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INTERVIEW/142: Kapitalismus final - Betrieb, Kontrolle und IT-Systeme (SB)


Tomasz Konicz über neue Formen der IT-gestützten Arbeitsorganisation

Interview am 25. September 2012 in Hamburg-Wilhelmsburg



Der polnische Autor und Historiker Tomasz Konicz publiziert in linken Zeitungen und Zeitschriften wie junge Welt, Konkret, WOZ, Lunapark 21 und Telepolis. Am Rande seines Vortrages auf der Hamburger Veranstaltungsreihe "Kapitalismus in der Krise" [1] beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.

Anlage im 123Net Datacenter in Southfield, MI, 17 November 2011 - Foto: By 123net (Own work) [CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

Die virtuelle Haut zu Markte tragen ...
Foto: By 123net (Own work) [CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

Schattenblick: Die Lohnarbeit hat durch die mikroelektronische Revolution einen großen Rationalisierungsschub erfahren. Was einige als progressive Innovation erachten, bedeutet für andere den Verlust ihrer Arbeitsplätze. Glaubst du, daß diese Entwicklung tatsächlich auf eine Arbeitsgesellschaft hinausläuft, in der vielleicht nur noch ein Fünftel der Menschen, wie einige Prognosen meinen, Lohnarbeit nachgehen wird?

Thomas Konicz: Das ist zunächst einmal ein objektiver Prozeß und selbstverständlich schmilzt der Anteil der Lohnarbeit auch innerhalb des Prozesses der Kapitalreproduktion immer stärker ab. Das wäre an und für sich ein positiver Prozeß, der den alten Traum der Menschheit wahrmachen würde, die Mühsal der Arbeit immer weiter zu reduzieren. Wenn man von den Formen kapitalistischer Vergesellschaftung absieht, ist es ein progressiver, fortschrittlicher und positiver Prozeß. Aber innerhalb der kapitalistischen Vergesellschaftung haben wir jetzt die absurde Situation, daß immer mehr Leute marginalisiert werden und aus dem Prozeß herausfallen, die dann dem Terror der kapitalistischen Armuts- und Arbeitslosigkeitsverwaltung ausgesetzt sind.

Durch die Hartz-IV-Arbeitsgesetze bildet sich wiederum die Gruppe der Lohnabhängigen heraus, die immer stärker gehetzt werden und länger arbeiten müssen und so neueren Formen der Ausbeutung ausgeliefert sind. Das resultiert aus der Art und Weise, wie der Kapitalismus die Produktion organisiert und wie die Mehrwertproduktion im Kapitalismus mittels der Lohnarbeit gesteuert wird. Das ist der große Widerspruch, denn die Substanz des Kapitals ist die Lohnarbeit. Nachzulesen ist das im ersten Teil des Kapitals von Karl Marx.

Gleichzeitig strebt das Kapital danach, durch Rationalisierungen die Konkurrenz unter den Arbeitern dauerhaft zu installieren und die Lohnarbeit innerhalb der Kapitalverwertung immer stärker zu minimieren. Der Kapitalismus versucht permanent, seine eigene Substanz zu untergraben. Das ist der berühmte prozessierende Widerspruch, wie es Marx genannt hat. Und dieser prozessierende Widerspruch stößt jetzt an eine innere Schranke, die zu dieser furchtbaren Situation mit 25 Prozent Arbeitslosen in Spanien und Griechenland führt.

Gleichzeitig entsteht hier in Deutschland eine Burnout-Republik. Ich schreibe gerade einen Artikel über die Zunahme psychischer Erkrankungen wie Burnout, Depression und Neurosen, die innerhalb der Lohnabhängigen jährlich um zehn Prozent steigen. Das nimmt aufgrund dieses Drucks unglaublich zu. Wenn man es nüchtern betrachtet, ist es eigentlich ein progressiver Prozeß jenseits der kapitalistischen Ideologie. Dieser Menschheitstraum, daß man die Mühsal der Arbeit überwinden kann, ist zum Greifen nahe, aber gleichzeitig verwandelt sich das Leben innerhalb des kapitalistischen Systems für die Menschen zur Hölle, für den Arbeitslosen wie auch für den Arbeitenden.

