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ARBEIT/378: Herausforderungen für den Sozialstaat (spw)


spw - Ausgabe 3/2009 - Heft 171
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Flexibilität und Beschäftigung
Herausforderungen für den Sozialstaat

Von Günther Schmid


Der Wandel der Arbeitswelt und die Entwicklung der Arbeits- oder Beschäftigungsversicherung

Die moderne Arbeitswelt ist nicht mehr binär durch Beschäftigung oder Arbeitslosigkeit gekennzeichnet. Viele Menschen nehmen heutzutage im Laufe ihres Erwerbslebens mehrere oder in der Arbeitszeit variierende Arbeitsverhältnisse wahr. Diese Übergänge sind oft riskant. Darüber hinaus substituieren die Arbeitgeber zunehmend reguläre durch atypische Beschäftigungsverhältnisse. Dadurch werden die sozialen Risiken in zunehmend ungerechter Weise auf die Schwächsten in unserer Gesellschaft überwälzt. Die Risikoteilung in unserem Sozialstaat ist ungerechter geworden. Ungerechte Verteilung aber nur nachträglich durch Transferzahlungen zu kompensieren, reicht heute nicht mehr aus. Der moderne Sozialstaat gewährleistet in erster Linie den Zugang zu gleichen Lebenschancen. Er konzentriert sich nicht auf Bedarfsgerechtigkeit, sondern auf Befähigungsgerechtigkeit, d.h. auf die Befähigung aller, Autoren ihres eigenen Lebens werden zu können.

Immer mehr Menschen werden im Lebenslauf ihren Arbeitsplatz oder zumindest ihr Arbeitsverhältnis wechseln müssen. Darum liegt es nahe, nicht nur das Risiko des völligen Lohnausfalls bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit, sondern auch die Einkommensrisiken bei wechselnden Beschäftigungsverhältnissen abzudecken. Das gilt insbesondere für das Risiko der Minderung der Beschäftigungsfähigkeit im Lebenslauf.


Der Inhalt der Arbeit besteht zunehmend aus Dienstleistungen mit hohem Wissensgehalt. Wissen wird aber nicht so einfach ausgetauscht wie Waren. Beim Tausch von Wissen und Dienstleistungen spielen Kommunikation, Vertrauen in Professionalität, Zuverlässigkeit bis hin zu emotionalen Bindungen eine immer größere Rolle. Wissen ist ein kollektives, ein öffentliches Gut. In einer reinen Marktökonomie und Konkurrenzgesellschaft werde ich mich hüten, mein Wissen an Kolleginnen und Kollegen weiterzugeben, denn diese könnten mich ja morgen von meinem Arbeitsplatz verdrängen. Deshalb müssen - wie Felix Welti schon vor ein paar Jahren geschrieben hat - in den Arbeitsvertrag Regelungselemente eingeflochten werden, die aus dem bisherigen "Mietvertrag" einen "Dienstleistungsvertrag" mit wechselseitigen Mitbestimmungsrechten und -pflichten machen. Die Wissensgesellschaft braucht mehr Demokratie am Arbeitsplatz.


Es wäre daher ein Fortschritt, wenn es gelänge, die Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeits- oder Beschäftigungsversicherung weiter zu entwickeln. In einer Beschäftigungsversicherung wird nicht nur das Einkommensrisiko der Arbeitslosigkeit abgesichert, sondern auch die Einkommensrisiken bei kritischen Übergängen im Lebenslauf. Das können Übergänge zwischen bezahlter Arbeit sein, aber auch Übergänge zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit. Das ist kein revolutionärer Gedanke, der vom Schreibtisch aus erfunden wurde. Das Kurzarbeitergeld ist ja schon ein wesentliches Element einer Beschäftigungsversicherung, und wenn wir Kurzarbeit mit Qualifizierung verbinden, stärken wir die Nachhaltigkeit der Maßnahme. Wenn wir schließlich mit Qualifizierung nicht warten, bis Arbeitslosigkeit eingetreten ist, dann tun wir etwas für die Vorsorge der Beschäftigungsfähigkeit und zur Vermeidung der Arbeitslosigkeit.

