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ALTER/220: Kaum zukunftstauglich - das deutsche System der Pflege und sozialen Betreuung älterer Menschen (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2013

Kaum zukunftstauglich
Das deutsche System der Pflege und sozialen Betreuung älterer Menschen

Von Cornelia Heintze



Auch Deutschland sieht sich mit dem Problem der alternden Gesellschaft konfrontiert, der Bedarf an ausgebildeten Fachkräften steigt ebenso wie der finanzielle Aufwand. Diese Entwicklung bedarf aber einer Veränderung im Pflegesystem: Pflegeberufe müssen hierzulande gesellschaftlich aufgewertet und attraktiver werden - durch angemessene Löhne, moderne Pflegekonzepte, eine Verbesserung der Pflegeinstitutionen. Ein Blick nach Skandinavien könnte hilfreich sein.


Skandinavische Länder setzen bei der Pflege, Betreuung und Alltagsunterstützung älterer Menschen auf die kommunale Infrastruktur und eine Vergemeinschaftung der Kosten. Es dominiert dort professionelle Pflege gemäß individuellem Bedarf mit niedrigschwelligem Zugang. Private Anbieter, ebenso die Pflege durch Angehörige spielen eine nachrangige Rolle.

Im Gegensatz zum skandinavischen Pflegesystem folgt das deutsche einer anderen Philosophie. Statt auf qualitativ hochstehende, öffentlich finanzierte Dienste zielt es auf ein hohes Niveau an Kostenprivatisierung. Zum einen, indem die Pflegeversicherung als Teilkaskoversicherung nur einen Teil der Ausgaben deckt, zum anderen indem Angehörigen die Hauptlast zugewiesen wird, wozu auch ein sehr eng gefasster Pflegebedürftigkeitsbegriff beiträgt. Das Ziel der Geringhaltung öffentlicher Ausgaben erreicht das deutsche System, zahlt dafür aber einen hohen Preis. Ältere bleiben nicht in dem Maße gesund, wie es in Skandinavien gelingt, und die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wie auch bei den in der Langfristpflege-Beschäftigten ist hoch, einmal mit dem Pflegeangebot, dann mit den häufig schlechten Arbeitsbedingungen. Bislang hat es die Politik versäumt, die Weichen so neu zu stellen, dass ein Ausweg aus der Negativspirale erreicht und zugleich vorgesorgt wird für die Zeit, in der die Familie als größter Pflegedienst der Nation schon deshalb ausfällt, weil auch die Angehörigen, die dafür in Frage kommen, immer weniger werden. Eine an mehr als kosmetischen Verbesserungen interessierte Politik könnte vom skandinavischen Vorbild lernen.

In Deutschland haben Pflegebedürftige, zu über 80 % gehören sie zur Generation 65+, zwar einen Rechtsanspruch auf ambulante wie stationäre Leistungen, bei der Feststellung der Bedürftigkeit kommt jedoch ein starres, auf körperliche Defizite ausgerichtetes Bewertungssystem zum Einsatz. Wer in seiner Alltagskompetenz eingeschränkt ist, ohne im medizinischen Sinne pflegebedürftig zu sein, fällt durch das Raster des engen deutschen Pflegebegriffs. Die in Skandinavien von Kommunen durchgeführten Pflege-Bewertungen folgen einer anderen Philosophie. Es geht darum, dem älteren Menschen die sozialen, alltagspraktischen und medizinisch-pflegerischen Hilfeleistungen zukommen zu lassen, die für die Gesunderhaltung und ein möglichst selbstbestimmtes Leben erforderlich sind. Leistungspakete von wöchentlich wenigen Stunden sind ebenso möglich wie ein 24-Stunden-Service. Deshalb liegt der Anteil derer, die aus der Generation 65+ (Norwegen 67+) häusliche Hilfeleistungen erhalten, wie aus der Tabelle ersichtlich wird, weit über dem in Deutschland, obwohl unter den Älteren der Anteil derjenigen, die chronisch krank sind, viel niedriger liegt als in Deutschland. Deutsche Frauen, die im Jahr 2011 65 Jahre alt wurden, werden nach den Gesundheitsstrukturdaten von Eurostat nur ein Drittel der Lebensjahre, die sie noch vor sich haben, in guter Gesundheit verbringen; dänische Frauen dagegen zwei Drittel und norwegische Frauen sogar fast drei Viertel. Bei Männern verhält es sich ähnlich. Der Gesunderhaltung der Senioren dienen in Dänemark u.a. präventive Hausbesuche. Seit 2002 sind sie als kommunale Pflichtaufgabe einheitlich geregelt. Jeder Einwohner, jede Einwohnerin, der oder die ohne fremde Hilfe alleine lebt und das 75. Lebensjahr erreicht hat, erhält jährlich mindestens zwei Angebote für einen präventiven Hausbesuch. Die BürgerInnen können dazu Ja oder Nein sagen. Jeweils rund ein Drittel der potenziellen Nutzer nehmen das Angebot wahr.

