Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REPORT


INTERVIEW/461: Rojava - auch für Christen frei ...    Aziz Aygün im Gespräch (SB)


Aziz Aygün ist Mitglied der European Syriac Union, eines Dachverbandes syrisch-aramäischsprachiger politischer Organisationen und Kulturvereine in Europa. Auf der Solidaritätsdemonstration zur Verteidigung Rojavas gegen den völkerrechtswidrigen Angriff der Türkei am 12. Oktober in Hamburg [1] hob er den multiethnischen Charakter der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien hervor und erinnerte an die von genozidaler Verfolgung betroffene Geschichte der christlichen Assyrer.

Deren Dezimierung ist nicht nur dem Osmanischen Reich geschuldet, dessen Truppen 1915 im Rahmen des Armenier-Genozides auch zahlreiche Mitglieder anderer ethnischer Minderheiten umbrachten. Bis heute ist der von der Türkei ebenso wie im Falle der Armenier geleugnete Völkermord an den Aramäern, Assyrern und Chaldäern weitgehend unbekannt geblieben. Nicht vergessen werden sollte, daß auch die Kriege der NATO-Staaten zur Vertreibung und Vernichtung der ältesten christlichen Gemeinden in der Geschichte dieser Religion beigetragen haben. Ihre Lebensgrundlage im Irak und in Syrien, wo die NATO eine den Bürgerkrieg anheizende Politik des Regimewechsels verfolgte, wurde zerstört, und mit der aus der Zerstörung des Iraks resultierenden Entstehung des IS waren sie einer weiteren mörderischen Bedrohung ausgesetzt.

Die finstere Paradoxie, daß die Streitkräfte aus Staaten, deren Kulturgeschichte im Christentum verwurzelt ist, den Christengemeinden im Nahen und Mittleren Osten das Leben dort fast unmöglich gemacht haben, illustriert einmal mehr den Vorwandscharakter angeblich aus humanitären Gründen oder anderen unterstellten Werten geführter Eroberungskriege.



Im Gespräch - Foto: © 2019 by Schattenblick

Aziz Aygün
Foto: © 2019 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Sind die assyrischen Christen, für die Sie eben gesprochen haben, auch in Rojava vertreten?

Aziz Aygün (AA): Ja, Araber, Assyrer und Kurden sind sozusagen ethnische Minderheiten, die dort eine Gemeinschaft bilden.

SB: Wieviel Prozent der syrischen Bevölkerung stellen die Assyrer ungefähr?

AA: In ganz Syrien schätzt man die assyrische Bevölkerung auf bis zu 300.000 Menschen. Im Irak waren es vor zehn Jahren noch zweieinhalb Millionen, heute redet man nur noch von ungefähr 350.000 Menschen.

SB: Sind Sie in der Demokratischen Föderation Nord- und
Ostsyrien vertreten?

AA: Ja, wir sind dort auch organisiert.

SB: Wie ist das Verhältnis der Assyrer zu Assad? Gibt es auch positive Beziehungen?

AA: In den Beziehungen zu Assad hat es geschichtlich gesehen positive Elemente gegeben, aber wir wurden als Araber und nicht in unserer eigenen Identität behandelt.

SB: Warum treten Sie dafür ein, daß man das multiethnische Modell Rojava verteidigen sollte?

AA: Ohne diesen multiethnischen Zusammenhalt wird es dort keinen Frieden geben. Die dort lebenden Gruppen werden sonst von außen gegeneinander aufgehetzt, so daß es zwischen ihnen immer wieder zu Krieg kommt. Die einzige Möglichkeit ist, daß sich die dort lebenden Minderheiten in einem föderativen System zusammenschließen.

SB: Was würden Sie der Bundesregierung sagen, wenn Sie ihr Gehör fänden?

AA: Die Bundesregierung darf keine Waffen an die Türkei schicken. Es kann nicht sein, daß die Türkei mit Waffen aus Deutschland dort Menschenrechte verletzt.

SB: Herr Aygün, vielen Dank


Bei der Auftaktkundgebung der Rojava-Solidaritätsdemo vom 12. Oktober 2019 - Foto: © 2019 by Schattenblick

Der Redner vor den Fahnen der European Syriac Union
Foto: © 2019 by Schattenblick


Fußnote:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0351.html


18. Oktober 2019


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang