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INTERVIEW/241: NYC Climate Convergence - Auf Augenhöhe ...    Michael Schwartz im Gespräch (SB)


Chaos im Nahen Osten - Zufall oder geplant?

Interview mit Michael Schwartz am 20. September 2014 in New York



Prof. Michael Schwartz lehrt Soziologie an der State University of New York in Stonybrook, Long Island. In seinem Fachgebiet hat er das Konzept der "strukturellen Ignoranz" entwickelt, mittels dessen er erklärt, wie in Großinstitutionen und sozialen Bewegungen Individuen, basierend auf ihrer Position im Gefüge und dem beschränkten Ausmaß ihres jeweiligen Kenntnisstands, Einzelentscheidungen treffen bzw. zur kollektiven Entscheidungsfindung beitragen. Auf der Tagung NYC Climate Convergence Ende am 20. September in New York hat Schwartz, ein prominenter Kritiker des Irakkrieges, zusammen mit Ashley Smith von der International Socialist Organization (ISO) den spannenden Workshop "Imperialism, the Middle East and Oil" geleitet. Anschließend erklärte er sich spontan bereit, dem Schattenblick folgendes Interview zu geben.

Ashley Smith sitzt am Tisch, während Michael Schwartz seinen Vortrag hält - Foto: © 2014 by Schattenblick

Ashley Smith und Michael Schwartz schlüsseln die Lage im Nahen Osten auf
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Professor Schwartz, Ihr 2008 über den Krieg im Irak erschienenes Buch hieß "War without End". Wie sind Sie auf diesen Titel gekommen?

MS: Es handelt sich hier um einen Krieg, der ursprünglich mit dem Ziel erklärt wurde, einen angeblich existierenden, "finsteren Nexus" zwischen Saddam Hussein und Al Kaida zu beenden, der aber niemals richtig aufhören wird, weil er sich immer ausweiten und gegen neue Feinde anwenden läßt. Derzeit schreibe ich an einem neuen Buch, das "Military Neoliberalism" heißen soll. In dem Buch geht es um denselben endlosen Krieg, der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion begann, als das Militär zur schlagkräftigsten Waffe der USA bei der Durchsetzung neoliberaler Wirtschaftspolitik wurde. Also ist der Krieg der USA im Irak, der 1991 mit Präsident George Bush sen. begann, von seinen Nachfolgern Bill Clinton und George Bush jun. fortgesetzt wurde und nun von Barack Obama wieder aufgenommen wird, nur ein Teil, wenn auch ein wichtiger, des Krieges ohne Ende.

Tatsächlich sieht es so aus, als könnte allein der Konflikt im Irak zu einem niemals endenden Krieg werden. Dort finden inzwischen zwei, vielleicht sogar drei verschiedene Kriege statt: erstens der sunnitische Aufstand unter der Führung der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) gegen die Streitkräfte der irakischen Zentralregierung; zweitens der zwischen den sunnitischen Aufständischen und den Peschmerga der Autonomen Region Kurdistan; drittens der eventuell zwischen den Kurden und den Truppen Bagdads. Sollte demnächst das Streben der Kurden nach immer größerer Eigenständigkeit sie in militärischen Konflikt mit der Regierung in Bagdad bringen, dürfte es interessant sein, wie sich die USA positionieren, denn schließlich handelt es sich bei beiden Parteien um Verbündete Washingtons.

SB: Vielfach wird die These vertreten, die USA hätten nach dem Einmarsch 2003 in den Irak und dem Sturz Saddam Husseins den Krieg im Irak verloren. Stimmen Sie dem zu? Was ist mit dem Chaos, das die USA im Irak angerichtet haben - war es von vornherein gewollt oder nur das Ergebnis eines Streites zwischen dem Pentagon und dem Außenministerium? Bekanntlich haben die Mitarbeiter Colin Powells im State Department vor der Invasion einen umfassenden Wiederaufbauplan ausgearbeitet, den der neokonservative Klüngel um Donald Rumsfeld einfach in den Papierkorb warf.

MS: Ich glaube, daß das Ziel des Irakkrieges niemals richtig klar war, denn es herrschten innerhalb der Bush-Regierung unterschiedliche Ansichten über den Zweck der ganzen Unternehmung. Daher halte ich es für müßig zu fragen, ob das Ziel erreicht wurde. Es gab viele, unterschiedliche Ziele, die sich mit der Zeit auch verwandelten. Dennoch bin ich der Meinung, daß der Irakkrieg am Ende doch noch zu einer Niederlage für die USA wurde. Washington verband mit dem Einmarsch eine Reihe von Absichten, die wegen der Lage im Irak nicht verwirklicht werden konnten.

