. Er hat nichts für die Millionen von Menschen getan, die ihre Wohnungen durch Zwangsräumung zu verlieren drohen oder bereits verloren haben. Während der ersten drei Jahre seiner Amtszeit als Präsident hat es mehr Zwangsräumungen als jemals zuvor in der Geschichte der USA gegeben. Auch sein Versprechen, das Sonderinternierungslager auf dem US-Marinestützpunkt an der kubanischen Guantánamo Bay zu schließen, hat er nicht eingelöst. Er hat die illegalen Drohnenangriffe auf "terroristische" Ziele in Pakistan, Somalia und im Jemen drastisch forciert. Und er hat das Justizministerium verstärkt gegen sogenannte Whistleblowers - bestes Beispiel Bradley Manning - vorgehen lassen. Trotzdem haben mehrere Gewerkschaften ihren Mitgliedern bereits empfohlen, für Obama zu stimmen, und Gelder zur Finanzierung seiner Wahlkampfkampagne gespendet. Für sie stellt er das kleinere Übel dar. Damit dürften sie vielleicht sogar recht haben. Aber es stellt sich die Frage, ob und wann die Gewerkschaften und die anderen progressiven sozialen Organisationen endlich mit dem Aufbau einer politischen Alternative zu den Demokraten, die für linksliberale Wähler attraktiv wäre, beginnen werden. Meines Erachtens wären die Gewerkschaften besser beraten, diesmal die Kandidatur Obamas formell nicht zu unterstützen, denn ihre Mitglieder, die zur Wahl gehen, werden ohnehin für ihn stimmen. Mit einer gewissen Distanzierung zu Obama würden sich die Gewerkschaften vielleicht eine bessere Verhandlungsposition den Demokraten gegenüber verschaffen. Deswegen müssen die Gewerkschaftsführer unter mehr Druck gestellt werden. Und dieser soll von den einfachen Mitgliedern und den Anhängern der Occupy-Bewegung kommen.

SB: Wie Ihrem Blog auf der ZNet-Webseite zu entnehmen ist, treten Sie wirtschaftspolitisch für eine Übernahme des Parecon-Concepts von Michael Albert und Robin Hahnel ein. Das Wort Parecon leitet sich aus dem Begriff "participatory economics" ab. Albert arbeitet seit einigen Jahren an der Idee einer Wirtschaftsordnung, die sich nicht nach der Gewinnmaximierung, sondern nach den Bedürfnissen der Menschen, die basisdemokratisch ermittelt werden sollten, richtet. Wie sind Sie zum Mitstreiter für dieses Konzept geworden?

JC: Über die Schriften Chomskys bin ich auf Albert und Parecon gestoßen. Die Idee einer basisdemokratischen Wirtschaftsordnung war mir zunächst fremd. Obwohl ich aus einer Gewerkschaftsfamilie komme und recht früh den Kampf der IRA gegen die Briten in Nordirland unterstützte, war ich als Jugendlicher in sozialen Belangen recht konservativ eingestellt. So schwebte mir vor, nach der Schule zur Universität zu gehen und danach einen gutbezahlten Job auf der Managerebene zu ergattern. Auf der Universität habe ich mich aber mehr und mehr für die Fragen des sozialen Kampfes interessiert und dabei Marx und Schriften über Anarchismus gelesen. Inzwischen würde ich mein Denken als anarcho-syndikalistich bezeichnen. Als Sozialist dachte ich, daß es nicht genüge, die bestehenden kapitalistischen Verhältnisse zu kritisieren, man müsse den Menschen auch eine Alternative präsentieren können. Als ich dann Alberts Ideen, wie und mit welchen Institutionen man konkret eine klassenlose Gesellschaft schaffen könnte, in der die Bedürfnisse von allen befriedigt werden, las, haben sie mich überzeugt. Zwei Aspekte haben mir dabei besonders gefallen: erstens der Abschied von einer zentralgelenkten Planwirtschaft, die, wie wir wissen, in der Sowjetunion gescheitert ist; und zweitens die Identifizierung der Manager-Klasse als besonders kritikwürdig. Letzteres deckte sich mit meinen eigenen Erfahrungen. Denn wenn es Leute gab, die ich in meinem Leben im besonderen als Unterdrücker erlebt hatte, dann waren es nicht die großen Bosse, sondern die Funktionäre des mittleren Managements - Priester, Schuldirektoren, Universitätsrektoren und Anwälte. Nach Alberts Leseart sind gerade sie diejenigen, die das kapitalistische System am Laufen halten.

SB: Könnten Sie uns näher erklären, was Sie unter "Parecon" verstehen und wie eine "participatory economy" funktionieren sollte?