Warum aber soll der Gedanke der Sozialversicherung auf weitere Erwerbsrisiken ausgedehnt werden? Dagegen spricht erst einmal, dass mit Versicherungen immer ein moralisches Risiko verbunden ist. Das heißt, wer versichert ist, neigt dazu, die Versicherung auszunutzen. Jede Versicherung fördert aber auf der anderen Seite auch vernünftig kalkulierte Risikobereitschaft. Und eine solche Bereitschaft ist nun mal für eine Wirtschaft mit hoher Innovationsdynamik und für einen entsprechend funktionsfähigen Arbeitsmarkt notwendig: beispielsweise die Bereitschaft des Lernens in der Berufstätigkeit, die Bereitschaft des Arbeitsplatz- und Berufswechsels, die Bereitschaft des Statuswechsels von der Unselbständigkeit in die Selbständigkeit, die Bereitschaft des Arbeitszeitwechsels, etwa von der Vollzeit zur Teilzeit in Kombination mit Bildung oder Pflege der Kinder oder kranken Eltern.


Das Prinzip der Befähigungsgerechtigkeit

Wie könnte eine gerechte Verantwortungsteilung der steigenden Risiken flexibler Beschäftigung aussehen?

Meine These lautet: Nicht nur Arbeit, sondern auch riskante Arbeitsübergänge müssen sich lohnen: etwa Übergänge zwischen Vollzeit und Teilzeit, zwischen abhängiger und selbständiger Beschäftigung, zwischen Bildung und Arbeit.

Diese These leitet sich aus drei Prinzipien der Gerechtigkeit ab: aus dem Prinzip ausgleichender Gerechtigkeit, dem Prinzip gerechter Verantwortungsteilung und dem Prinzip befähigender Gerechtigkeit.


Das Prinzip ausgleichender Gerechtigkeit stammt von John Rawls. Es besagt in Kürze, dass Ungleichheit nur gerechtfertigt ist, wenn sie zur Wohlfahrt aller beiträgt. Aber nicht das Glück aller ist zu maximieren, wie es die utilitaristische Philosophie predigt, sondern in erster Linie die Wohlfahrt der Benachteiligten.

Das bestätigt - vielleicht überraschend - auch die Glücksforschung, die derzeit Mode ist. Die Forscher der Neuroökonomie, der jüngste Zweig der Volkswirtschaft, stecken ihre Probanden sogar in die Röhre von Kernspintomografen, um Glücksgefühle etwa beim Angebot einer Banane zu messen. Das wenig überraschende Ergebnis: Die Banane als Objekt möglicher Lust und die Banane als Objekt mit einem Preis stimulieren unterschiedliche Gehirnregionen. Dieser Unterschied ist der Grund, dass wir oft alles andere sind als Nutzenmaximierer.


Ich kann das hier nicht weiter ausführen. Aber das überraschende und wichtige Ergebnis der modernen Verhaltensforschung ist das Fazit, dass das berühmte Eingangszitat in Tolstois Roman Anna Karenina umgekehrt werden muss. Dort heißt es: Im Glück sind alle gleich, im Unglück alle ungleich. Nach den Erkenntnissen der Neuroökonomie muss es vielmehr heißen: Im Glück sind alle ungleich, im Unglück alle gleich. Daraus folgt: Die Maximierung des Glücks von allen ist ein hoffnungsloses Unterfangen, denn alle verstehen darunter etwas anderes. Es ist die Minimierung des Unglücks, etwa infolge von Langzeitarbeitslosigkeit oder Bildungsarmut, wozu Politik etwas beitragen kann und muss.

Die moderne Verhaltensforschung weist auf zwei weitere zentrale Bedingungen für subjektive Zufriedenheit hin: erstens die Möglichkeit, die eigene Stimme bei wichtigen Entscheidungen erheben zu können, und zweitens die gerechte Teilung der Verantwortung bei Risiken.