SB: Die von dir in einem längeren Artikel [2] beschriebene Veränderung der IT-gestützten Arbeitsorganisation etabliert über die bisherige betriebswirtschaftliche Effizienzsteigerung, die du mit Web 1.0 bezeichnet, hinaus eine Art von Netzwerk-, Crowd-Sourcing- und Cloudstruktur-basierte Neuorganisation von Arbeit - Web 2.0. Könntest du diesen Qualitätssprung genauer erläutern?

TK: Den Qualitätssprung sehe ich in Ansätzen schon gegeben. Die Betriebsstrukturen, die beinhalten, daß man tatsächlich in einem Betrieb zur Arbeit geht und dort seinen Arbeitsplatz hat, daß man in eine bestimmte Hierarchie oder gruppenartige Kooperation eingebunden ist und in Räumlichkeiten arbeitet, die von dieser Firma zur Verfügung gestellt werden, sind in Auflösung begriffen. Die Arbeitsplätze werden nach Hause verlegt. Es findet praktisch eine totale Individualisierung des Arbeitsprozesses statt. Man muß über Web-basierte Plattformen von seinem Haus aus in eigener Verantwortung um Arbeit konkurrieren und die dazu erforderlichen Fähigkeiten selbst entwickeln. Es wird tatsächlich sehr vieles outgesourct, aber die Betriebe outsourcen sich selbst, könnte man auch sagen. Die Struktur wird aufgelöst. Es bleibt eine ganz kleine Kernbelegschaft übrig. Der Rest des Personals wird dann über Web-basierte Plattformen aus einem Heer von Heimarbeitern rekrutiert, die immer projektbezogen angestellt werden. Dieser Prekarisierungsschub folgt in Reaktion auf die Krise der Arbeitsgesellschaft.

SB: Mit den Konzepten der Ich-AG, der Selbstoptimierung und des lebenslangen Lernens werden bereits wesentliche Kostenfaktoren auf die Erwerbsabhängigen umgelastet. Handelt es sich bei der Jobkultur, bei der sich die Leute über Internetplattformen anbieten müssen, dennoch um eine neue Stufe der Lohnabhängigkeit?

TK: Ja. Tatsächlich wird diese neoliberale Parole, daß jeder Unternehmer seiner selbst ist, jetzt buchstäblich rationalisiert. Jeder wird zum Unternehmer seiner eigenen Arbeitskraft und muß sich über Web-basierte Plattformen für Lohnarbeit mit seinen Fähigkeiten feilbieten oder für bestimmte Projekte bewerben. Das ist die totale Konsequenz dieser neoliberalen Ideologie der Eigenverantwortung. Man ist für alles selbst verantwortlich. Inzwischen ist es tatsächlich so, daß die Informatiker sich selbst fortzubilden haben. IBM bietet viele Kurse an, wo man bestimmte Fähigkeiten zertifiziert bekommt, und erst dann kann man sich um die Teilnahme an bestimmten Projekten bewerben. Das hat es tatsächlich in Ansätzen schon gegeben. Was in diesen Nischen anfängt, wird dann so weit es geht auf den Arbeitsmarkt ausstrahlen. Da steckt ein ungeheures Anspruchspotential drin. Die Unternehmen sparen die Ausbildungs- und Fortbildungskosten sowie die Miete für Büros und so weiter. Das wird alles vom Lohnabhängigen getragen, der dann zum Web-basierten Unternehmer seiner selbst zugerichtet wird.

