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INTERVIEW/273: Armut, Pott - Kämpfe und erwehre dich der Armutsschere ...    Joachim Rock im Gespräch (SB)


Bündnispartner gegen soziale Grausamkeiten

"Armutsspirale im Ruhrgebiet stoppen!" - Konferenz am 12. Juni 2015 in Bochum


Dr. Joachim Rock ist Leiter Soziale Sicherung und Europa beim Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e.V. in Berlin.

Rock gehörte zu den Referenten der Konferenz "Armutsspirale im Ruhrgebiet stoppen!", zu der Die Linke im Bundestag am 12. Juni nach Bochum eingeladen hatte. Am Rande der Veranstaltung beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zu den Gründen wachsender Armut, einer wünschenswerten Sozialpolitik und einem solidarischen Schulterschluß mit den Betroffenen.


Beim Vortrag am Stehpult - Foto: © 2015 by Schattenblick

Joachim Rock
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Bundesweit ist eine Zunahme der Armut zu verzeichnen. Welche Gründe gibt es dafür und warum ist der Anstieg in der sogenannten Problemregion Ruhrgebiet überproportional?

Joachim Rock (JR): Wir haben in der Tat bundesweit ein Rekordhoch an Armut. Auf Bundesebene sind 15,5 Prozent der Menschen einkommensarm, und im Ruhrgebiet stellt sich die Situation sogar noch zugespitzter dar, da sind es 19,7 Prozent, also annähernd jeder Fünfte, der von Armut betroffen ist. Das ist eine dramatische Situation. Die Ursachen sind vielfältig. Es gibt regionale Gründe - da ist sicherlich der Abbau von Industriearbeitsplätzen im Ruhrgebiet und der nicht bewältigte Strukturwandel ein wesentlicher regionaler Faktor -, aber daß die Einkommensarmut zunimmt, ist eine bundesweite Entwicklung. Und das zeigt auch, daß man sich regional nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen kann, da es sich um ein gesamtgesellschaftliches Problem handelt. Falsche sozialpolitische Weichenstellungen, eine falsche Steuerpolitik - das sind die Gründe, die wesentlich dazu beigetragen haben, daß in Zeiten großer Wohlfahrt auch die Ungleichheit erheblich gestiegen ist.

SB: Inwieweit ist die vielfach kolportierte Auffassung, Deutschland sei ein reiches Land und ein Wohlfahrtsstaat, überhaupt noch zutreffend?

JR: Ja, Deutschland ist ein reiches Land, es gibt große Vermögen und Reichtümer, aber die sind sehr ungleich verteilt. Und die Ungleichverteilung nimmt zu. Man kann in den letzten Jahren mit Hartz IV nachvollziehen, wie die Verteilungsströme zunehmend zugunsten reicher Personen, die es eigentlich nicht bräuchten, umgelenkt und ausgeweitet werden, während die Armen tatsächlich weniger bekommen. Das ist ein Verteilungskampf, der da stattfindet. Auf der einen Seite haben wir die Rente ab 63, bei der Gutverdienende jetzt noch erheblich mehr Geld bekommen. Für die anderen gibt es die Zwangsrente ab 63, das genaue Gegenteil - das sind die beiden Pole einer verfehlten Sozialpolitik in den vergangenen Jahren.

SB: Wie müßte denn die Sozialpolitik aus Ihrer Sicht aussehen, damit solche Probleme nicht auftreten?

JR: Wir brauchen eine auf Gleichheit - wie der Paritätische sie auch im Namen trägt - und Solidarität ausgerichtete Sozialpolitik, die erst einmal darauf achtet, daß - wie man ein Haus vom Keller baut - tatsächlich Einkommensarmut beseitigt wird. Daß man also ganz unten anfängt und da für genügend Geld sorgt. Es geht aus unserer Sicht nicht an, daß Kinder von gutverdienenden Eltern überdurchschnittlich gefördert werden, aber gerade Kinder aus armen Familien nicht. Eine gleiche Ausrichtung, in der sich die Ansprüche des Sozialstaates widerspiegeln, muß das Ziel sein.

SB: Der Paritätische Wohlfahrtsverband kämpft seit Jahren in diesem Sinn gegen die Armut. Wo finden Sie Bündnispartner bei anderen Verbänden und Organisationen, die am gleichen Strang ziehen?

JR: Wir haben in der Tat Bündnispartner und suchen sie auch aktiv. So arbeiten wir unter anderem mit Attac und Campact sehr erfolgreich zusammen und intensivieren diese Zusammenarbeit gerade bei TTIP. Wir haben in der Vergangenheit auch immer die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften gesucht, und meine Phantasie reicht aus, mir vorzustellen, daß man diese Zusammenarbeit gerade mit den Gewerkschaften noch intensiviert. Darüberhinaus gibt es natürlich zivilgesellschaftliche Gruppen, lokale Initiativen, Arbeitsloseninitiativen, deren Verband wir auch sind. Da sind wir fleißig dabei, aber da muß noch sehr viel mehr kommen, damit wir das, was wir vorhaben, auch tatsächlich durchsetzen können.

SB: Heute war häufig davon die Rede, Druck von unten aufzubauen. Warum gelingt das nicht in zureichendem Maße? Wie ließe sich eine Spaltung und Fragmentierung der betroffenen Menschen verhindern?

JR: Man hat den Eindruck, daß viele Menschen resigniert haben, daß sie sich in die eigenen vier Wände zurückziehen, daß sie auch die Transparenz dieses Systems vermissen und nicht mehr daran glauben, daß ihr Engagement tatsächlich etwas ändern kann. Das ist natürlich fatal, denn wir haben in unserer Arbeit erlebt, daß Engagement tatsächlich etwas ändert. Wir als Paritätischer haben beispielsweise Kinderarmut immer wieder thematisiert, obwohl man allenthalben abgewinkt hat, da gebe es nie und nimmer zusätzliche Leistungen, das komme niemals. Doch nicht zuletzt mit Unterstützung des Bundesverfassungsgerichts - steter Tropfen höhlt den Stein - gab es wenigstens leichte Verbesserungen. Das zeigt, daß gerade ein Engagement vor Ort etwas bewirken und verändern kann.

SB: Die auf dieser Konferenz angesprochene Thematik ist teilweise sehr komplex und vermutlich zunächst einmal nur für Fachleute entschlüsselbar. Wie können Sie Ihre Rolle als Mahner so in die Gesellschaft übersetzen, daß die wesentlichen Ideen auch von einer breiteren Bevölkerung verstanden werden?

JR: Es ist ein großes Problem, daß der Eindruck entsteht, es handle sich um einen Expertendiskurs. Die vielen Fachbegriffe, die komplizierten Zahlen und die rechtlichen Aspekte schrecken schon ab, sich zu engagieren. Aber da muß man ran, denn letztlich kann man tatsächlich alles in einfachen Worten darlegen. Es geht vor allem darum, den Menschen deutlich zu machen, daß es um ihre ureigenen Interessen geht, um die sie sich dann auch selbst kümmern müssen. Das das ist das ganz Wesentliche, daß man es nicht abstrakt diskutiert, sondern nahe bei den Menschen und ihren Problemen.

SB: Der deutschen Bevölkerung wird häufig nahegelegt, daß sie sich, sofern sie das Niveau ihres Lebensstandards halten möchte, auf keinen Fall mit bestimmten gesellschaftlichen Gruppen und schon gar nicht den Griechen solidarisieren dürfe. Was könnte man dem argumentativ entgegnen?

JR: Dagegen kann man einwenden, daß es mit Blick auf den solidarischen Gedanken fatal wäre, sich auseinanderdividieren und gegeneinander ausspielen zu lassen. Gerade am Beispiel Griechenland sehen wir eine verheerende soziale Situation im Land. Die Griechen brauchen und verdienen unsere Solidarität, und sich in dieser Frage spalten zu lassen, wäre in der Tat das völlig falsche Signal und würde einem letztendlich auf die Füße fallen.

SB: Wir haben heute gehört und diskutiert, daß sich die Wohlhabenden überproportional bereichern und es zwangsläufig immer mehr Arme gibt. Inwieweit spielt neben dieser Umverteilung von unten nach oben auch Repression eine Rolle, die verhindern soll, daß sich die Bevölkerung gegen diese Entwicklung zur Wehr setzt?

JR: Es gibt einen deutlich erkennbaren Druck, der mit Abschreckung arbeitet, der mit Streichung der Leistungen arbeitet. Es gibt die diversen Rechtsmittel der Sanktionen, die wir heute angesprochen haben und die aus unserer Sicht abgeschafft werden müssen. Da wird mit den verschiedensten Mechanismen Druck ausgeübt. Dadurch entsteht häufig eine Schere im Kopf, so daß die Menschen sich tatsächlich auch nicht mehr trauen, ihre berechtigten Ansprüche zu artikulieren und damit an die Öffentlichkeit heranzutreten. Gerade das brauchen wir aber.

SB: Sie haben sicher bei Ihrer Arbeit auch häufig Kontakt mit den Betroffenen. Wie läuft das praktisch ab und welche Rückmeldung bekommen Sie bei diesem Umgang mit zahlreichen mehr oder minder bedürftigen Menschen?

JR: Wir versuchen immer, Nähe zu den Menschen herzustellen, weil das für unsere Arbeit entscheidend und hilfreich ist, zumal wir überhaupt nur durch diese Nähe als Verband dann auch glaubwürdig auf Bundesebene wirken können. Das sind oftmals sehr lange Telefonate, das sind hochverzweifelte Menschen, wobei man merkt, daß es keine Ansprechpartner mehr auf lokaler Ebene gibt. Die Beratungsstrukturen sind alle unterfinanziert, so daß Menschen, die dringender Hilfe bedürfen, heute keine mehr finden. Die Kolleginnen und Kollegen, die Beratung vor Ort machen, sind häufig überlastet, dann kommt es zu einer Kette von sozialen Problemen, und man rennt immer tiefer in irgendwann ausweglose Situationen, wo es ganz schwierig wird, die Probleme zu lösen. Da brauchen wir dringend auch eine Verbesserung der Beratungsstrukturen und müssen eine Finanzierung durch die öffentliche Hand fordern und durchsetzen.

SB: Die heutige Veranstaltung könnte eine Art Brückenschlag zwischen Verbänden, Gewerkschaften und der Linkspartei sein. Verläuft die Konferenz nach Ihren Vorstellungen?

JR: Ja, ich bin sehr erfreut über die Einladung, die Veranstaltung selbst und insbesondere über die sehr lebendige Diskussion, in der nicht zuletzt viele praktische Beispiele von den Betroffenen eingebracht werden. Dieses Bündnis herzustellen, das Sie angesprochen haben, ist das berühmte Einfache, welches sehr schwer zu bewerkstelligen ist. Aber wir geben den Optimismus nicht auf, daß wir vielleicht auch in kleinen Schritten vorankommen - denn so läuft Politik eben manchmal - und dann tatsächlich Fortschritte erzielen können.

SB: Herr Rock, vielen Dank für dieses Gespräch.


Bisherige Beiträge zur Konferenz "Armutsspirale im Ruhrgebiet stoppen!" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/200: Armut, Pott - und viele Köche ... (SB)
BERICHT/201: Armut, Pott - Fruchtpressenrestverbrauch ... (SB)
INTERVIEW/272: Armut, Pott - vom meisten das wenigste ...    Christoph Butterwegge im Gespräch (SB)

18. Juli 2015


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