Die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls beantwortet aber nicht die Frage, wie die Verantwortung zwischen Individuen und Gesellschaft bei der Bewältigung sozialer Risiken gerecht zu verteilen ist. Wir brauchen daher eine zweite Säule gerechter Arbeitsmarktpolitik. Diese bietet uns die Verantwortungsethik von Ronald Dworkin. Sie basiert auf zwei wichtigen Unterscheidungen: Die Risikoursache kann auf eigener Wahl oder auf externen Umständen beruhen, und die Risikobewältigung kann im Rahmen eigener Fähigkeiten liegen oder nur von anderen oder gar nur von Kollektiven wie dem Staat geleistet werden. Daraus ergeben sich vier Konstellationen gerechter Verantwortungsteilung.

Erstens die "Individuelle Verantwortung" in Konstellationen, in denen die Arbeitsmarktrisiken überwiegend Resultat persönlicher Entscheidungen sind und im Wesentlichen privat oder kollektivvertraglich versichert werden können. Der private Arbeitsvertrag kann im weitesten Sinne als Versicherungsvertrag bezeichnet werden.

Zweitens "Gesellschaftliche Solidarität" in Konstellationen, in denen das riskante Ereignis zwar durch individuelle Entscheidungen ausgelöst wurde, der Schaden für die betroffene Person jedoch so hoch ist, dass unmittelbare und bedingungslose Hilfe durch andere notwendig ist.

Drittens "Individuelle Solidarität" in Konstellationen, in denen die Risiken zwar extern verursacht werden, d.h. außerhalb der Reichweite und Einflussmöglichkeit der betroffenen Personen liegen, deren Auswirkungen aber dennoch durch individuelle Anstrengungen begegnet werden können. Dementsprechend setzt jede Arbeitslosenversicherung voraus, dass trotz Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit die Bereitschaft besteht, eigene Anstrengungen zur Vorbeugung zu unternehmen oder durch intensive Arbeitssuche und Akzeptanz zumutbarer Arbeitsplätze den selbst nicht verursachten Zustand beseitigen zu helfen.

Viertens "Staatliche Verantwortung" in Konstellationen, in denen die Risiken extern verursacht und ihre Folgen alleine oder auch durch private kollektive Verbände nicht bewältigt werden können. Die Arbeitslosenversicherung und aktive Arbeitsmarktpolitik sind klassische Beispiele dafür.

Es leuchtet ein, dass diese vier Konstellationen nur einen Rahmen für politische Reformüberlegungen hergeben können. Der politische Streit entzündet sich heute vor allem an der Reichweite der individuellen Solidarität: Inwieweit sollen Individuen für unverschuldete Risiken zur Verantwortung gezogen werden?

Eine Hilfe zur Beantwortung dieser Frage ist das Prinzip der Befähigungsgerechtigkeit, das von dem Nobelpreisträger Amartya Sen unter dem Stichwort "capability" entwickelt wurde. Danach geht es nicht so sehr um materielle Gleichheit, sondern um die gleiche Ausstattung mit einem Bündel von Ressourcen, das jeder Person erlaubt, ihre eigenen Lebenspläne zu verwirklichen. In anderen Worten: Es geht um die Balance von Freiheit und Gleichheit.


Wie heikel diese Balance ist, möchte ich in einer kleinen Auseinandersetzung mit dem häufig zitierten Philosophen Julian Nida-Rümelin belegen. In seinem Buch Demokratie und Wahrheit befasst er sich auch mit der Balance von Freiheit und Gleichheit. Es spräche vieles dafür, "von staatlicher Seite eher auf die Förderung der Fähigkeiten einerseits und die Bereitstellung der Ressourcen andererseits zu achten, denn auf die Verteilung von Wohlergehen [...]. Jeder Einzelne [...] muss sich an Verzweigungspunkten immer wieder neu entscheiden, was für ihn wirklich wichtig ist, welchem Aspekt seines Lebens er besondere Bedeutung beimisst (149)."

Nach Nida-Rümelin besteht Gleichheit deshalb nicht in der Egalisierung der von Natur aus gegebenen Ungleichheiten. Vielmehr besteht sie "in der gleichen Sicherung gegenüber existentiellen Risiken und damit in der Bereitstellung derjenigen Bedingungen, die erforderlich sind, um Autor seines eigenen Lebens zu sein. Ein wesentliches Element dieser Bedingungen ist die Planbarkeit des eigenen Lebens über besondere existentielle Situationen wie Schwangerschaft und Elternschaft, Krankheit und Invalidität, Arbeitslosigkeit und Alter hinweg."