SB: Du hattest in deinem Artikel ein spektakuläres Beispiel angeführt, bei dem die Leute in Projektgruppen gegeneinander antreten, aber am Ende nur derjenige entlohnt wird, der das beste Ergebnis aufweist. Kommt es tatsächlich vor, daß die Leute kein Geld für ihre Mühen, die sie in bestimmte Arbeit investieren, bekommen?

TK: Das ist eine der Möglichkeiten, wie man sich beim Internetportal Top-Coder bewirbt, und wird offener Call genannt. Offener Call bedeutet, daß jeder Vorschläge einbringen kann. Das wird nicht immer so praktiziert, und ich bin nicht sicher, ob sich das als die häufigste Art der prekären Beschäftigung durchsetzen wird. Dieser offene Call wird zumindest schon bei IBM intern wie auch extern praktiziert. Das Unternehmen beschreibt eine bestimmte Problemstellung, und jeder kann eine Lösung einbringen. Der erste, vielleicht noch der zweite wird entlohnt, der Rest nicht mehr. Ich kann nicht abschätzen, inwiefern sich das durchsetzen wird, aber es gibt natürlich auch geschlossene Calls, die an bestimmte Gruppen gerichtet werden. So kann IBM intern eine Offerte an sein fest angestelltes Personal richten. Das wird auch schon probiert. Dann erklären sich ein paar tausend Leute innerhalb von IBM dazu bereit. Das sind geschlossene Calls, und die werden dann schon von IBM entlohnt.

SB: Dieses Organisationsmodell firmiert bei IBM unter dem Namen "Liquid". Welche Rolle spielen die Sozialwissenschaften in dieser Entwicklung? Ist dir bekannt, daß solche Projekte dort in einem affirmativen Sinne vorangetrieben werden?

TK: Ich habe in meinem Text tatsächlich eine Universitätsstudie erwähnt, die Methoden der Qualitätsüberprüfung bei solchen Formen der prekären Beschäftigung erarbeitet hat. Selbstverständlich ist das ideologisch motiviert und kann auch einen politischen Überbau haben. Das äußert sich zum Beispiel auch daran, daß die Idee mit den Liquid-Konzepten von der Piratenpartei übernommen wird. Das ist den Leuten nicht einmal klar. Bedeutsam werden dann Schlagworte wie "offen" und "Transparenz". Die Piraten wollen alles transparent machen. Gemeint ist die Transparenz der Lohnabhängigen, die auch innerhalb dieses Liquid-Konzepts von IBM und in den prekären Web-basierten Beschäftigungsverhältnissen notwendig ist. Man muß als Lohnabhängiger transparent für das Kapital sein, damit dieses auf dem Job-Portal auf einen Blick erkennen kann, welche Fähigkeiten ein Bewerber mitbringt und an welchen Problemen er schon einmal gearbeitet hat. Die Transparenz ist ein zweischneidiges Schwert, was den Piraten gar nicht klar ist. In bester Absicht propagieren sie Transparenz als Mittel gegen Korruption. Transparenz kann sich aber auch gegen die Lohnabhängigen richten, und das wird sie auch.

SB: Hältst du die in einem Aufklärungsfilm von ver.di [3] über diese Entwicklung eröffnete Aussicht darauf, daß man diese Arbeitsbedingungen, die eine klare Bevorteilung der Kapitalseite beinhalten, gewerkschaftlich beeinflussen und wieder zu Gunsten der Arbeitnehmer umdrehen könnte, für eine realistische Perspektive?

TK: Ich glaube nicht. Wenn Gewerkschaften gut sind, dann versuchen sie zumindest, diese Verhältnisse zu verbessern. Wenn Gewerkschaften schlecht sind und nur agieren, um die Lohnabhängigen dazu zu bringen, diese Arbeitsverhältnisse hinzunehmen, entsteht ein Problem. Gewerkschaftliche Politik ist an und für sich sehr beschränkt. Sie kann höchstens versuchen, ein Pflaster daraufzukleben, um es einmal plakativ zu sagen.

