Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REPORT

INTERVIEW/171: Quo vadis NATO? - Hegemonialschaft USA - Nikolay V. Korchunov im Gespräch (SB)


"Der neue Anti-Raketen-Schirm der NATO in Europa - Sicherheitspolitische Kalküle und das Recht",
Forum I auf dem Kongreß "Quo vadis NATO?" am 28. April 2013 in Bremen

Interview mit dem Forumsreferenten Nikolay V. Korchunov, dem Stellvertretenden Ständigen Repräsentanten Rußlands bei der NATO in Brüssel


Nikolay V. Korchunov im Porträt - Foto: © 2013 by Schattenblick

Nikolay V. Korchunov auf dem Bremer Kongreß "Quo vadis NATO?"
Foto: © 2013 by Schattenblick

Von der bundesdeutschen Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet hat die NATO damit begonnen, ihr als ausschließlich defensiv nutzbar ausgewiesenes System des sogenannten "Raketenabwehrschirms" umzusetzen. Da dessen tatsächliche Qualitäten und Nutzungsoptionen, aber auch die mit seiner Stationierung verfolgten Absichten höchst umstritten sind und der öffentlich-kontroversen Diskussion noch immer harren, lag es für den Initiatoren- und Veranstalterkreis des maßgeblich von der IALANA Deutschland veranstalteten Kongresses "Quo vadis, NATO? - Herausforderungen für Demokratie und Recht" mehr als nahe, diese Thematik aufzugreifen und ihr einen eigenen inhaltlichen Tagungsschwerpunkt zu widmen.

In dem Forum mit dem Titel "Der neue Anti-Raketen-Schirm der NATO in Europa - Sicherheitspolitische Kalküle und das Recht" wurde, moderiert von Prof. Dr. Götz Neuneck, dem stellvertretenden Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), und dem seit mehreren Jahrzehnten in der Friedensbewegung engagierten Richter im Ruhestand, Bernd Hahnfeld, ebenso fachkompetent wie friedenspolitisch positioniert die nicht zuletzt rechtliche Fragwürdigkeit des sogenannten Raketenabwehrschirms thematisiert. In der Diskussionsrunde, an der neben Jürgen Rose, Oberstleutnant der Bundeswehr a.D., und Paul Schäfer, dem verteidigungspolitischen Sprecher der Bundestagsfraktion der Linken, auch Nikolay V. Korchunov, der Stellvertretende Ständige Repräsentant Rußlands bei der NATO in Brüssel, teilnahm, wurde umfassend über die völker- wie verfassungsrechtlichen Aspekte und rechtlichen Bedenken gegen den Raketenschirm informiert.

In der Diskussion stellte sich schnell heraus, als wie problematisch, weil die Sicherheitsinteressen anderer Staaten mißachtend, dieses NATO-Projekt zu bewerten ist. Dies scheint in erster Linie die Russische Föderation zu betreffen, deren Anliegen, die NATO möge ihr in einer rechtsverbindlichen Erklärung zusagen, daß der Raketenabwehrschirm niemals gegen Rußland eingesetzt werde, von dem westlichen Bündnis seit Jahren ignoriert wird. Zu diesem potentiell hochbrisanten Konflikt wurde auf dieser Kongreßveranstaltung wertvolle Aufklärungsarbeit geleistet, zumal die Positionen und Sicherheitsinteressen Rußlands in den hiesigen Medien zumeist eher marginal behandelt werden. Für den Schattenblick ergab sich im Anschluß an den Kongreß die Gelegenheit, an Herrn Korchunov auf schriftlichem Wege einige weiterführende Fragen zu stellen.


Schattenblick: Auf dem Kongreß "Quo vadis NATO?" in Bremen wurde in einem Diskussionsforum zum Thema "Der neue Anti-Raketen-Schirm der NATO in Europa - Sicherheitspolitische Kalküle und das Recht" die Frage thematisiert, ob es sich bei diesem Schirm um eine Defensiv- oder doch auch Offensivwaffe handelt. Wie ist Ihr Standpunkt dazu?

Nikolay Korchunov: Oberflächlich betrachtet scheint es sich bei der Raketenabwehr tatsächlich um ein reines Defensivsystem zu handeln - es wird sogar "Abwehr" genannt. Dennoch muß man, wenn man sich mit dieser Frage befaßt, berücksichtigen, daß eine unauflösbare Wechselbeziehung zwischen strategischen Offensiv- und strategischen Defensivwaffen existiert. Raketenabwehr kann die nuklearen Abwehrstreitkräfte der einen Seite schützen, sie kann ebenso dem Gegenschlag der anderen Seite entgegentreten. Auf diese Weise ergänzt sie die Offensivbewaffnung und beeinträchtigt das strategische Gleichgewicht in hohem Maße.