In allen skandinavischen Ländern sind Pflegeleistungen im Kern kostenlos, bzw. es gibt Gutscheine, wenn sich Leistungsberechtigte für einen privaten Dienstleister entscheiden. In Finnland und Island allerdings fallen für gewisse Leistungen auch Gebühren an. Bei der Heimunterbringung existiert eine Zweiteilung: Der Staat trägt die Pflegekosten; für Unterkunft und Verpflegung müssen die Bewohner selbst aufkommen. Reicht die Rente nicht aus, springt die Gemeinde ein. Unterhaltspflichten der Angehörigen existieren nicht.

In den skandinavischen Ländern gilt der Staat, nicht die eigene Familie als für die Langfristpflege zuständige Instanz. Eine gewisse Rolle spielt Pflege durch Angehörige jedoch auch dort. In den 90er Jahren gab es in Schweden zeitweise sogar eine leichte Verschiebung in Richtung der Angehörigenpflege. Hintergrund waren Verschlechterungen beim öffentlichen Angebot, was deutlich macht, dass die Nachfrage sensibel auf Angebotsänderungen reagiert. Informell Pflegende sind in skandinavischen Ländern stark in das kommunale System integriert. Zwischen der Gemeinde und den informell Pflegenden wird ein Vertrag abgeschlossen, in dem Rahmenbedingungen und Pflegedetails niedergelegt sind. Im Gegenzug erhalten informell Pflegende Geldleistungen, die über dem liegen, was in Deutschland an Pflegegeld gezahlt wird. Die Integration von informell Pflegenden in das offizielle System kann bis zur Stellung von Ersatzarbeitsplätzen reichen; pflegende Angehörige werden dann quasi zu Gemeindebeschäftigten.

In Deutschland spielen öffentliche Träger schon traditionell nur eine geringe Rolle. Bei ambulanten Diensten liegt der Anteil konstant unter 2 %. Bei Heimen gab es in den 90er Jahren noch ein öffentliches Segment, das eine gewisse Trägerpluralität sicherte. Im Bundesdurchschnitt befanden sich 1999 11% der Heimbewohner in einer öffentlichen Einrichtung; 2009 waren es nur noch 6,5 % mit einer Spannweite zwischen rund 10% in Bayern, Baden-Württemberg und Thüringen und weniger als 3 % in Berlin, Hamburg, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und dem Saarland. Stark zugenommen hat das auf Gewinnerzielung gerichtete Segment; sein Anteil am Versorgungskuchen stieg bei ambulanten Trägern von 35,6 auf 47% und bei Heimen von 24,8 auf 35,7%. Pflege ist in Deutschland also zunehmend kommerzialisiert; auf Familie folgt nicht der Staat wie in Skandinavien, sondern der Markt.

Der Vormarsch privatgewerblicher Träger steht in engem Zusammenhang mit dem Abdrängen der Branche in den Niedriglohnsektor. Lohndumping lässt sich in den fragmentierten, kaum gewerkschaftlich erschließbaren Strukturen besonders leicht durchsetzen, was wiederum dem Ziel dient, die öffentlichen Ausgaben gering zu halten. Im skandinavischen Raum hat die Bedeutung privater Dienstleister einerseits zugenommen, andererseits jedoch konzentrieren sich diese auf wenige Regionen wie etwa den Großraum Stockholm. Aufs Ganze gesehen besteht im Heimbereich ein annäherndes kommunales Monopol fort. Im skandinavischen Durchschnitt erreichen private Träger (2010/2011) einen Versorgungsanteil von ca. 10%. Bei den häuslichen Diensten gibt es größere private Terraingewinne vorrangig bei der Haushaltshilfe.

Die Alterung der Gesellschaft bei gleichzeitig schwindenden Möglichkeiten, die Pflege- und Betreuungslast einseitig den Familien aufzubürden, bedingt, dass das Beschäftigungsgewicht der Pflegebranche steigt. Die Zahl der bei ambulanten Pflegediensten und in stationären Einrichtungen Beschäftigten stieg in Deutschland von 624.700 im Jahr 1999 auf 890.300 im Jahr 2009. Getragen wurde dieses Beschäftigungswachstum jedoch fast ausschließlich vom Wachstum an Teilzeitbeschäftigungen. 1999 waren hierzulande noch 43% vollzeitbeschäftigt, 2009 nur noch 31 %. Im skandinavischen Raum gibt es (siehe Tabelle unten) ein Vielfaches an Arbeitsplätzen in diesem Bereich. Dies resultiert aus den systemischen Unterschieden und den auch besseren Personalschlüsseln. In Norwegen kamen 1994 0,36, 2011 aber 0,59 rechnerische Vollzeitkräfte auf einen Heimbewohner.