Das System wird sich nicht stabilisieren können. Diese Liquid-Konzepte und die damit einhergehende Prekarisierung sind nur eine vorübergehende Erscheinung und eben Ausdruck der Krisendynamik. Was sollte es bringen, wenn man eine massenhafte Prekarisierung durchführt? Dann wird es einen erheblichen Einbruch der Nachfrage geben mit der Folge schwerwiegender Absatzkrisen. Das ist praktisch ein vorübergehendes Krisenphänomen und bildet einfach nur ein Stadium der voranschreitenden Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft. Ich habe versucht, das mit dem Entstehungsprozeß des Kapitalismus als dialektische Negation der Negation darzustellen. Die Heimarbeit stand am Anfang mit dem ganzen Verlegersystem und sie steht auch am Ende. Das ist die Negation der Negation. Gewerkschaftspolitiker können höchstens versuchen, die Bedingungen eine Zeitlang erträglich zu machen oder zu mildern, vielleicht ein paar gesetzgeberische Schranken einzubringen, aber mehr nicht.

SB: Die Kampfkraft der Arbeiter wird durch eine solche Vereinzelung, auch wenn sich das möglicherweise nicht auf die industrielle Güterproduktion ausweiten läßt, insgesamt geschwächt. Die Crowd stellt ja in gewisser Weise eine Vereinzelungsstrategie dar, aus der heraus sich keine Streikfront mehr bilden läßt.

TK: Selbstverständlich stellt das eine Vereinzelung und Paralyse der immer weiter abschmelzenden Arbeiterschaft dar. Sie schreitet seit langem voran. Ich würde aber schon aufpassen, sich nur auf die Arbeiterschaft als revolutionäres Subjekt zu fokussieren. Ich sehe die Arbeiterschaft aufgrund dieser Krise der Arbeitsgesellschaft eher in Auflösung begriffen. Wenn man es rein quantitativ betrachtet, machte das Proletariat früher fast 50 Prozent der Bevölkerung aus. Jetzt sind es vielleicht noch 17 oder 15 Prozent. Daher würde ich lieber von den Lohnabhängigen sprechen, egal, ob sie arbeitslos sind oder sich noch in Lohnarbeit befinden. Der gemeinsame Nenner aller Menschen ist ihre Abhängigkeit von Lohn.

SB: Du hast den Begriff des Humankapitalismus verwendet, weil immer mehr auf den Menschen selbst zugegriffen wird, um seine letzten Produktivitätsreserven verfügbar zu machen. Was müßte eine Partei wie Die Linke, deren Interventionsmöglichkeiten durch diese neuen Arbeitsformen effektiv in Frage gestellt sind, deiner Ansicht nach unternehmen, um da aufzuschließen?

TK: Die Linke ist ein amöbenhaftes Gebilde, das sich schwer als Subjekt fassen läßt. Ihre vielen Gruppierungen und Fraktionen sind mit unterschiedlichsten Zielsetzungen verknüpft. Viele von ihnen denken zudem nur an eine Karriereplanung. Aber ich schätze, selbst eine so klassisch organisierte Partei könnte vielleicht noch ein paar Impulse setzen, wenn sie tatsächlich bereit wäre, über den Kapitalismus hinaus zu denken, und sich mental damit befassen würde, daß dieses System vielleicht doch an einer Systemkrise oder an einer inneren Schranke seiner Entwicklungsfähigkeit, wie es der Krisentheoretiker Robert Kurz formuliert hat, zu Grunde geht, weil die Substanz des Kapitals, die Lohnarbeit, innerhalb des Produktionsprozesses immer weiter abschmilzt. Solange die Linkspartei nicht bereit ist, wirklich radikal nach den Ursachen der Krise zu suchen und bestenfalls weiterhin ein Banker-Bashing betreibt, sehe ich kaum Möglichkeiten für sie, vernünftig einzugreifen. Sie könnte natürlich Impulse für eine Transformation hin zu einer postkapitalistischen Gesellschaft des Kapitalismus setzen. Das könnte eine Partei, in der sich das Bewußtsein der finalen Systemkrise durchgesetzt hat, vielleicht noch leisten. Aber im Moment sehe ich keine Fraktion oder Gruppierung in der Linkspartei, die dazu bereit ist.