Die Bush-Administration wollte erstens den Irak zu einem Vasallenstaat machen; das US-Militär sollte dort mehrere dauerhafte Stützpunkte für die Stationierung von rund 40.000 Soldaten erhalten, um von dort aus Macht in die Nachbarländer zu projizieren und gegebenenfalls hier und da einzugreifen. Zweitens sollte die neue Regierung in Bagdad die US-Politik in der Region unterstützen und zum Beispiel Israel anerkennen. Ursprünglich spielten die Neocons mit der Idee, nach einem schnellen Sieg gegen den Irak von dort aus gegen den Iran vorzugehen. Doch als die Besatzung immer schwieriger wurde, mußte man sich von diesen Plänen verabschieden. Nichtsdestotrotz hoffte man drittens in Bagdad eine Regierung zu installieren, mittels derer man Druck auf den Iran ausüben könnte. Statt dessen kam, angeführt von Nuri Al Maliki, eine schiitische Bevölkerungsmehrheit an die Macht, die sich eher für Botschaften aus Teheran als aus Washington empfänglich zeigte. Viertens hoffte man in einem Irak das Sagen zu haben, der täglich acht bis zwölf Millionen Faß Öl produzieren sollte. Mit dessen Hilfe wollte man die Macht von OPEC im globalen Energiesektor beschneiden und dem Willen Washingtons stärker unterordnen. Bis heute leidet jedoch die irakische Ölproduktion unter der Instabilität. Also hat sich keine dieser vier Absichten verwirklichen lassen.

Ob die Neocons im Irak Chaos gezielt angerichtet haben? Nun, ich denke nicht, daß sie das ursprünglich vorhatten. Doch als der Aufstand gegen die US-Streitkräfte immer stärker wurde, sind sie meiner Meinung nach zu dem Schluß gekommen, daß ein nicht funktionierender Staat Irak ihnen lieber wäre als einer, der sich behaupten und den geostrategischen Plänen Washingtons in den Weg stellen könnte. Die USA haben sich am Ende mit einer Administration in Bagdad arrangieren müssen, die es auf den drittletzten Platz der von Transparency International geführten Korruptionsliste geschafft hat. Das war nicht mehr der Irak, dessen wirtschaftliche Strahlkraft die Nachbarstaaten beeindrucken sollte. Auch wenn die Amerikaner mit Maliki niemals glücklich wurden, war es ihnen lieber, ihn, als den schiitischen Radikalprediger Muktada Al Sadr oder einen Vertreter des sunnitischen Aufstands in Bagdad an der Macht zu haben. Al Sadrs schiitische Bewegung und die sunnitischen Aufständischen waren Washington viel zu nationalistisch gesinnt und wären daher unbeherrschbar gewesen.

Michael Schwartz hinter dem Stehpult - Foto: © 2014 by Schattenblick

Der langjährige Dozent spielt seine Erfahrung aus
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Noch bevor die CIA und die US-Streitkräfte im Irak die sogenannte "Salvador-Option" implementierten, um Sunniten und Schiiten gegeneinander aufzubringen, bestand die Möglichkeit einer Regierung der nationalen Einheit, unterstützt durch Al Sadrs schiitische Mahdi-Armee und die sunnitischen Stämme.

MS: Aus Sicht der USA wäre es das absolute Alptraumszenario gewesen, und deshalb mußte es mit allen gebotenen Mitteln verhindert werden.

SB: Wie erklären Sie sich angesichts des grandiosen Scheiterns der Neocons im Irak deren anhaltenden Einfluß in Washington, für den die Umwälzungen in der Ukraine und der neue Kalte Krieg des Westens mit Rußland der deutlichste Beleg sind?

MS: Das hat damit zu tun, daß weite Teile der Demokraten und Republikaner im Washingtoner Kongreß eine imperialistische, interventionistische Außenpolitik befürworten. Die Neocons, die in der Regierung von Bush jun. mit Leuten wie Paul Wolfowitz und Douglas Feith personell sehr stark vertreten waren, sind lediglich diejenigen, die bei jeder Gelegenheit am lautesten den globalen Führungsanspruch der USA fordern, entsprechende Pläne formulieren und sie teilweise, wie Sie am Beispiel Ukraine richtig sagten, in die Tat umsetzen. Wichtiger als die Neocons selbst ist die neokonservative Weltsicht, die in Medien und Politik der USA vorherrschend ist.