SB: Bei dem Raketenabwehrschirm handelt es sich um ein militärisches System, das aus Radaranlagen und Abfangraketen besteht, die angreifende ballistische Raketen noch während des Anflugs in der Luft neutralisieren können sollen. Wären diese Raketen technisch gesehen in der Lage, auch Ziele am Boden anzugreifen?

NK: Die Abfangraketen an sich würden wahrscheinlich nicht in der Lage sein, Bodenziele anzugreifen. Sie werden jedoch von standardisierten Behältersystemen abgeschossen, die man auch dafür einsetzen kann, andere Raketentypen einschließlich Angriffsraketen zu starten. Die Stützpunkte in Polen und Rumänien, die man im Rahmen des "US Phased Adaptive Approach" für Europa [1] zu errichten plant, könnten also theoretisch zur Unterbringung dieser Offensivwaffen genutzt werden. Diesen Faktor müssen wir mitbedenken.

SB: Die USA treiben den Aufbau ihres sogenannten Raketenabwehrsystems immer weiter voran mit der Behauptung, sich vor anfliegenden Raketen insbesondere aus dem Iran schützen zu wollen. Verbesserte bodengestützte Raketen sollen bis 2015 in Rumänien und bis 2018 in Polen aufgestellt werden. Frühere Planungen, 2020 weitere Raketen in Polen und Rumänien zu stationieren, wurden im März dieses Jahres fallengelassen, ab 2017 sollen zusätzliche Abfangraketen in Alaska aufgestellt werden. Läßt all dies Ihrer Bewertung nach auf den Versuch einer militärischen Eindämmung Rußlands schließen?

NK: Diese Frage trifft den Kern. Unsere derzeitige Einschätzung ist, daß die Umsetzung der US-Raketenabwehrpläne zu einer Lage führen könnte, in der die Funktionsfähigkeit der strategischen Abwehr Rußlands untergraben wird. Das könnte eine Illusion der Unverwundbarkeit schaffen, die in einer entscheidenden Situation zu einigen schwerwiegenden Entscheidungen mit unabsehbaren Konsequenzen führen könnte. Die USA und ihre NATO-Verbündeten treiben den "phasenangepaßten Ansatz" voran, der letztlich in eine Raketenabwehrarchitektur mündet, die die nationale Sicherheit Rußlands beeinträchtigt. Die USA vervollständigen dies durch ähnliche Bemühungen im Mittleren und Fernen Osten. Sie verweisen auf den Iran und Nordkorea als Quelle einer großen Bedrohung, aber es fällt uns schwer zu glauben, daß die kleinen, unausgereiften Raketenarsenale dieser Länder die Ausweitung der Raketenabwehr verdienen, die sich zur Zeit auf 8-10 Mrd. US-Dollar im Jahr für die USA allein beläuft. Mit einem Wort: Die US/NATO-Raketenabwehraktivitäten bedrohen unsere Sicherheit; die Erklärungen, die wir für diese Aktivitäten bekommen - verbunden mit dem mangelnden Willen, uns Garantien zu geben -, erregen unsere Besorgnis. In der Folge müssen wir Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der strategischen Stabilität und zur Wahrung unserer nationalen Sicherheit ergreifen.

SB: Am 3. April 2013 und damit noch inmitten der jüngsten Korea-Krise hat die US-amerikanische Regierung ihren Entschluß bekanntgegeben, binnen weniger Wochen auf Guam im Westpazifik eines ihrer modernsten Raketenabwehrsysteme (THAAD - Terminal High Altitude Area Defence) zu errichten. Ist dies Ihres Wissens nach inzwischen geschehen und wie stellt sich dieses Vorhaben aus Sicht Rußlands dar?

NK: Die Stationierung veranschaulicht sehr deutlich einen weiteren Aspekt der US-Raketenabwehraktivitäten. Das System, das sie entwickeln, basiert hauptsächlich auf mobilen Einrichtungen - Aegis- Schiffe mit Abfangraketen, THAAD und Patriot-Systemen -, die relativ schnell verlegt werden können, wenn sich die Lage entwickelt. Das heißt, es gibt weniger Berechenbarkeit und dafür umso mehr Grund für uns, rechtsverbindliche Garantien zu fordern, daß sich das weltumspannende US-System und sein europäisches Segment nicht gegen Rußland richten werden.

SB: Die Planungen und Vorbereitungen der NATO-Staaten an dem Anti-Raketen-Schirm haben nicht unbedingt zur Entspannung der politischen Beziehungen zur Russischen Föderation beigetragen. Wie wurde beispielsweise die Weigerung der NATO, gegenüber Moskau rechtsverbindlich zu erklären, diese Waffen niemals gegen Rußland einzusetzen, begründet?

