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INTERVIEW/394: Rückblick RAF - Konturen eines Vorbildes ...     Melanie Böttiger im Gespräch (SB)


Gespräch am 22. Oktober 2017 in Hamburg


Melanie Böttiger studiert Soziologie und Philosophie für den Bachelor und möchte im Anschluß daran den Master in Philosophie machen. Der Schattenblick fragte sie auf der Informations- und Diskussionsveranstaltung zu den im Herbst 1977 in den Knästen Stuttgart-Stammheim und München-Stadelheim tot aufgefundenen Gefangenen der RAF im Hamburger Centro sociale, welches Interesse jüngere Menschen heute an der Geschichte revolutionärer Ereignisse haben können.

Schattenblick (SB): Melanie, warum interessierst du dich für Ereignisse, die für die Linke zwar relevant sind, aber maßgeblich einige Jahre vor deiner Geburt stattgefunden haben?

Melanie Böttiger (MB): Mein Interesse daran kommt tatsächlich aus dem Studium. Ich stamme ursprünglich aus einer Region mit viel Landwirtschaft, bin also in einem sehr konservativen Umfeld aufgewachsen. Im Studienfach Soziologie ging es dann krass nach links, als wir uns mit Marx auseinandergesetzt haben. Max Weber ist zwar nicht ganz so links, aber trotzdem kapitalismuskritisch. Ich wollte dann irgendwann wissen, was es mit dieser ganzen Richtung auf sich hat und bin so auf Ulrike Meinhof gestoßen. Zum Einstieg habe ich ihre von Jutta Ditfurth verfaßte Biographie gelesen, weil ich keines von diesen üblichen Werken lesen wollte, bei denen man vorher weiß, was am Ende rauskommt. Das hat mich ganz schön gepackt und durchs Studium begleitet.

Es ist nicht so, daß mich nur die Geschichte der RAF interessiert, sondern Ulrike war eine sehr starke und produktive Persönlichkeit. Mich damit zu befassen wirkte sich auch auf mein Leben aus. Ich begann auf Demos zu gehen und wollte in einem qualitativen Seminar gerne etwas zur RAF machen, aber das hat denn wegen der Repression irgendwann nicht mehr funktioniert. Darüber habe ich verschiedene Leute kennengelernt und bin seitdem auf diesem Feld der Politik aktiv.

SB: Gab es noch andere Gründe dafür, daß dieses Thema zu einer persönlichen Angelegenheit wurde?

MB: Es hatte auch einen feministischen Hintergrund. Ich verstehe mich als Feministin und habe mich in dem Zusammenhang gefragt, wie es Frauen geben kann, die mit soviel Power und Militanz ihre politischen Ziele verfolgen. Das ist in Deutschland auch unter feministischen Frauen nicht selbstverständlich, ganz im Gegenteil. Mich hat interessiert, was das für Frauen sind und warum sie das machen. Also habe ich mir gesagt, dann mußt du dir die Schlaueste heraussuchen, und das war Frau Meinhof.

SB: Auch der Feminismus scheint sich stark verändert zu haben. So wird im Queerfeminismus kaum noch mit dem Begriff des Patriarchats gearbeitet. Wie stehst du dazu?

MB: Ja, das ist richtig. Ich war knapp zwei Jahre in einem Frauenreferat an der Universität, die im Grunde wie eine politische Gruppe agiert hat. Dort wollte ich über Verena Stefan diskutieren, die in ihrem Romandebüt "Häutungen" aus dem Jahre 1975 das Lesbischsein thematisiert und den Koitus beschrieben hat. Mein Vorschlag wurde mir um die Ohren gehauen, das könne ich nicht machen, das könnte ja Leute triggern. Daraufhin kam ich zu dem Schluß, bis hierher und nicht weiter, und habe die Gruppe verlassen. In dem Moment habe ich begriffen, daß ich wahrscheinlich eher in die zweite Welle der Frauenbewegung der 1970er Jahre gehöre, was von der Generation her wieder zu Ulrike paßt. Ulrike ist in den 50er und 60er Jahren sehr bürgerlich durchs Leben geschritten, hat sich dann aber, unter anderem in der illegalen KPD, radikalisiert.

SB: Ist Ulrike für dich eine Feministin gewesen?

MB: Ja, definitiv. Ich glaube, das Problem ist, daß das eine oder andere an gesellschaftlicher Wahrnehmung, an Ideen und Gedanken zu ihrer Person auch hinten heruntergefallen ist. Gleichwohl war für sie der antiimperialistische Kampf wahrscheinlich wichtiger als der feministische Kampf. Nun, sie kam aus der illegalen KPD und ist Kommunistin gewesen. Ich denke, der Vorwurf des Triggers aus der Gruppe zielt auf ein Sprachverbot und ist so gesehen völlig absurd.

SB: Inwiefern Sprachverbot?

MB: Es gibt gewisse Worte, die man lieber meiden sollte. An der Spitze steht natürlich das sogenannte N-Wort, also "Nigger", aus den Antira-Verhältnissen. Aber auch in feministischen Kreisen gibt es solche Worte wie zum Beispiel "Fotze", wo versucht wird, die Symbole zu verbieten, die irgendwie diskriminierend sein könnten.

SB: Das Thema Sprachregulation ist auch deshalb interessant, weil gesellschaftlich verhandelte Inhalte dadurch stark reguliert werden. So propagiert die Missy-Autorin und Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal, daß vergewaltigte Frauen von sich nicht mehr als "Opfer, sondern "Erlebende" sprechen. Ersteres sei eine Beleidigung, letzeres eröffne eine aktive Handlungsperspektiven.