Vivek Chibber hat in der Jahresausgabe 2009 des Socialist Register einen aufschlußreichen Artikel mit dem Titel "American Militarism and the U. S. Establishment - The Real Lessons of the Invasion of Iraq" über die Hintergründe des Irakkrieges veröffentlicht. Darin schildert er die große Uneinigkeit, die nach dem Golfkrieg 1991 und der Wahl des Demokraten Bill Clinton zum US-Präsidenten im Jahr darauf unter der außenpolitischen Elite in Washington in bezug auf den Irak bestand. 1998 veröffentlichten die führenden Neocons in der New York Times ihren berühmten offenen Brief an Clinton, wo sie den gewaltsamen Sturz Saddam Husseins forderten. Als dann zwei Jahre später der Republikaner George W. Bush Präsident wurde, waren die führenden Vertreter der demokratischen Partei inzwischen "mit von der Partie", was die aggressiven Absichten der Neocons in bezug auf den Irak im besonderen und den Nahen Osten im allgemeinen betrifft.

Alle waren sich über die Wünschbarkeit eines gewaltsamen "Regimewechsels" in Bagdad einig. Die trotzige Haltung Saddam Husseins und die Weigerung Bagdads, sich ungeachtet jahrelanger Wirtschaftssanktionen dem Willen des Westens zu beugen, waren für die USA nicht weiter hinnehmbar. Es bedurfte lediglich des passenden Vorwandes. Und der wurde durch die Flugzeuganschläge vom 11. September 2001 geliefert. Der Einfluß der Neocons wird überbewertet. Ihre Funktion, ähnlich der der RAND-Stiftung früher, besteht hauptsächlich darin, die sicherheitspolitischen Ideen, die ohnehin in Washington herumgeistern, programmatisch auszuformulieren.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion standen die USA schlecht da. Sie verfügten über den größten Militärapparat auf Erden, doch in Fragen der Wirtschaft waren sie zweitklassig geworden. Der Riese stand sozusagen auf tönernen Füßen. Daraus resultierte die Politik Washingtons, die wirtschaftlichen Ziele der USA mit militärischen Mitteln zu erreichen. In meinem neuen Buch nenne ich das eine "Military-first"-Politik. Das heißt, Washington geht ab 1990 immer mehr dazu über, durch die Androhung oder den Einsatz von Gewalt in Form von Militärinterventionen anderen Staaten seinen Willen aufzuzwingen. So fragte Madeleine Albright als Außenministerin Clintons während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien einmal den damaligen Generalstabschef Colin Powell rhetorisch: Wozu ist ein solch "hervorragendes Militär" gut, wenn man es niemals nutzt?

Deswegen kam es zu keiner großen Kurskorrektur, als der liberale Demokrat Barack Obama 2008 ins Weiße Haus zog. Wer auch immer das Amt des US-Präsidenten bekleidet, übernimmt die Führung eines solchen gewaltigen Militärapparates, daß nicht er, sondern der Apparat den außenpolitischen Kurs vorgibt. Ich denke, daß Obama, als er noch in Chicago Sozialarbeit machte und später Senator im Kongreß des Bundesstaates Illinois war, progressive Ziele verfolgte. Irgendwann, als er sich um das Amt des Präsidenten bewarb oder die Wahl dazu gewann, hat er festgestellt, daß er sich mit den vorherrschenden Kräften an der Spitze des amerikanischen Staates arrangieren mußte und keine allzu alternativen Ideen ausprobieren durfte. Als Präsident hat er Macht, solange er innerhalb bereits abgesteckter Grenzen bleibt. Einige Präsidenten bemühen sich in der Situation, ihren Handlungsspielraum auszuweiten, indem sie hier und da anecken, andere verhalten sich brav. Zur letzteren Gruppe zähle ich Obama.

Aktuell sehen sich die USA mit einer sehr vertrackten Situation in einem Irak konfrontiert, aus dem Obama vor zweieinhalb Jahren die letzten US-Kampftruppen abgezogen hatte. Dort tobt der sunnitische Aufstand. Die letzte Regierung - die von Premierminister Al Maliki - hat sich als untauglich erwiesen. Ihre Unfähigkeit, die Sunniten politisch einzubinden und sie an den Einnahmen aus dem Ölexport zu beteiligen, hat zum Erstarken der salafistischen Kampftruppe Islamischer Staat, die frühere Al Kaida im Irak, in den mehrheitlich sunnitisch bewohnten Landesteilen im Westen und Norden geführt. Die Einwirkungsmöglichkeiten der USA im Irak sind deshalb begrenzt, weil das Land längst zum Gegenstand eines erbitterten Kampfes um Einfluß zwischen dem Iran auf Seiten der Schiiten und Saudi-Arabien auf Seiten der Sunniten geworden ist. Vom Irak aus hat sich der schiitisch-sunnitische Konflikt in die Nachbarländer ausgebreitet. Wegen der eigenen militärischen Stärke setzen nun die USA zur Lösung des Problems IS in Syrien und im Irak Waffen ein.