NK: Eine Begründung wurde nie wirklich gegeben. Sie sagen lediglich: Es richtet sich nicht gegen euch. Die Erklärung des NATO-Gipfels in Chicago lautet beispielsweise (Punkt 62): "Die Raketenabwehr der NATO richtet sich nicht gegen Rußland". Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, nichtsdestotrotz bleibt es weit hinter dem zurück, was Rußland erwarten würde. Mit diesen politischen Erklärungen reinen Feststellungscharakters sollten solide Rechtsgarantien einhergehen, daß sich das errichtete Raketenabwehrsystem nicht gegen die russischen nuklearen Abwehrkräfte richtet. Diese auf eindeutige, militärtechnische Kriterien gegründeten Garantien würden die vollständige Übereinstimmung des Systems mit dem erklärten Zweck, namentlich der Abwendung einer Bedrohung durch Raketen, die von außerhalb Europas kommen könnten, sicherstellen.

SB: Würde man den Positionen führender US-amerikanischer Globalstrategen wie beispielsweise Zbigniew Brzezinski Glauben schenken, wäre anzunehmen, daß führende NATO-Staaten um einer unipolaren Position willen bestrebt wären, die eurasische Landmasse unter ihre Kontrolle zu bringen, was die Eindämmung und Vereinnahmung Rußlands, aber auch Chinas implizieren würde. Halten Sie solche Konzepte heute noch für relevant?

NK: Ich halte solche Konzepte nicht nur für irrelevant, sondern auch für unrealistisch. Man kann aus der Weltgeschichte ablesen, daß alle Versuche, die eurasische Landmasse zu kontrollieren, gescheitert sind. Heutzutage wirken solche Ideen umso exotischer. Kurz nach Ende des Kalten Krieges gab es in der Tat einige Ideen wie die "Pax Americana" und das "Ende der Geschichte", aber sie entpuppten sich sehr bald als unmöglich. Ich glaube nicht, daß ich Sie davon überzeugen muß, daß wir heute in einer multipolaren, miteinander verbundenen und globalisierten Welt leben. NATO-Länder, Rußland, China und weitere Nationen stehen vor denselben neuen, ernsten Herausforderungen, die nicht im Alleingang gelöst werden können. Kein Land hat als einzelnes ein solches Potential. Deshalb bin ich der Überzeugung, daß es dem allgemeinen Wohl dienen würde, wenn jene, die im 21. Jahrhundert von "Eroberung" oder "Unterwerfung" reden, ihre Energie dafür einsetzten, die wirklichen Bedrohungen und Herausforderungen anzugehen, und nicht die illusionären.

SB: Präsident Putin hat schon im Jahre 2007 auf der 43. Münchner Sicherheitskonferenz von einer "Überschreitung grundlegender Prinzipien des Völkerrechts" als einer äußerst gefährlichen Entwicklung gesprochen, die in den internationalen Beziehungen bereits dazu geführt habe, daß sich niemand mehr sicher fühle, weil man sich auf das internationale Recht als einer Schutzmauer nicht mehr verlassen könne. Wie würden Sie zu der damaligen Einschätzung Putins aus heutiger Sicht Stellung nehmen?

NK: Unglücklicherweise ist diese Einschätzung heute umso mehr gerechtfertigt. Seit 2007 hat es neue Belege dafür gegeben. Eines der offensichtlichsten Beispiele ist der UN-mandatierte Einsatz in Libyen. Die daran Beteiligten nutzten die Resolution des UN-Sicherheitsrates, die ursprünglich Menschenleben schützen sollte, um sich in den internen Konflikt einzumischen und eine der beiden Seiten zu unterstützen. Die Länder, die das Waffenembargo unterstützten und sogar die Verantwortung für dessen Durchsetzung übernommen hatten, lieferten zur selben Zeit Waffen an die Rebellen. Der UN- Sicherheitsrat verbot solche Aktionen ganz direkt, aber bestimmte Länder hatten wohl entschieden, daß internationales Recht für sie nicht galt. Welche Lektion werden also andere Länder aus diesem NATO-Einsatz lernen? Die einzige Möglichkeit, sich sicher zu fühlen, ist stark zu sein. Wenn du stark genug bist, wird niemand dich antasten. Aber die letztgültige Sicherheitsgarantie ist die nukleare Abschreckung, und diese Idee kann sogar zur Zerstörung der Nichtverbreitungsregime führen. Ein solcher Ansatz ist nicht weniger bedrohlich, denn so könnten auch andere Länder danach streben, internationales Recht zu ignorieren, um ihre eigenen Zeile durchzusetzen. Wenn eines das kann, warum dann nicht auch andere? Und was wird am Ende dabei herauskommen? Das Ergebnis ist eine Aushöhlung des internationalen Rechts und der internationalen Sicherheit - das "Recht des Schwertes" beginnt, sich durchzusetzen.

