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INTERVIEW/154: Kapitalismus final - Systemblüten (SB)


Wolfram Elsner über Mythen und Gefahren der neoliberalen Marktwirtschaft

Interview am 21. November 2012 in Hamburg-Altona



Der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Wolfram Elsner vom Institut für Institutionelle Ökonomik und Innovationsökonomik (iino) an der Universität Bremen referierte im Rahmen der Hamburger Veranstaltungsreihe "Kapitalismus in der Krise" über "Krisenstrategien des Kapitals" [1]. Anschließend beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen, die zum Teil direkt an den aufschlußreichen Vortrag anknüpften.

Im Interview - Foto: © 2012 by Schattenblick

Wolfram Elsner
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: In der öffentlichen Debatte wird das Thema Kapitalismus im Grunde auf den Begriff des Marktes oder der Märkte reduziert, die gewissermaßen als personifizierte Akteure auftreten und ein politisches Subjekt zu sein scheinen. Wie sehen Sie als Ökonom diese Art von verkürzter Debatte?

Wolfram Elsner: Der Markt ist natürlich ein Mythos und wird tatsächlich personalisiert. Im Grunde steht er für alles und nichts. Der Markt als solcher ist nicht mehr als irgendein spontanes dezentrales System, wo Leute individuelle Entscheidungen treffen und Preise angeblich irgendeine Rolle spielen. Mehr kann man über Märkte nicht sagen. Ob Märkte funktionierende Systeme oder der größte Alptraum der Menschheit sind, hängt davon ab, wie Märkte reguliert und in Institutionen und gesellschaftliche Regeln eingebunden bzw. eingebettet werden. Erst dann bestimmt sich, ob ein Markt etwas Gutes oder etwas Schlechtes ist. Man stelle sich zum Beispiel einen Markt für Morde vor. Die Frage lautet: Was kostest ein Mord? Jemand sagt mir, da kommt einer aus Moskau, der macht es für 2000 Euro. Darauf erwidere ich, nein, ich rufe lieber in Sizilien an und erkundige mich dort nach dem Preis. Ich erfahre, daß ein Mord bereits für 700 Euro zu haben ist.

Dieses Beispiel erzähle ich gern meinen Studenten und frage sie: Ist das ein Markt? Sie antworten: Nein, das ist natürlich kein Markt. Warum nicht? frage ich nach. Es ist ein dezentrales System, in dem Leute Entscheidungen treffen. Jemand fragt nach einer Leistung, ein anderer bietet sie an und irgendein Preis spielt dabei eine Rolle. Natürlich ist es ein Markt, aber aufgrund moralischer Überzeugungen wollen wir nicht, daß es ein Markt ist. Doch die Moral wirkt auf die Gesellschaft oder auf die Institutionen, mit denen wir Märkte regulieren. Die Moral sagt, einen Markt für Morde soll es nicht geben. Einen Markt für Spekulationen oder für Land Grabbing, bei dem den Menschen in Afrika Land geraubt wird, gibt es dennoch.

Märkte sind alles und nichts. Ich habe fast 50 Jahre lang als Ökonom herauszukriegen versucht, was ein Markt ist. Ich weiß es bis heute nicht. Ich weiß nur, daß ein Markt in ein Institutionensystem eingebettet wird. Nur wenn er strikt nach guten gesellschaftlichen Vorgaben reguliert wird, wird die Motivationsstruktur für die Individuen, die darin handeln, so vernünftig sein, daß sie zum Beispiel Zukunft mit in Betracht ziehen und wissen, daß es andere gibt, auf die sie Rücksicht zu nehmen haben. Dann können Märkte ansatzweise, in Grenzen, etwas Vernünftiges sein und den Menschen nützen, andernfalls nicht.

SB: Was bedeutet das für eine Politik, die den Willen aller Bürger zu repräsentieren beansprucht, wenn sie sich auf ein Numinosum wie die Märkte beruft, die als treibender und primärer Faktor politischer Entscheidungen auftreten?

WE: In verschiedener Hinsicht steht das Bündnis der Politiker dahinter, die von diesen Märkten und den darin Mächtigen ja nicht ganz unabhängig sind, wo natürlich auch Zahlungen erfolgen, um es einmal vorsichtig zu sagen, damit sie für deren Interessen eintreten. Das heißt, wenn das Vertrauen der Märkte hergestellt werden soll, wird klar, was diese Märkte sind. Nämlich, wie eine neue Studie herausbekommen hat, die 43.000 internationale Unternehmen untersucht hatte, ein paar hundert Top-Entscheider. Letztlich ist es ein gestuftes System von Netzwerken, in dem etwa 40 Finanzkonglomerate die gesamte Endkontrolle ausüben. In personam sind das einige wenige hundert Leute, die sich auch weitgehend kennen und die Weltwirtschaft heute beherrschen. Das ist aus den Märkten geworden. Genaugenommen sind Märkte Machtsysteme, und je mehr wir sie deregulieren und gesellschaftlich entbetten, umso mehr werden sie zu Machtsystemen, die schneller degenerieren, als wir gucken können.