Nach Japan und vor Italien hat Deutschland den höchsten Anteil Älterer; ein gutes Fünftel der Bevölkerung gehört zur Generation 65+. Ziemlich konträr dazu verhält es sich mit den öffentlichen Ausgaben. Die Finanzierungslücke in Relation zu Ländern mit qualitativ hochstehenden Pflegesystemen - neben den skandinavischen Ländern zählen dazu auch die Niederlande und Belgien - liegt im oberen zweistelligen Milliardenbereich. Nicht nur das Finanzierungsniveau unterscheidet Deutschland von den skandinavischen Ländern, auch die Entwicklungstendenz. Im Norden wuchsen die öffentlichen Ausgaben weit stärker als der Anteil Älterer an der Gesamtbevölkerung, in Deutschland war es umgekehrt. Die Folge: Deutschland holte nicht auf, sondern fiel weiter zurück (zu den aktuellen Finanzierungsdiskrepanzen siehe die Tabelle). Bereinigt man die Daten um die Differenzen bei der Wirtschaftskraft pro Kopf, verbleiben Mehrausgaben pro Einwohner im Alter von 65+ zwischen rund 1.300 Euro (Finnland) bis 5.000 Euro (Norwegen). Ohne die Bereitschaft der Politik, die massive öffentliche Unterfinanzierung abzubauen, bleibt Pflege ein Treiber deutscher Billigdienstleistungsökonomie mit eingebauten Verarmungsrisiko der dort Beschäftigten.


Pflege im Urteil von Bevölkerung und Pflegekräften

Angesichts der Defizite, die die Langfristpflege in Deutschland prägen, kann kaum erstaunen, dass die Bevölkerung dem eigenen Pflegesystem ein schlechtes Zeugnis aussteht. Vor einigen Jahren etwa erbrachte eine EU-weite Befragung (Eurobarometer 2007) Negativurteile, wie sie sonst nur in süd- und osteuropäischen Ländern vorkamen. Gleichermaßen mit der finanziellen Erschwinglichkeit wie auch der Qualität zeigte sich die deutsche Bevölkerung unzufrieden. 55 % der Deutschen und dem gegenüber nur 4 % der Dänen gaben an, dass sie sich häusliche Pflegeleistungen finanziell nicht leisten könnten. Bei institutioneller Pflege in Heimen waren es sogar 75% der Deutschen gegenüber 13 % der Dänen. Auch die Qualität wurde als eher schlecht eingeschätzt. Auffällig dabei war, dass die besten Bewertungen die Länder erzielten, in denen Pflege eine öffentliche Aufgabe ist und informelle Pflege nur eine geringe Rolle spielt.

Nicht besser ist es um die Zufriedenheit der Pflegekräfte mit ihren Arbeitsbedingungen bestellt. Im Vergleich von elf europäischen Ländern ("Nurses Early Exit Study" von 2005) war die Arbeitszufriedenheit in Norwegen am höchsten (85% Gesamtzufriedenheit gegenüber 46% in Deutschland). Was Deutschland prägt, ist eine Spaltung, wie sie typisch ist für marktförmige Entwicklungen: Ein Viertel der Pflegeheime brachte es auf ein Drittel Mitarbeiterzufriedenheit und weniger, ein Viertel am anderen Ende auf Zufriedenheitswerte von über 60 %.


Pflegesysteme im Vergleich zentraler Merkmale 2009/2010


Deutsch-
land
Däne-
mark
Finn-
land
Island

Norwe-
gen
Schwe-
den
Ab 65-Jährige, die professionelle
häusliche Leistungen erhalten (%)
3,0
25,6
6,4
20,8
17,3
12,5
Ab 65-Jährige, die in Heimen
versorgt werden (%)
4,2
4,8


8,1
10,3
5,8
Vollzeitäquivalent Beschäftigte
auf 1000 Ältere (65+)
37,6
119,5




198


Öffentliche Ausgaben (€)
pro Einwohner der Generation 65+
(Geld- und Sachleistungen)

1.209

6.357

2.290




10.725

6.832

Quelle: Heintze, Cornelia (2012): Auf der Highroad - der skandinavische Weg zu einem zeitgemäßen Pflegesystem, in: WISO-Diskurs der Friedrich-Ebert-Stiftung (Juli 2012), Bonn.


Cornelia Heintze ist Stadtkämmerin a. D. Sie publiziert fachübergreifend im Bereich international vergleichender Staats- und Wohlfahrtsforschung.
dr.cornelia.heintze@t-online.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2013, S. 33 - 36
herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika und Peter Struck (†)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Mai 2013