Doch das Mittel des Militärischen wird sich als wenig effektiv erweisen. Statt zu versuchen, den Nahen Osten der US-Hegemonie unterzuordnen, wäre Washington besser beraten, der Region zu helfen, sich zur Säule einer multipolaren Weltordnung im Form einer überstaatlichen Arabischen Union nach Art der EU zu entwickeln. Dazu wären Diplomatie sowie wirtschaftliche und technische Hilfe die geeigneten Mittel. Der Einsatz der US-Luftwaffe gegen den IS wird nur noch mehr Leid und Zerstörung bringen. Israels jüngste Offensive gegen den Gazastreifen hat dies eindrücklich bewiesen. Nach wie vor bleibt der politische Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern vollkommen ungelöst.

SB: Was das voraussichtliche Scheitern der US-Militärintervention gegen IS betrifft, so haben Sie vermutlich Recht. Als Obama vor einigen Tagen in einer Fernsehrede an die Nation den Wiedereinstieg der USA in den Krieg im Irak verkündete, verwies er auf die anhaltenden CIA-Drohnenangriffe im Jemen und in Somalia als erfolgreiches Modell, das auch gegen den IS zur Anwendung kommen sollte. Nach Meinung aller Entwicklungshelfer und zahlreicher Militärexperten haben die Drohnenangriffe in diesen beiden Ländern das Problem des "Terrorismus" statt zu lindern eher verschärft, weil sich die Freunde und Angehörigen der vielen zivilen Opfer Al Kaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) respektive Al Schabab anschließen bzw. zu deren Sympathisanten werden.

MS: Obamas ausdrücklicher Hinweis auf Jemen und Somalia hat viele Kommentatoren verwundert, denn die US-Militäroperationen rund um das Horn von Afrika gelten aus Sicht der meisten unparteiischen Beobachter als restlos gescheitert.

Publikum im Klassenzimmer hinter Schreibtischen - Foto: © 2014 by Schattenblick

Die Workshop-Teilnehmer hören den Ausführungen von Schwartz gebannt zu
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Was sagen Sie zu dem Verdacht, den nicht wenige Menschen im Nahen Osten hegen, wonach der IS durch seine demonstrative Nicht-Anerkennung der staatlichen Grenzen der Region, die 1916, während des Ersten Weltkrieges, von den britischen und französischen Diplomaten Mark Sykes und Francois Georges-Picot auf der Landkarte willkürlich eingezeichnet wurden, einer Neuordnung des Nahen Ostens im westlichen Sinne, das heißt der Aufteilung der bestehenden Staaten in kleinere, ethnisch und religiös homogenere Verwaltungseinheiten, von denen keine nachher Israel bedrohen könnte, den Weg bereitet? Die Veröffentlichung entsprechender Karten nach den Überlegungen westlicher Militärstrategen hat in den letzten Jahren im Nahen Osten für Gesprächsstoff gesorgt.

MS: Ich denke, es gibt derzeit keine Konstellation von arabischen Staaten, die eine ernsthafte militärische Bedrohung für Israel darstellte. Davon abgesehen gibt der von Ihnen zitierte Verdacht ein falsches Bild davon, wie die USA strategisch operieren und ihre Ziele verfolgen. Praktisch zu jeder Zeit wird man in den USA irgendeinen Politiker oder Denkfabrik-Vertreter finden, der gerade einen Plan für eine Neuziehung der Grenzen im Nahen Osten austüftelt. Vor einigen Jahren hat Joseph Biden, als er noch Senator für Delaware war, zusammen mit Leslie Gelb vom New Yorker Council on Foreign Relations die Verwandlung des Iraks in einen Bundesstaat aus drei Teilen - einem kurdischen, einem schiitischen und einem sunnitischen - empfohlen. Major Ralph Peters dagegen hat auf seiner berüchtigten Karte alle möglichen neuen Staaten entworfen - einen für die Schiiten in den östlichen Provinzen Saudi-Arabiens, ein freies Belutschistan, bestehend aus westlichen Teilen des heutigen Pakistans und östlichen Teilen des heutigen Irans et cetera.

Nichtsdestotrotz zeichnet sich die amerikanische Nahost-Politik seit 1990 nicht gerade durch ein derart hohes Maß an Vorausschau und Überlegtheit aus. Das Gegenteil ist der Fall. Sollte sich später irgendeine Neuzeichnung der Landkarte ergeben, könnte man leicht behaupten, jenes Ergebnis hätten die USA von vornherein geplant. Das wäre aber meines Erachtens eine verkürzte Deutung des tatsächlichen Verlaufs der Ereignisse. Das Hauptanliegen der US-Planer ist stets, das Beste aus der jeweils aktuellen Lage, wie auch immer sie sich gestaltet, zu machen, um sich im wirtschaftlichen Dauerkrieg der Nationen zu behaupten. Das schaffen sie auch, aber eher mittels kurzfristigen Handelns als durch die Umsetzung irgendwelcher ausgeklügelter strategischer Entwürfe. Bei der ganzen Anzahl staatlicher und nicht-staatlicher Kräfte im Nahen Osten läßt sich schwer sagen, wie sich die Dinge und zu wessen Gunsten sie sich entwickeln werden. Was man aber vermutlich jetzt schon mit ziemlicher Sicherheit prognostizieren kann, ist, daß die einfachen Menschen die Leidtragenden sein werden.

SB: Wie schon lange absehbar war, hat die ständige Osterweiterung der NATO in diesem Jahr zur Ukraine-Krise und einer drastischen Verschlechterung in den Beziehungen des Westens mit Rußland geführt. Angesichts der zahlreichen Probleme in der Welt scheint der neue Kalte Krieg das letzte zu sein, was die Menschen brauchen. Können die USA nicht von der Umzingelung Rußland ablassen? Ist die Konfrontation zwischen Moskau und Washington unvermeidlich? Gehen die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte - die Aufrüstung der Mudschaheddin im Kampf gegen die Sowjetunion in Afghanistan, der spätere Krieg der NATO dort, die Osterweiterung der NATO, der Einmarsch in den Irak, Drohnenangriffe in Pakistan u. v. m - nicht zuletzt auf das Streben der USA nach Kontrolle über die eurasische Landmasse zurück, wie es Zbigniew Brzezinski 1997 in seinem Buch "Das große Schachbrett" formuliert hat?

MS: Das kann man zweifelsohne sagen, wobei man natürlich darüber, wie "Kontrolle" in diesem Zusammenhang zu definieren ist, diskutieren müßte. 2001, 2002 gab es einen Begriff, den die Verantwortlichen in der Regierung und beim Militär der USA gern benutzten, nämlich "Bogen der Instabilität". Erstaunlich war jedoch, wie stabil der "Bogen der Instabilität" zu dem Zeitpunkt war, als man den Begriff in die Welt setzte. Bis auf Israel/Palästina und Somalia war die Lage in den Ländern Nordafrikas und des Mittleren Ostens bis hinüber nach Pakistan relativ ruhig. Größere Bürgerkriege, Aufstände, Flüchtlingsströme gab es nicht. Heute brennt es in der ganzen Region lichterloh. Aus den Bürgerkriegen im Irak, Jemen, Libyen und Syrien droht ein regionales Inferno zu werden.

Die Entstehung des Begriffs "Bogen der Instabilität" hatte nichts mit der politischen Lage in den Ländern selbst zu tun, sondern war der Tatsache geschuldet, daß sich in der Region zwischen Atlasgebirge und Hindukusch der größte Teil der exportierbaren Erdölreserven befindet, auf die die USA Zugriff haben möchte. Die USA fördern selbst eine Menge Öl, exportieren aber davon praktisch nichts, sondern verbrauchen es im eigenen Land. Im "erweiterten Mittleren Osten" lagern jene Ölreserven, die in die anderen Industrienationen exportiert werden und somit für die Weltwirtschaft unerläßlich sind.

Liest man die verschiedenen Strategiepapiere des Pentagons wie die Quadrennial Defense Review (QDR) oder des Nationalen Sicherheitsrats im Weißen Haus, dann wird man dauernd auf die Sicherung der wirtschaftlichen Interessen Amerikas rund um die Welt als Funktion des US-Militärs stoßen. Stets wird die Bedeutung der Kontrolle über Meerengen wie die Straße von Malakka oder den Bab al Mandab, die südliche Einfahrt zum Roten Meer zwischen Somalia und Jemen, hervorgehoben beziehungsweise darauf verwiesen, daß diese von der US-Marine für den freien Handel offengehalten werden müssen. Darüber hinaus werden die wichtigsten Ressourcen aufgelistet. In der Vergangenheit wurde immer auf die verschiedenen Öllagerstätten hingewiesen. In letzter Zeit ist immer häufiger von Trinkwasser die Rede - was dessen zunehmende Knappheit und Bedeutung deutlich macht.