SB: In der Verabsolutierung des Marktes geht in der Regel unter, daß der Kapitalismus in allererster Linie auf der Eigentumsordnung beruht. Sobald andere Faktoren die Gültigkeit des Marktprimats relativieren, werden sie mit Begriffen wie Marktversagen rationalisiert. Wie schafft es der Neoliberalismus, den eminenten Zwangscharakter gesellschaftlicher Bedingungen, die diesen Märkten zugrunde liegen, völlig aus der Rechnung zu streichen?

WE: Das Stichwort sind die Eigentumsrechte, die eine Konstellation herstellen, in der derjenige, der über Eigentum verfügt, auch viel Macht hat und keine Rücksicht mehr auf die anderen, die Gesellschaft und überhaupt auf jede Art von Gemeinschaftlichkeit oder Kollektivität nehmen muß. Und je mächtiger sie sind, desto weniger müssen sie Rücksicht auf die Zukunft nehmen. Im sogenannten High Frequenzy Trade werden über Computer in der Spekulationsindustrie Milliarden im Sekundenrhythmus verschoben und Millionengewinne im Sekundenrhythmus über die Computer eingestrichen. Das heißt, man muß auch das Eigentum so beschränken und regulieren, daß es gezwungen wird, Rücksicht auf die Gesamtgesellschaft zu nehmen. Eigentum verpflichtet - diese Platitüde stammt aus unserem Grundgesetz.

In der modernen Medien- und IT-Branche sind in den letzten fünfzehn Jahren sogenannte intellektuelle Eigentumsrechte als Schutzrechte für angebliche Erfinder hochgezogen worden, die alle auf den Schultern von Giganten stehen. Wissensproduktion ist ein gesellschaftlicher Prozeß, der dann über die Copyright- und Patentgesetze der neoliberalen Regierung individualisiert wird. Dadurch kriegen Leute eine Macht, die sie gar nicht verdient haben, weil ihr Wissen in vielerlei Hinsicht kollektives Wissen war, an dem ganz viele Leute beteiligt waren. Die Konzerne haben halt das Geld gehabt, das Patent darauf anzumelden. Sie rauben genetische Informationen im brasilianischen Urwald, gehen nach Hause in die USA und lassen sie sich patentieren. Damit besitzen sie Macht über ein Wissen, das der Menschheit gehört. Das ist alles völlig pervers.

SB: Der unter dem Begriff Chimerica bekannte Defizitkreislauf zwischen den USA und China basiert darauf, daß etwa das iPhone mit chinesischer Arbeit hergestellt wird und in den USA mit Geld gekauft wird, für das wiederum China durch den Aufkauf US-amerikanischer Anleihen einsteht. Was findet da eigentlich real statt? Es sieht ja so aus, als ob die US-Bürger auf Kosten chinesischer Arbeiter lebten?

WE: Natürlich haben die US-Bürger weitgehend auf Pump gelebt und auf Kosten all derer, die produziert haben. Was die Chinesen sinnvollerweise machen können und klugerweise auch tun, ist, langfristig zu denken. Sie sagen sich, wir leihen den Amerikanern jetzt sogar noch das Geld dafür, daß sie uns die Produktion herüberschicken, weil sie gewisse Patente haben. Wir übernehmen dann die Hightech-Produktion. Das langfristige Denken der Chinesen führt dann dazu, daß sie, ganz so wie es früher die Dependency-Ökonomen für Lateinamerika vorgedacht hatten, auf den Entwicklungseffekt setzen, den es bei ihnen hat. Ostasiatische Philosophie ist Philosophie des Lernens von anderen, was die Chinesen seit Jahrzehnten sehr geschickt machen. Sie lernen davon und machen es eines Tages besser. Sie müssen heute keine T-Shirts mehr produzieren. Textil, Lowtech, das stoßen sie ab. Sie machen ihre eigenen Marken und organisieren die Produktion auch besser, weil sie nicht nur marktwirtschaftlich vorgehen, sondern in einem gemischten System agieren.

