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INTERVIEW/216: China zwischen den Welten - Maofolklore und Fortschritt, Nele Noesselt im Gespräch (SB)


Hybridsystem China - Läßt sich der Kapitalismus zügeln?

Interview am 19. März 2014 in Hamburg



Dr. Dr. Nele Noesselt studierte Sinologie und Politikwissenschaft in Heidelberg, Beijing und Wien. Nach ihrer Promotion an der Universität Wien war sie von 2009 bis 2011 Akademische Rätin mit Schwerpunkt Chinesische Politik an der Universität Göttingen. Ab Juni 2011 schloß sich eine Tätigkeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am GIGA Institut für Asien-Studien an, bei dem sie seit April 2012 Sprecherin des Forschungsteams "Vergleichende Regionalismusforschung" ist. Sie arbeitet insbesondere zu Governance-Fragen der VR China im nationalen und globalen Kontext.

Im Rahmen eines Forums zum Thema "Zwischen Reform und Stillstand: China unter neuer Führung", das am 19. März vom German Institute of Global and Area Studies (GIGA) in Kooperation mit der Handelskammer Hamburg veranstaltet wurde, durchleuchtete Nele Noesselt die Hintergründe der Reformbeschlüsse und ging auf die in diesem Zusammenhang geführten Debatten im Land ein. Im Anschluß an die Veranstaltung beantwortete sie dem Schattenblick einige Fragen.

Am Tisch sitzend - Foto: © 2014 by Schattenblick

Nele Noesselt mit SB-Redakteur
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Frau Noesselt, Sie haben in Ihrem Vortrag angesprochen, daß man, um die Frage von Herrschaft, Regierung und Staat in China verstehen zu können, in die Geschichte zurückgehen muß. Könnten Sie näher ausführen, warum das so wichtig ist?

Nele Noesselt: Gegenwärtig denkt man in China über das Verhältnis von Reform und Revolution nach und greift damit einen Grundtopos der chinesischen Staatsphilosophie auf, nämlich die Frage, wann ein System stabil ist und welche Rolle der Herrscher spielen muß, damit es sich um eine legitime Form von Regierung in den Augen der Bevölkerung handelt. Diese Thematik können wir viele hundert Jahre zurückverfolgen, und sie wird gegenwärtig unter Rückbezug auf diese historischen Philosophiedebatten erörtert. Man diskutiert nicht darüber, was China gegenwärtig tun muß, sondern man schaut sich an, was in der chinesischen Staatsphilosophie steht, welche Muster man darin erkennt und welche man reaktivieren sollte. Interessanterweise ist das aber auch Teil einer Legitimationsstrategie, indem man neue Orientierungen in der Politik als Teil dieser alten Staatsphilosophie verkauft.

SB: Aus westlicher Sicht ist die Frage, warum die Staatsführung nicht über die Macht verfügt, die Kader auf niedrigerer Ebene ohne weiteres zu beeinflussen, offenbar nicht zu beantworten, wenn man nicht versteht, wie dieses Verhältnis historisch entstanden ist und demzufolge heute praktisch umgesetzt wird.

NN: Sie sprechen den Verlust der direkten Steuerung von ganz oben bis hinunter in die niedrigsten Verwaltungsebenen an. Historisch gesehen endet der Zugriff des Parteistaates auf der Ebene des Kreises, da die Dörfer schon von jeher selbstverwaltet waren. Es gibt heute sehr viele Mißstände, und es ist aus zentralstaatlicher Sicht sehr schwer, regulierend einzugreifen. Gegenwärtig geht man mit den Antikorruptionsmaßnahmen auch gegen die Kader auf Dorfebene vor. Hinzu kommt jedoch auch ein Informationsverlust. Wenn wir sehen, wie stark sich seit 1978 die Dezentralisierung, ja de facto ein Föderalismus entwickelt hat, sieht man, daß die Umsetzung von Politik sehr häufig im lokalen Kontext erfolgt und die zentrale Ebene der Partei wenig Einblick in die tatsächlichen Verhältnisse vor Ort hat.

Das ist ein sehr altes Phänomen, das bereits in der Tang-Dynastie in Erscheinung trat. Damals wurden geheime Botschafter durchs Land geschickt, die sich gewissermaßen undercover angesehen haben, was im argen liegt, um dann dem Kaiser davon zu berichten. Ein solches Verfahren wird zwar heutzutage nicht mehr praktiziert, aber dennoch steht die Regierung vor demselben Problem und versucht, mit zeitgemäßen Mitteln wie etwa über die Mikroblogs Einblick in das zu bekommen, was tatsächlich in bestimmten Provinzen weit entfernt von Beijing an der Tagesordnung ist, wie beispielsweise illegale Landnahme oder Machtwillkür von Kadern, um dort entsprechend eingreifen zu können.

SB: Die Frage, ob China noch sozialistisch oder bereits kapitalistisch sei, wird ausgiebig diskutiert, aber selten abschließend beantwortet. Wie würden Sie das beurteilen?

NN: Meine Kollegen hier am GIGA haben mir beigebracht, daß China mit dem Ansatz "Variationen des Kapitalismus" sehr gut zu analysieren ist. Wenn man diesen Ansatz auf China überträgt, läßt sich das System in diesen dort vorhandenen Kategorien beschreiben. Allerdings haben wir ein Hybridsystem vor uns, das zwar marktwirtschaftliche Elemente nicht negiert, aber immer noch ein Übergewicht an Staatsunternehmen aufweist. Ein System, das offiziell eine liberale Wirtschaftsplanung zuläßt, aber dennoch die Fünfjahrespläne verabschiedet. Ein System, das immer noch ein Einparteiensystem ist, in dem der Sozialismus eine tragende Rolle spielt.

Im Jahr 2004 hat man ein Riesenprojekt aufgelegt, das sich "Marx-Projekt" nennt und in das Millionen chinesischer Renminbi für den Neuaufbau oder die Neuausrichtung der bestehenden Institute zur Forschung zum Marxismus-Leninismus und zu den Mao-Zedong-Ideen geflossen sind. Diese Institute wurden in "Marxismus-Institute" umbenannt und sollen eine Theorie des Sozialismus und Marxismus für das 21. Jahrhundert erarbeiten. Auch wenn wir also im Wirtschaftsbereich eine starke Liberalisierung und Internationalisierung feststellen können, bleibt doch der Sozialismus ein Identitätsmerkmal des chinesischen Systems.

SB: Unter dem Maoismus wurden viele Errungenschaften wie insbesondere eine Anhebung des Lebensstandards der Bevölkerung erreicht. Ist der Maoismus ein Entwurf, der im Sinne solcher Errungenschaften, die man nicht preisgeben möchte, noch in der Gesellschaft verankert ist?

NN: Auf jeden Fall. Gerade gegenwärtig wird immer wieder darauf abgehoben, daß vieles, was in der Phase nach 1949 geschehen ist, nicht unbedingt positiv war, aber daß es dann doch Einschnitte gab, die dazu geführt haben, daß China wieder stark geworden ist und sich die Gesellschaft positiv entwickelt hat. Als Negativbeispiel wird stets Indien angeführt, wo es keine Ein-Kind-Politik gab und das Bevölkerungswachstum aus dem Ruder gelaufen ist. Damit rechtfertigt man in China die starke Bevölkerungskontrolle, die zu einer gebildeten Gesellschaft geführt habe, die auch einen höheren Wohlstand aufweist. Als weiteres Negativbeispiel wird die Sowjetunion angeführt, die zeige, was passiert, wenn man die alten Ideale aufgibt. Das sind Spiegeldebatten, mit denen man versucht, den Weg als richtig zu rechtfertigen, den China gewählt hat, und diese Einstellung findet man auch in der Bevölkerung. Es gibt trotz diverser negativer Begleiterscheinungen noch sehr viele positive Reminiszenzen an Mao Zedong.

SB: Sie haben in Ihrem Vortrag auch den Machtkampf zwischen den beiden Flügeln in der Partei geschildert, bei dem sich der neoliberale vorerst durchgesetzt hat. Nun ist der Neoliberalismus im Grunde genommen ein Modell, das vielerorts in der westlichen Welt inzwischen für fehlerhaft und überholt erklärt wird. Kann man denn aus dieser Sicht überhaupt ernsthaft vertreten, daß es wünschenswert wäre, wenn China ebenfalls eine solche Entwicklung durchläuft?

NN: China nennt es zwar Neoliberalismus, beansprucht aber zugleich, ein chinesisches Modell zu haben. Aus chinesischer Sicht wird gegenwärtig mit Blick auf die europäische und US-amerikanische Finanzkrise durchaus das Ende des Kapitalismus in der westlichen Welt konstatiert. Demgegenüber wird die chinesische Variante, also dieses gemischte Modell, das eben auch einen starken Staat vorsieht, als die erfolgreichere Modellvorgabe gesehen. Allerdings ist es schwierig zu definieren, was genau den chinesischen Neoliberalismus ausmacht. Die Idee Deng Xiaopings war ja, daß einige zuerst reich werden dürfen, worauf dann andere gesellschaftlichen Gruppen sozusagen in einem Spillover-Effekt nachziehen werden. Man hat damals argumentiert: Egal, welche Farbe die Katze hat, ob schwarz oder weiß, Hauptsache sie fängt Mäuse. Solche Debatten wurden damals geführt.