MB: Ja, und das führt mit Sicherheit weg von dem, wogegen wir kämpfen und warum wir politisch wirken. Aus der Philosophie habe ich gelernt, daß man bestimmte Worte benutzen, ihnen aber einen anderen Sinn geben kann. Aber dann funktioniert die Kommunikation nicht mehr, weil sie dadurch gewissermaßen permanent unterwandert wird.

SB: Was wäre dein Gegenvorschlag dazu, worauf sollte man sich in der politischen Arbeit und Positionierung stärker beziehen?

MB: Nach Marx kommt es darauf an, sich von Entfremdung zu lösen und Produktivität oder Produktion kollektiv zu organisieren. Das ist mit Sicherheit sein Anliegen gewesen. Wenn man jetzt Lenin dazu nimmt, wird es wieder komplizierter und anders.

SB: Bei der heutigen Veranstaltung stand die Frage im Raum, was an der Geschichte der RAF für die heutige Linke von Interesse sein könnte bzw. warum es sinnvoll wäre, sich dieser Geschichte zu bemächtigen. Wie stehst du dazu?

MB: Interessant ist meiner Ansicht nach erst einmal das hohe Maß an Organisiertheit innerhalb der RAF. Erstaunlich daran ist vor allem, daß man in der Illegalität operiert und mit Sicherheit nicht immer so viele Mittel gehabt hat, wie es nach außen erschien. Trotzdem haben sie einen politischen und militanten Kampf geführt, was unter diesen Vorzeichen schon beeindruckend ist. Hinzu kommt noch die hohe Solidarität zum einen innerhalb der Organisation und zum anderen auf dem internationalen Feld, daß sich also eine politische Gruppe in der BRD und eine politische Gruppe in Frankreich und teilweise auf anderen Kontinenten solidarisch zueinander erklärten. Diesen internationalen Kampf können wir heute gar nicht mehr denken. Das ist mit Sicherheit ein Moment, das sich lohnt, von der RAF abzugucken. Ob wir das jemals wieder hinbekommen ist eine andere Frage.

SB: Wie erlebst du die herrschenden Widersprüche und gesellschaftlichen Konflikte in deinem Umfeld? Sind die Leute überhaupt noch in der Lage, sie in einer Weise zu durchdringen, daß sie zu den zentralen Machtfragen vorstoßen?

MB: Im großen und ganzen würde ich eher sagen, nein, aber es gibt immer wieder Leute, die das zwar verstehen, sich aber dennoch nicht zur Wehr setzen. Ihren Handlungen fehlt die Konsequenz. Sie gehen zur Wahlurne, und das ist das Politischste, was sie machen, und wählen immer das gleiche, obwohl sie es nicht gut finden. Das funktioniert natürlich nicht. An meiner Universität sind die meisten wahrscheinlich im Sinne Goethes Brotstudenten. Sie studieren, um einen Schein zu bekommen und später lohnabhängig arbeiten zu können. Am liebsten wären sie auf einer goldenen Insel mit einem vernünftigen Job, den sie ein Leben lang ausüben können.

SB: Die Soziologie war in den 60er Jahren eine vorwiegend gesellschaftskritische Disziplin. Heute hat man nur bedingt den Eindruck, daß sich aus einem soziologischen Studium so etwas wie eine radikale Gesellschaftskritik entwickeln könnte.

MB: Wer in der Soziologie kritisch und emanzipatorisch sein will, der findet auch heute noch Anschluß daran. Es gibt schon noch Möglichkeiten dafür, aber dieser Schritt ist nicht mehr so notwendig oder so wahrscheinlich wie in den 70ern. Damals hat man im Grunde genommen Marx immer mit im Gepäck gehabt, auch, weil die Theorien nicht so vielfältig waren und sich auf die Felder Industrie und Arbeitersoziologie konzentrierten. Das ist heute nicht mehr allzu stark vertreten, aber wer das machen will - ich betreibe selber viel Wirtschaftssoziologie -, kann daraus sicherlich einen radikalen Standpunkt zum Wirtschaftssystem erarbeiten.

SB: Bieten die materiellen Verhältnisse jüngerer Menschen aus deiner Sicht überhaupt noch Anlaß dazu, sich in antagonistischen Bewegungen zu engagieren, oder sind sie im Grunde damit zufriedengestellt, in einem Land zu leben, das zu den relativen Gewinnern im globalen Wettbewerb gehört?

MB: Das ist ja das Problem. Die Leute sind materiell so gut gestellt, daß sie in dieser Hinsicht meist keine Not leiden müssen. Das gilt auch für Studenten. Und denjenigen unter ihnen, die nicht soviel Kohle haben und nebenbei arbeiten müssen, fehlt einfach die Zeit, sich neben dem Studium mit gesellschaftskritischen Fragen auseinanderzusetzen. So kommt es zu keinem Aufbegehren, zumindest noch nicht.

SB: Glaubst du, daß jemand aus der Perspektive der Nachgeborenen, die die Ereignisse nicht direkt miterlebt haben, wirklich einen Anschluß an die Fragen herstellen kann, die damals diskutiert wurden?

MB: Nach dem Buch von Jutta Ditfurth gab es eine kleine Welle auch jüngerer Menschen, die eine Resonanz dazu entwickelt haben. Ich hatte letztes Jahr in Stuttgart eine Lesung mit Anja Röhl zu ihrem Geburtstag veranstaltet. Das Publikum war eher älter. Es waren auch einige Leute in meinem Alter darunter, die das toll fanden. Mit denen könnte ich mir auch eine politische Arbeit vorstellen. Dennoch, denke ich, ist es es definitiv schwierig.

SB: Melanie, vielen Dank für das Gespräch.

5. Dezember 2017


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