Dieser Spill-Over-Effekt geht darauf zurück, daß die Amerikaner unfähig und zum Teil auch zu dumm waren, die Vorteile in ihrer Hand zu behalten. Die neoliberalen Staaten sind hinsichtlich langfristiger Organisation kaum noch handlungsfähig. Auch der amerikanische Staat steuert praktisch nichts mehr. So geht die wertvolle Produktion nach China. Die Chinesen lernen davon, organisieren es besser und werden demnächst die Produktionsstätte der Welt sein, ja, sie sind es heute schon. Und die Amerikaner haben kein Instrument mehr, um noch irgendeine gleichberechtigte Kooperation herzustellen, weil sie aufgrund ihres neoliberalen Dogmas alles weggegeben haben.

SB: Könnten Sie sich vorstellen, daß der auf die Adaption des Kapitalismus setzende Entwicklungsweg Chinas trotz der ausbrechenden Klassenkonflikte mit Arbeiteraufständen und zivilgesellschaftlichen Protesten aller Art tatsächlich Resultate bringt, die der gesamten Bevölkerung zugute kommen?

WE: Ich glaube daran, weil ich einige kluge Anzeichen dafür sehe. Die Chinesen nutzen jetzt die Spielräume, die sie sich in den letzten Jahrzehnten erarbeitet haben, um eine ganz schnell aufholende Entwicklung zu vollziehen, in dem Sinne, daß die Masseneinkommen, der Massenkonsum und auch der allgemeine Lebensstandard deutlich erhöht werden. Den Hunger haben sie besiegt, und sie sind dabei, die Massenarmut drastisch von vielen Millionen auf wenige Millionen zu reduzieren. Demnächst wird es keine direkte Armut mehr geben. Sie haben in den letzten Jahren Lohnerhöhungen von durchschnittlich 20 bis 25 Prozent vorgenommen. Ferner haben die Regionalregierungen als auch die Zentralregierung in China die Arbeiterstreiks und Tarifkämpfe gegen die internationalen Konzerne unterstützt, statt sie wie in der Vergangenheit zu bekämpfen. Das bedeutet, sie haben beschlossen und wissen, daß es klug ist, den Weg zu einer hochentwickelten Industrienation zu gehen, ob kapitalistisch, wie auch immer gemischt oder noch grundlegend sozialistisch will ich jetzt an dieser Stelle gar nicht beurteilen.

SB: Was unterscheidet fiktives von realwirtschaftlichem Kapital?

WE: Das herkömmliche konstante Kapital geht den Weg über die Warenproduktion. Also Geld, Ware, mehr Geld (G-W-G'). Das fiktive Kapital hat einen anderen Mechanismus. Das Geld kommt aus den konventionellen Banken und geht den Weg über den Zins. Laut Marx heißt das, Geld wird direkt zu mehr Geld (G-G'). Es muß sich dann aber, weil es zuviel fiktives Kapital gibt, irgendwann in reale Werte übersetzen, so daß wir eine andere Schrittfolge haben. Also Geld, mehr Geld, das sich dann in Ware, Ressourcen oder Land umsetzt.

Dieser Teilmechanismus G-G' braucht einen anderen Mechanismus, der nicht mehr über die Produktion, sondern im Prinzip über die Zinseinnahme geht. Das kann der Verkauf von Derivaten oder die klassische Kreditvergabe sein. Es kann alles mögliche sein, daß man mit der Zentralbank zusammenarbeitet und sich seine Bilanz fluten läßt, daß man Zinssubventionen von der Zentralbank bekommt oder daß man ganz schnell Weizen aufkauft und wieder verkauft, also Warentermingeschäfte betreibt. Das sind Mechanismen, die darauf basieren, daß die realen Ressourcen der Welt endlich sind, das Geld aber weiter explodiert und alle Dimensionen, auch der Realressourcen der Welt, überschreitet. Letztendlich basiert alles auf dem Prinzip der Blase.

Das heißt, die Blase, die bei der Tulpenkrise in Amsterdam in den 1630er Jahren noch ein urtümliches Ding war und seitdem hundertemale aufgetaucht ist, wird jetzt von den großen Akteuren - das sind die ungefähr vierzig großen Finanzeinheiten weltweit - systematisch mit Derivaten, den berühmten Finanzinvestitionen, aufgepumpt. Weil diese Akteure natürlich einen Schritt weiter denken, strukturieren sie, während sie noch Leute unter den immer noch vielen Reichen finden, die kaufen und investieren müssen, ihr eigenes Portfolio in Richtung mehr Sicherheit um. Kurz bevor die Blase wieder einmal implodiert, überführen sie die nominalen Werte bzw. das fiktive Kapital rechtzeitig wieder in reale Werte. Dann kaufen sie alles mögliche auf wie zum Beispiel Weizen - die Wallstreet hat angeblich zwei weltweite Jahresernten Weizen in Lagern liegen - oder bauen Ressourcen-Fonds auf. Die Deutsche Bank hat mindestens 25 Ressourcen-Fonds laufen, sie kauft Land usw.