Die Dokumente der Neokonservativen Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre sprechen eine noch deutlichere Sprache. Unter Verweis auf die Ressourcenproblematik und die Bedeutung der Region um den Mittleren Osten und Zentralasien formulierten die Neocons die Maxime, die USA müßten ihre Führungposition dadurch verteidigen, daß sie verhindern, daß irgendein Staat zum gleichwertigen Konkurrenten, ähnlich der Sowjetunion während des Kalten Krieges, aufsteigen kann. Um dies zu gewährleisten, müsse dafür gesorgt werden, daß sich kein Staat oder Staatenblock den Zugriff auf die hierfür notwendigen Ressourcen - demographisch, infrastrukturell, militärisch oder technologisch - verschafft.

Ein Auslöser dieser Ideologie der militärischen Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen war die Tatsache, daß die USA 1997 erstmals Nettoimporteur von Öl wurden. Damals hatte man weder Fracking erfunden noch die Teersände Albertas erschlossen. Die USA sahen sich durch aufsteigende wirtschaftliche Konkurrenten wie Deutschland, Japan und vor allem China herausgefordert. Die Wirtschaft der USA nach dem Ende des Kalten Krieges war im Grunde genommen zweitklassig, was die Konkurrenzfähigkeit ihrer Industrie in verschiedenen Sektoren betrifft. Also war für die Elite in Washington die Frage vorrangig, wie die USA die anderen Großmächte dazu bringen könnten, die hegemoniale Position Amerikas weiterhin zu akzeptieren und nicht in Frage zu stellen. Als Antwort darauf wurde die Strategie entwickelt, die wirtschaftliche Schwäche der USA durch die ungeheure Überlegenheit ihres Militärs zu kompensieren.

Angefangen hat das Ganze unter Bill Clinton. Zwar ist er nicht in den Irak einmarschiert, doch während seiner Amtszeit haben die USA vom Gewicht her mehr Bomben auf das Zweistromland abgeworfen als während des gesamten Zweiten Weltkrieges in Europa. In diese Phase fielen die Aufrechterhaltung der alliierten Flugverbotszonen über dem kurdischen Norden und dem schiitischen Süden des Iraks sowie die Luftoffensive Wüstenfuchs Ende 1998 auf Regierungstellen in Bagdad und anderswo. Von außen versuchte man Saddam Hussein militärisch in die Knie zu zwingen, was aber nicht funktionierte. Die USA versteiften sich deshalb auf das Ziel "Regimewechsel" im Irak, weil das Land über gigantische Ölreserven verfügt und deshalb die Funktion übernehmen könnte, die jahrzehntelang Saudi-Arabien erfüllt hat, nämlich durch die kurzfristige Ankurbelung oder Drosselung der Ölproduktion für Stabilität auf dem Weltmarkt zu sorgen. Aus verschiedenen Gründen gab es damals Zweifel an der Zuverlässigkeit Riads: entweder weil die Macht des Königshauses in Gefahr war oder weil die saudischen Ölquellen langsam zur Neige gingen. Wegen dieser Unwägbarkeiten in den amerikanisch-saudischen Beziehungen wollte Washington den Irak wieder in den Weltmarkt einführen und die UN-Sanktionen aufheben. Doch um dies zu schaffen, mußte das Problem Saddam Hussein irgendwie beseitigt werden.

Also rückte der Irak als vielleicht wichtigster Schauplatz im gesamten "Bogen der Instabilität" in den Brennpunkt der strategischen Überlegungen Amerikas. Es ging den USA nicht darum, das Öl des Iraks zu besitzen oder zu verkaufen, sondern darum, die weltweite Ölproduktion zu kontrollieren bzw. im eigenen Sinne steuern zu können. Der Gegner in diesem Zusammenhang war der Iran, der bei der OPEC einen aus der Sicht Washingtons zu eigenständigen Kurs verfolgte. Seitdem hat sich der Iran noch weiter China angenähert, exportiert dorthin den größten Teil seines Öls und steht kurz davor, Vollmitglied der von der Volksrepublik und Rußland gegründeten Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit zu werden - worüber man in den USA gar nicht glücklich ist.