SB: Du bist auch mit den sozialen und politischen Verhältnissen in Osteuropa vertraut. In welchem Ausmaß wurden Hartz IV und andere Modelle der innovativen Arbeitsverwaltung nach Osteuropa exportiert?

TK: Es verhält sich genau umgekehrt. Die Modelle der Arbeitsverwaltung wurden von Osteuropa in den Westen transportiert. Osteuropa war das größte Exerzierfeld gewesen. Vieles von dem, was in Osteuropa umgesetzt wurde, ist dann im Westen eingeführt worden. Prekäre Arbeitsverhältnisse oder das Fehlen jedweder Form von Absicherung bei Arbeitslosigkeit sind in Polen seit der Systemtransformation Norm. Auch die jetzige Forderung nach Sonderwirtschaftszonen für Griechenland, wie sie vom BDI erhoben wird, ist in Polen vorexerziert worden. Polen ist eine genuine Sonderwirtschaftszone. Dort zahlen die deutschen Konzerne immer noch keinerlei Steuern. Es ist also eher umgekehrt. Osteuropa war das größte Exerzierfeld. Vieles von dem, was Deutschland dann in die Massenverelendung getrieben hat, ist in Osteuropa erst durchgesetzt worden.

SB: Was hat sich in Polen nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus an den Lebensverhältnissen und den Systemen der sozialen Sicherung geändert?

TK: Das ist eine komplexe Frage. Zunächst muß man wissen, daß der Sozialismus in Polen sowohl geschichtlich als auch kulturell einen sehr schweren Stand hatte, weil es ein konservatives und katholisch geprägtes Land ist. Darüber hinaus war die Krise in Polen schon in den 80er Jahren exorbitant. Die soziale Situation damals war gekennzeichnet durch große Versorgungsprobleme für breite Bevölkerungsschichten. Aber selbst nach dem Zusammenbruch des Staatskapitalismus in Osteuropa - andere nennen es Staatssozialismus - waren noch Pauperisierungsschübe möglich. So setzte in den 90er Jahren in Polen eine Massenarmut mit einer Arbeitslosigkeit bis zu 20 Prozent ein. Nach dem Eurobeitritt ist es etwas besser geworden.

Tatsächlich hat Polen davon profitiert, daß weit über eine Million Polen bei einer Gesamtbevölkerung von 40 Millionen das Land verlassen haben. Nach Schätzungen sollen bis zu zwei Millionen Polen nach Westeuropa, England, Spanien und in die Niederlande in der Immobilienblasenzeit ausgewandert sein. Das Millionenheer an Emigranten bringt dem Land aufgrund der Devisen immer noch große Vorteile. Inzwischen hat sich in Polen eine kleine Mittelschicht herausgebildet, infolgedessen es aber auch zu einer gesellschaftlichen Spaltung kam. Es gibt eine breite Unterschicht, die von dem Boom ausgeschlossen ist. Die kleine Mittelschicht hingegen wächst weiter an. Selbst im Vergleich mit anderen osteuropäischen Ländern ist Polen sozial noch stärker gespalten als zum Beispiel Tschechien oder die Slowakei.

SB: Ungarn ist ein Sonderfall in der Rechtsentwicklung. Dort gibt es eine starke Verfolgung von Minderheiten und es werden Modelle des Arbeitszwangs gesellschaftlich verankert, die in Richtung einer Lagerhaltung gehen. Findet in Ungarn eine Entwicklung statt, die auch für andere Länder Osteuropas Modellcharakter haben könnte?