SB: Sie haben in Ihrem Vortrag für den Fall, daß sich das nach Anlage suchende Kapital nicht mehr in der konventionellen Form verwerten läßt, die Möglichkeit genannt, daß man in absehbarer Zukunft vielleicht sogar die Luft kommodifizieren könnte. Was gäbe es sonst noch für Überlegungen im Sinne der von Ihnen ausgeführten Krisenstrategien, Kapital zu verwerten? Inwiefern läßt sich Mangel als grundlegender Faktor jeglicher Ökonomie oder Verbrauch wie etwa im Beispiel des Emissionshandels in positive Geldwerte übertragen?

WE: Das findet täglich statt. So hat die Regierung mit dieser Nebelwand von Emissionshandel praktisch die Umwelt verkauft. Der Handel damit wurde unter der Behauptung, die Konzerne würden auf diese Weise die Ressourcen effizienter verbrauchen, freigestellt. Letztlich hängt jedoch alles davon ab, wieviele Zertifikate herausgeben werden. So wurde die Industrie erst einmal üppig subventioniert nach dem Motto: Hier habt ihr soundsoviel Zertifikate, ihr könnt Millionen von Tonnen in die Luft blasen. Jetzt handelt schön damit. Natürlich sind die Zertifikate Spekulationsobjekte geworden wie alles andere auch, und natürlich wird mit dem Bankrott ganzer Gesellschaften gehandelt und auch damit, daß die Menschen in bestimmten Regionen, Ländern, Kontinenten in Zukunft hungern werden. Deswegen reißen sie sich ja den Weizen unter den Nagel, weil sie ihn künftig teurer verkaufen können. Oder sie wetten darauf, daß der griechische Staat kaputtgeht, und wenn er kaputtgeht, dann haben sie Versicherungspolicen, die berühmten Credit Default Swaps (CDS), die ihnen Geld einbringen. Das heißt, daß sich Versicherungen gefunden haben, die dann zahlen, wenn der griechische Staat kaputtgeht. Es kann auf alles und jedes spekuliert werden. Da gibt es keine Grenzen.

Letztendlich kann man auf die abstraktesten Dinge wetten, wenn sich einer findet, der dagegen wettet. Und vielleicht werden wir eines Tages auch die Luft kommodifizieren, wenn sie denn die technischen Möglichkeiten haben, uns die Luft vorzuenthalten. Sobald sie eine Möglichkeit dazu finden, werden sie es auch tun. Beim Wasser haben sie es mehr oder weniger komplett geschafft. Das gilt übrigens auch für die öffentlichen Grunddienstleistungen der Kommunen. Bertelsmann hat in England die Verwaltung mehrerer Kommunen übernommen. Eines Tages werden sie den Staat übernehmen und das Parlament nach Hause schicken. Hier, ihr Gewählten, wir geben euch soundsoviel Geld dafür, daß wir den Reichstag übernehmen. Alles mögliche ist denkbar. Der Kapitalismus ist hemmungslos, kennt keine Grenzen mehr und wird die Menschheit mit in den Abgrund reißen, wenn wir nichts dagegen tun.

SB: Den Menschen essentielle Lebensmittel vorzuenthalten oder ähnliches wäre letztlich nur mit Gewalt zu erreichen?

WE: Das alles habe ich ja auch im Vortrag aufgezeigt. Die künftigen Entwicklungen sind mit demokratischen Mitteln nicht mehr darstellbar, weil sie die Möglichkeiten der Umverteilung des Staatshaushalts oder des gesamten Sozialprodukts und eben auch die Grenzen der Ressourcen der Erde übersteigen. Das ist so unglaublich explodiert, daß es mit der Demokratie nicht mehr kompatibel ist. Der neoliberale Staat wird zum Gegenteil dessen, was er behauptete zu sein oder was er am Anfang sein wollte. Er wird zum autoritären bürokratischen Polizeistaat, zum Herrschaftsinstrument ganz brutaler Art.

SB: Herr Elsner, vielen Dank für das Gespräch.

Fußnoten:
[1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0136.html


27. Dezember 2012