Die Shanghai Cooperation Organisation (SCO) ist in erster Linie eine wirtschaftliche Vereinigung, doch hat sie auch militärische Aspekte, die nicht unbedeutend sind. Die Existenz der SCO machte den Einmarsch der NATO 2001 in Afghanistan so bedeutsam. Natürlich hat man das mit der Jagd nach den Hintermännern der Flugzeuganschläge vom 11. September, allen voran Osama Bin Laden, begründet. Doch Afghanistan selbst ist wegen seiner geographischen Position östlich vom Iran, südlich von Rußland, westlich von China und nördlich von Pakistan ein strategisch enorm wichtiges Feld auf dem globalen Schachbrett und mußte deshalb aus Sicht Washingtons von den USA und ihren Verbündeten besetzt werden.

Noch vor 9/11 arbeitete Washington daran, die Öl- und Gasreserven Zentralasiens an Rußland vorbei auf den Weltmarkt zu bringen. Dies soll über die TAPI-Pipeline, die sich heute noch im Bau befindet und sich von Turkmenistan über Afghanistan und Pakistan bis Indien erstrecken soll, bewerkstelligt werden. Das geopolitische Streben der USA erklärt auch, warum Washington seit Jahren den Bau der IPI-Pipeline zu verhindern versucht. Mit jener Pipeline könnte der Iran über Pakistan Öl im großen Stil an Indien verkaufen. Pakistan würde Milliarden am Transitverkehr verdienen; der Iran würde seine Staatsfinanzen sanieren; Indien wäre für die Verlockungen der USA nicht mehr so empfänglich - aus Sicht Washington alles negative Entwicklungen.

Michael Schwartz im Porträt - Foto: © 2014 by Schattenblick

Im Vier-Augen-Gespräch geht man in die Details
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Wenn das Öl Ihrer Meinung nach in den strategischen Überlegungen Washingtons eine so übergeordnete Rolle spielt, haben Sie dann auch eine Erklärung dafür, warum die USA und ihre NATO-Partner nicht längst in Libyen einmarschiert sind? Dort herrscht das absolute Chaos, und entsprechend liegt der Ölexport am Boden.

MS: Sie halten sich derzeit aus demselben Grund heraus, aus dem sie 2011 den Sturz Muammar Gaddhafis nur mit Luftangriffen, aber nicht mit Bodentruppen unterstützt haben. Erstens haben die islamischen Milizen dort zu viel zu melden; es droht eine verlustreiche Besatzung. Zweitens sind die Ölreserven Libyens lange nicht so groß wie die des Iraks. Die Ölreserven Libyens werden auf 50.000 Millionen Faß geschätzt. Die nachgewiesenen Reserven des Iraks liegen bei 140.000 Millionen Faß, wobei dort weitere größere, noch nicht entdeckte Vorkommen vermutet werden.

SB: Vielleicht wollen sie warten, bis sich der Bürgerkrieg dort ausgetobt hat, oder setzen darauf, daß das neue Militärregime in Ägypten intervenieren wird?

MS: Das wäre ein Fehler, denn aus Sicht Washingtons ist die neue Regierung in Kairo völlig unzuverlässig. Jedenfalls glaube ich, daß die schlechten Erfahrungen in Afghanistan und im Irak eine heilsame Wirkung auf die Entscheidungsträger in Washington gehabt haben. Im Vergleich zu früher sind sie viel weniger bereit, US-Truppen in unüberschaubare Situationen hineinzuschicken. Sie hätten es in Venezuela nach dem gescheiterten Putschversuch 2002 gegen Hugo Chávez tun können und taten es nicht. Auch beim Aufstand der Islamisten gegen Gaddhafi haben sie sich in Zurückhaltung geübt. Und jetzt bei der Bekämpfung des IS im Irak sollen lediglich die Luftwaffe und Militärberater am Boden, aber keine Kampftruppen zum Einsatz kommen.

Ich denke, die Niederlage im Irak hat zu einer Revidierung der "Military-first"-Strategie Washingtons, also zu dem, was man heute die Obama-Doktrin nennt, geführt. Dahinter verbirgt sich der weitestgehende Verzicht auf reguläre Bodentruppen im Interventionsland zugunsten des punktuellen Einsatzes von Kampfjets, unbemannten Drohnen und Spezialstreitkräften, die man auf Schiffen oder auf Basen irgendwo regional stationiert hat und die nur für vereinzelte Operationen in das jeweilige Konfliktgebiet entsandt werden. Dies erlaubt dem Pentagon eine größere Flexibilität. Allein 2011 waren die US-Spezialstreitkräfte in mehr als 70 Ländern operativ tätig - zum Teil in geheimer Mission. Das ist eine ganze andere Art der Kriegführung, als mit einem Expeditionskorps von mehreren zehntausend Mann irgendwo einzumarschieren. Der Vorteil ist, daß man Krieg auf Distanz mit wenigen Verlusten in den eigenen Reihen führen kann. Der Nachteil ist jedoch, daß man im Konfliktgebiet zu wenig erreicht und keine dauerhafte Veränderung herbeiführen kann. Dies zeigt sich in Pakistan nach jahrelangen Drohnenangriffen auf die Taliban und aktuell nach den Luftschlägen gegen den IS im Irak und in Syrien.