Dieser Ansatz hat jedoch zu extremen Disparitäten geführt. Inzwischen erkennt man, daß man diesen Kapitalismus zügeln muß - denn wir haben trotz eines sozialistischen Systems Phasen des Turbokapitalismus auch in China erlebt -, da das Ganze andernfalls außer Rand und Band gerät und dann wirklich ein Systemzusammenbruch droht. Wir haben vorhin die Umverteilung angesprochen, die beispielsweise vorsieht, daß die Staatsunternehmen künftig 30 Prozent ihrer Gewinne für die sozialen Sicherungssysteme abführen sollen, daß der Markt sich sehr viel stärker selbst organisiert und daß Grassroots-Elemente gestärkt werden. All das sind Antworten auf die Defekte, die man dem Kapitalismus zuschreibt.

SB: Wir haben bislang darüber gesprochen, welche Reformen von oben eingeleitet werden. Gibt es denn auch erkennbare Bewegungen von unten wie beispielsweise Arbeitskämpfe?

NN: Ja, die gibt es. Arbeitskämpfe, die zum Teil auch über Mikroblogs koordiniert worden sind oder bei denen Mikroblogs eine Rolle gespielt haben. Es gibt Beispiele, wo man sich erfolgreich gegen die Willkür der Kader vor Ort durchsetzen konnte, und zwar indem man versucht hat, an die nächsthöhere Ebene zu appellieren, also von der Dorfebene vielleicht sogar zur Provinzregierung zu gehen, die dann im Sinne der Dorfbevölkerung eingegriffen hat. Dies geschah im Fall des südchinesischen Fischerorts Wukan, der ja auch bei uns in den Medien diskutiert worden ist, wie auch in mehreren Fällen von illegaler Landnahme. Die nächsthöheren Stellen und die Zentralregierung möchten solche Übergriffe gerne eindämmen, können das aber nur, wenn sich die Bevölkerung selbst wehrt. In anderen Fällen kam es aber auch zu einer Niederschlagung solcher Kämpfe. Wir erleben natürlich Massen von Protesten in China, und diese führen schon zu einer gewissen Verschiebung.

Wir sollten allerdings nicht vergessen, daß es auch westliche oder taiwanesische Firmen in China gibt, die nicht unbedingt die besseren Arbeitsbedingungen bieten. Auch in den Werken von Honda oder Foxconn, worüber viel in den Medien geschrieben worden ist, gibt es Arbeitskämpfe, die aber noch einmal zu unterscheiden wären von diesen Kämpfen, die in den Dörfern stattfinden.

SB: Wir diskutieren durch die Brille hiesiger Sicht über China, das ein sehr wichtiger Handelspartner für Deutschland ist. Wie ist das Verhältnis von wirtschaftlichen Interessen, die deutsche Unternehmen oder die Bundesregierung in China verfolgen, zu den vorgetragenen Reformwünschen? Stehen diese beiden Aspekte wirklich in Einklang oder handelt es sich vielmehr um eine Vertretung deutscher gegen chinesische Interessen?

NN: Natürlich muß sich jede Regierung, die neu im Amt ist, gegenüber der eigenen Bevölkerung legitimieren und ihre Macht konsolidieren. Aber zugleich ist China eben auch eine Exportmacht, die auf die europäischen und amerikanischen Märkte angewiesen ist und Vertrauen gewinnen muß. Nachdem sehr viel Kritik an China geübt wurde, ist es natürlich verständlich, daß vor allem die englische Version des Reformdokuments bestimmte Begrifflichkeiten aufgreift, die uns sehr bekannt vorkommen und vertraut sind, weil sie unseren eigenen normativen Erwartungen entsprechen. Liest man die chinesischen Dokumente im Original, relativieren sich manche Begriffe. Wenn wir in unserer westlichen Version den Begriff "politische Reform" als Teil eines chinesischen Reformpakets finden, dann sind das keine Reformen in dem Sinn, daß sich das System als solches ändert. Es ist vielmehr stets nur eine Reform der administrativen Strukturen, eine Restrukturierung von Ministerien, eine Umverteilung von Aufgaben, eine Umstellung des Rechtssystems gemeint, aber nicht des Regimes als solchem.

SB: Frau Noesselt, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnote:

Bericht zur Veranstaltung "Zwischen Reform und Stillstand: China unter neuer Führung" im Schattenblick unter
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BERICHT/179: China zwischen den Welten - Hypotheken der Moderne (SB)

2. Mai 2014