TK: Ja. Mit zunehmender Krisenintensität sind nicht nur in Osteuropa, sondern in allen europäischen Ländern, auch in Deutschland faschistische Tendenzen unverkennbar. Das ist erschreckend. Ich würde schon sagen, daß das Modellcharakter haben kann, wobei diese extreme Ausbildung in Ungarn historisch tiefreichende Wurzeln besitzt. In Ungarn war schon immer eine starke völkische Bewegung ausgeprägt. In der Zwischenkriegszeit konnte die Rechte sehr schnell an diesen Antisemitismus und Antizionismus, an diese dominierende ideologische Klammer der extremen Rechten, anknüpfen. Mit dem Vorgehen gegen die Roma kann man in Ungarn tatsächlich Massen mobilisieren.

SB: Du bist freier Journalist und schreibst fundierte gesellschaftskritische Texte. Hast du den Eindruck, daß das Interesse an dieser Art von Beiträgen zunimmt?

TK: Man muß die Texte dem Publikum anpassen, denn das Interesse an der Eurokrise nimmt, das muß ich schon sagen, selbst bei Telepolis ab. Die Leute werden krisenmüde und wollen das nicht mehr hören. Solange es sie noch nicht direkt und hart trifft, sind typische massenmediale Ermüdungstendenzen erkennbar. Das wird sich sicher beim nächsten Krisenschub, wenn es hier einen Einbruch gibt, schon aus Überlebensdrang oder Existenzängsten wieder ändern. Aber für linke oder alternative Interpretationen des Krisengeschehens und auch des Kapitalismus gibt es sicherlich ein breites Interesse, auf jeden Fall mehr als vor einigen Jahren.

SB: Du betreibst deine Arbeit mit politischem Engagement, mußt aber auch davon leben?

TK: Ich versuche davon zu leben, aber es ist schwer. Dennoch habe ich das Glück, schreiben zu können, was mich auch interessiert und was ich für wichtig halte und wofür es sich auch zu kämpfen lohnt, nämlich für eine Alternative zu dieser drohenden Barbarei.

SB: Reicht linker Journalismus für den Lebenserwerb aus?

TK: Es ist hart an der Grenze. Man muß verstehen, daß linke Blätter nicht so hohe Honorare zahlen können. Sie zahlen ungefähr ein Drittel dessen, was Bürgerblätter zahlen. Und so reicht es kaum zum Leben. Bei einem bürgerlichen Blatt resultieren zwei Drittel der Einnahmen aus Werbung, die zumeist Unternehmen schalten. Dafür gibt es sogar einen spezifischen Begriff - das werbefreundliche Umfeld. Es sorgt dafür, daß Unternehmen gerne Werbung in Auftrag geben. Das schließt übermäßige Kritik an ihnen und vor allem an dem Gesellschaftssystem, das die Unternehmen überhaupt konstituiert, selbstredend aus. Dieses Geschäftsprinzip der bürgerlichen Presse, die hauptsächlich von Werbung lebt, sorgt besser als jegliche Zensur dafür, daß in ihren Zeitungen mehr oder minder dasselbe steht und sie die Krise nicht erklären können. Deswegen verfällt man auch auf Griechen-Bashing und Bankerschelte der primitivsten Art.

SB: Tomasz, vielen Dankt für das Gespräch.


Fußnoten:
[1] http://www.kapitalismus-in-der-krise.de/

[2] http://www.heise.de/tp/artikel/37/37431/1.html

[3] http://www.verdi.de/themen/arbeit/++co++fd9e2f52-82fe-11e1-5004-0019b9e321e1

FaceBook's Prineville Data Centre, 7 April 2011 - Foto: By Tom Raftery (Flickr) [CC-BY-SA-2.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0)], via Wikimedia Commons

Kein Mensch in der Maschine, die soziale Netze wirft
Foto: By Tom Raftery (Flickr) [CC-BY-SA-2.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0)], via Wikimedia Commons

30. Oktober 2012