SB: Könnte es sein, daß die Instabilität des Nahen Ostens den USA mehr nützt als dessen Stabilität? Schließlich gehören die arabischen Staaten am Persischen Golf, allen voran die Saudis, seit Jahren zu den wichtigsten Abnehmern milliardenteurer High-Tech-Waffen der US-Rüstungsindustrie.

MS: Man sollte den Einfluß der amerikanischen Rüstungsindustrie auf die Politik des Kongresses und des Weißen Hauses niemals unterschätzen. Israel ist mit Abstand der engste Verbündete der USA im Nahen Osten. Als das Pentagon vor rund zwanzig Jahren hochmoderne Kampfjets aus amerikanischer Produktion an Saudi-Arabien verkaufen wollte, schrie die Israel-Lobby in den USA Zeter und Mordio. Trotzdem ging das Geschäft über die Bühne. Dies zeigt, daß der Einfluß der Israel-Lobby in Washington nicht so groß ist, wie viele behaupten. Wenn es um die eigenen Interessen geht, legen sich die USA notfalls auch mit Israel an. Die Kontroverse um jenes Kampfjet-Geschäft mit Saudi-Arabien hat das verdeutlicht. Es hat auch etwas anderes demonstriert, nämlich das Streben des militärisch-industriellen Komplexes der USA, seine Position als führender Waffenlieferant in der Welt mit allen Mitteln zu verteidigen.

Letztlich muß man sagen, daß vieles, was das Pentagon im Bereich der militärischen Zusammenarbeit mit anderen Ländern betreibt - Ausbildung, gemeinsame Manöver, Wartung von Waffensystemen, Offiziersschulung in den Vereinigten Staaten et cetera - in erster Linie dazu dient, Märkte für die amerikanische Rüstungsindustrie zu erschließen und erschlossen zu halten. Wenn zum Beispiel der Kongreß in Washington Israel zwei Milliarden Dollar Militärhilfe bewilligt, handelt es sich vor allem um eine indirekte Subvention für General Dynamics, Lockheed Martin, Raytheon und wie sie alle heißen. Israel bekommt am Ende die Waffen, doch das Geld fließt in die Bilanzbücher der US-Rüstungskonzerne. Der politische Einfluß der US-Rüstungslobby und ihre erfolgreiche Vorherrschaft auf dem Weltmarkt lassen sich anhand der aktuellen Situation im Irak erkennen. Dort bekämpfen sich die regulären staatlichen Streitkräfte und die Milizionäre vom IS gegenseitig mit amerikanischen Waffen.

In Vietnam kämpften auch die Vietkong mit Waffen Made in the USA. Bekanntlich stammt ein Gutteil des Waffenarsenals der Taliban aus NATO-Beständen. Die US-Rüstungsindustrie schert sich nicht darum, wenn ihre Waffen aus irakischen Waffenlagern geplündert werden und in die Hände des IS geraten. Im Gegenteil freut sie sich auf die Nachfolgeaufträge, um die gestohlenen Waffen zu ersetzen. Daß ein Teil ihrer Waffenproduktion auf dem Schwarzmarkt verschwindet, haben sie vermutlich längst in ihr Geschäftsmodell integriert.

SB: Also lag Joseph Heller in seinem berühmten Antikriegsroman "Catch-22" mit der Figur des Kriegsgewinnlers Milo Minderbender, der als Quartiermeister auf einem US-Luftwaffenstützpunkt am Mittelmeer während des Zweiten Weltkrieges krumme Geschäfte mit der deutschen Wehrmacht in Nordafrika macht und Baumwollager in Ägypten von den eigenen Piloten bombardieren läßt, um die eigenen Profite zum maximieren, gar nicht so weit von der Realität entfernt?

MS: "Entfernt"? (lacht) Heller hat den Nagel voll auf den Kopf getroffen!

SB: Vielen Dank, Michael Schwartz, für dieses Gespräch.

Attrappe des Drohnentyps MQ-9 Reaper des US-Herstellers General Atomics - Foto: © 2014 by Schattenblick

Auf dem People's Climate March in New York wurde auch gegen Kampfdrohnen protestiert
Foto: © 2014 by Schattenblick


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