SB: Welche Gründe könnten die russische Regierung dazu veranlassen, auch weiterhin einem von den NATO-Staaten in Syrien erwünschten Regimewechsel entgegenzutreten?

NK: Der einzige Grund, den die russische Regierung hat, ist, daß niemand außer den Syrern selbst entscheiden kann, welche Regierung sie haben sollten. Die internationale Gemeinschaft könnte den verschiedenen Seiten des syrischen Konflikts behilflich sein, einen Dialog zu beginnen; aber zu diktieren, wer ihr Land regieren soll, wird nicht nur kontraproduktiv sein, sondern widerspricht auch dem Prinzip der Nichteinmischung in Innere Angelegenheiten sowie den Genfer Vereinbarungen [2]. Darüber hinaus würde eine von außen aufgezwungene Beilegung des Konflikts kaum tragfähig sein. Zur Normalisierung der Lage sollten sowohl die syrische Regierung als auch die Opposition das Feuer einstellen und mit Verhandlungen beginnen. Die Regierung scheint dazu bereit zu sein. Jetzt liegt es an jenen, die Einfluß auf die Opposition haben, diese zu überzeugen, sich an Gesprächen zu beteiligen.

SB: Die Frage nach der rechtlichen Begrenzung militärischer Zuspitzungen war auf der soeben zu Ende gegangenen Bremer Konferenz ein ganz zentrales Thema. Wie würden Sie auf der Basis Ihrer diplomatischen Praxis in Brüssel die schwierige Frage nach dem Verhältnis zwischen militärischer Gewalt, Demokratie, Recht und Politik beantworten?

NK: Um Ihre Frage zu beantworten, würde ich gern einen berühmten Ausspruch von Carl von Clausewitz zitieren: "Wenn Diplomaten aufhören zu reden, beginnen die Kanonen zu feuern". Das trifft heute absolut zu. Eine der Kernaufgaben der Diplomatie ist der Versuch, alle Konflikte mit Hilfe des Rechts zu lösen, im wahrsten Sinne des Wortes nicht die "Kanonen sprechen" zu lassen. Unser Land hat 27 Millionen Menschen in dem schrecklichsten aller Kriege verloren - wir wissen also, was Krieg bedeutet. Manche unserer Partner, sogar in einigen als demokratisch anerkannten Staaten, scheinen das zu vergessen und sprechen über "Kriege freier Wahl". Unglücklicherweise reden sie nicht nur, sondern handeln manchmal auch und rechtfertigen ihre Taten mit schönen Worten. Ich bin überzeugt davon, daß Krieg nur der letzte Ausweg sein kann. Kein Land sollte versuchen, seine politischen Ziele mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Wenn wir wollen, daß unsere Welt sicher und geschützt ist, sollte Politik - wieder ein Zitat von Carl von Clausewitz - nie mit "anderen", nämlich militärischen, Mitteln betrieben werden. Wir haben dafür das internationale Recht.

SB: Vielen Dank, Herr Korchunov, für dieses Interview.


Fußnoten:

[1] United States European Phased Adaptive Approach, EPAA: phasenangepaßter US-Ansatz der Raketenabwehr für Europa

[2] Das Genfer Abkommen vom 30.06.2013 über Prinzipien für die Regelung der Situation in Syrien wurde vereinbart von den Außenministern der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates und Vertretern der an Syrien angrenzenden Staaten.


Bisherige Beiträge zum Kongreß "Quo vadis NATO?" im Schattenblick unter INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/148: Quo vadis NATO? - sowohl als auch ... (SB)
BERICHT/149: Quo vadis NATO? - gedehntes Recht und Kriege (SB)
INTERVIEW/166: Quo vadis NATO? - Handgemacht und kompliziert (SB)
INTERVIEW/167: Quo vadis NATO? - Zügel für den Kriegseinsatz - Gespräch mit Otto Jäckel (SB)
INTERVIEW/168: Quo vadis NATO? - Interventionsgefahren (SB)
INTERVIEW/169: Quo vadis NATO? - Desaster der Mittel - Hans-Christof Graf von Sponeck im Gespräch (SB)
INTERVIEW/170: Quo vadis NATO? - Was keiner wissen will - Bernhard Docke im Gespräch (SB)

28. Mai 2013