JC: Zunächst wäre das eine Wirtschaft, in der sich die Produktionsmittel im kollektiven, aber nicht im staatlichen Besitz befänden. Über die Ressourcenverteilung würden Arbeiterräte in den Betrieben und Bürgerräte auf der kommunalen Ebene zusammen entscheiden. Dazu käme Selbstverwaltung auf allen Ebenen. Es gäbe keine Managerklasse, die über die Köpfe aller anderen hinweg die Entscheidungen träfe. Die Abschaffung dieser Koordiniererschicht ginge mit einer Teilung der Arbeitsaufgaben auf alle einher. Es muß nicht jeder alles machen müssen, aber zumindest sollte es eine gerechte Verteilung der reizvollen und der weniger attraktiven Aufgaben geben. So würden Leute, die im Bergwerk arbeiteten, dafür als Ausgleich längere Ferien und mehr Freizeit als andere bekommen. Oder man könnte die schwere körperliche Arbeit auf viele verteilen, damit niemand sie besonders lange machen muß, sondern jeder eine lange Erholungsphase hätte, in der er sich einer anderen Aufgabe widmet.

Über den Arbeiter- und Kommunalräten gäbe es noch eine Ebene, um die Ressourcenverteilung in einem größeren geographischen und industriesektorialen Maßstab zu koordinieren. Auf der persönlichen Ebene liefe, was der oder die einzelne konsumieren darf, auf die Frage hinaus, über welche Zeit, wie intensiv und unter welchen Bedingungen man gearbeitet hätte. Die Produktivität gebe Auskunft über die Intensität. Es bliebe jedem überlassen, wie lange und wie intensiv er oder sie arbeiten möchten. Manche Leute würden vielleicht länger arbeiten und sich weniger stressen, andere kurzfristig lieber volles Tempo geben, um mehr Freizeit zu erhalten. Es gäbe die unterschiedlichsten Gestaltungsmöglichkeiten - Hauptsache, man träfe Absprachen miteinander und hielte sie ein. Preise hingen vom Aufwand ab, der nötig wäre, um das jeweilige Produkt herzustellen, sowie von der Verfügbarkeit der verwendeten Ressourcen. Hierbei müßte zudem die Verschiedenartigkeit der Menschen berücksichtigt werden. Manche Leute können bestimmte Aufgaben schneller und besser bewältigen - weil sie körperliche oder geistige Vorteile haben. All dies müßte in die Berechnung der Arbeitsleistung des einzelnen einfließen.

Wegen der Problematik der Giftstoffe, des Umweltschutzes und des Klimawandels bedürfe eine solche Wirtschaft schon einer gewissen Koordinierung, die aber auf dezentrale, demokratische Weise abliefe. Im Arbeiterrat würden die Arbeiter Vorschläge über Art und Ausmaß der herzustellenden Produkte machen, im Kommunalrat die Konsumenten über das, was sie am dringendsten benötigten und sich wünschten, diskutieren. Da Arbeiter auch Konsumenten sind und umgekehrt, könnte man die Bedürfnisse und Wünsche mit den Produktionszielen in Einklang bringen. Um dies zu gewährleisten, wären Koordinierungsräte vorgesehen.

SB: Gibt es konkrete Beispiele, wo man diese Theorie verwirklicht hat?

JC: In den USA gibt es auf niedriger Ebene einige genossenschaftliche Unternehmen wie Musikverlage und Restaurantketten, die solche Ideen bereits mit Erfolg praktizieren. Im nationalen Maßstab sind sie bisher noch nicht ausprobiert worden. Die Verwaltung der Städte Porto Alegre in Brasilien und Toulouse in Südfrankreich sowie die Regierung des indischen Bundesstaats Kerala haben jedoch einige Aspekte bereits aufgegriffen und verwenden sie. Wie man aus der Geschichte weiß, hat das Rätesystem in den ersten Jahren nach der Gründung der Sowjetunion, auf republikanischer Seite während des Spanischen Bürgerkrieges sowie in einigen italienischen Städten Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts ganz gut funktioniert. Auch heute greifen die Kurden in Südostanatolien auf dieses Modell der demokratischen Entscheidungsfindung zurück.

SB: Stößt das Parecon-Konzept in den USA auf zunehmendes Interesse?

JC: Ich denke schon, und zwar unter anderem deshalb, weil eine neue, junge Generation von Aktivisten es aufgegriffen hat, darüber eine laufende Debatte führt und es gleichzeitig verbreitet. Ich gehöre der Organization for a Free Society (OFS) an, die das Parecon-Konzept zur Grundlage ihrer wirtschaftlichen Erörterungen gemacht hat.

SB: Wie lange gibt es diese Organisation?

JC: Offiziell seit 2009. Im März jenes Jahres stellten wir unser Manifest auf dem Left Forum in New York und 2010 auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre vor. Davor hatten Aktivisten in New York und Michigan zwei Jahre lang mit zahlreichen Diskussionsrunden und schriftlichen Vorschlägen am Manifest gearbeitet. Zwar sind wir noch klein und am Wachsen, doch gehören viele Menschen, die von der ersten Stunde an bei der Occupy-Bewegung waren, der Organization for a Free Society an. Wir sind auch im Netz vertreten. Auf unserer Website - afreesociety.org - kann man mehr über uns und unsere Vision erfahren.

SB: Vielen Dank, Herr Cronan, für dieses Interview.

John Cronan am Stehpult von vorne - Foto: © 2012 by Schattenblick

Foto: © 2012 by Schattenblick

(Fortsetzung folgt)

1. März 2012