Dem kann nur voll zugestimmt werden. Die Kontroverse entzündet sich aber an der Frage, wie eine autonome Lebensführung gewährleistet werden kann. Zum Risiko Arbeitslosigkeit schreibt Nida-Rümelin: "Personen, die jahrzehntelang in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt und die für ihr Alter und die Unterstützung ihrer Kinder vorgesorgt haben [... müssen jetzt], dank Hartz-IV, erst ihre eigene Bedürftigkeit herstellen, d.h. ihre gesamte Vorsorgeleistung über eine lange Lebensspanne vernichten, um jenseits des ersten Jahres Anspruch auf Zahlungen von Arbeitslosengeld zu haben (5. 150-152)."


In diesem Punkt hat Nida-Rümelin nur teilweise Recht. Unverständlich und ungerecht ist es, dass die Grundsicherungsleistungen nicht automatisch an die Lebenshaltungskosten angepasst werden. Ein Skandal ist es, dass ein Sachbearbeiter die Einkünfte eines bettelnden Hartz-IV Empfängers anrechnet. Auch Vorsorgeleistungen könnten großzügiger anerkannt werden, vor allem jetzt in der Krise. Es stimmt aber nicht, dass die gesamten Vorsorgeleistungen vernichtet werden müssen. Häuschen, Auto und eine angemessene Sparsumme werden nicht angetastet. Das Gerechtigkeitsproblem liegt hier vielmehr im Vorfeld. Sieben Millionen Haushalte sind verschuldet, und diese sind auch überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen. Das frühere Sozialhilferecht war in Punkt Vermögensanrechnung sogar noch weniger generös. Darüber hinaus haben erwerbsfähige Grundsicherungsempfänger jetzt Zugangsrechte zu Leistungen der aktiven Arbeitsmarktpolitik erhalten. Dass diese Rechte noch nicht zufriedenstellend umgesetzt werden, liegt unter anderem an der nach wie vor unklaren Rechtslage der Jobcenter. Es ist ein Skandal, dass die CDU/CSU - gegen ursprüngliche Verabredungen in der Großen Koalition - die notwendige Grundgesetzänderung für die anvisierten Zentren für Arbeit und Grundsicherung blockiert.

Falsch ist auch die Vorstellung, dass mit der Dauer der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung auch die Dauer der Leistungen automatisch steigen soll. Beiträge zur Arbeitslosenversicherung sind keine individuellen Sparleistungen und haben mit Befähigungsgerechtigkeit nichts zu tun. Befähigungsgerecht wäre vielmehr, die Beschäftigungsfähigkeit von älteren Arbeitslosen und damit ihre Chancen auf einen neuen Arbeitsplatz mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verbessern.


Deutschland ist das Land mit der ehrlichsten Arbeitslosenstatistik. Wer wenigstens drei Stunden am Tage arbeiten kann, zählt als erwerbsfähig und ohne Arbeitsplatz entsprechend als arbeitslos. Das Problem ist nur: wir haben daraus noch keine Konsequenzen gezogen. Bei diesem weiten Begriff von Erwerbsfähigkeit ist es absurd davon auszugehen, alle Menschen könnten auf dem so genannten "ersten Arbeitsmarkt", also auf dem Arbeitsmarkt der Biathlonathleten einen Platz finden. Die neoliberale Devise, alle Menschen fit für den Arbeitsmarkt zu machen, muss an diesem Punkte umgekehrt werden: Der Arbeitsmarkt muss fit für alle Erwerbswilligen gemacht werden! Wir brauchen keinen ersten, zweiten oder dritten Arbeitsmarkt, wir brauchen einen sozialen Arbeitsmarkt!! Das Grundprinzip guter Arbeit muss daher von der Würde des Menschen ausgehen. Das bedeutet, dass man im tieferen Sinne auch nicht von Humankapital reden kann. Denn das setzt die Möglichkeit voraus, alles - auch die menschliche Arbeit - messen zu können. Das verträgt sich nicht mit der Würde des Menschen. Unser großer Aufklärer Kant hat dazu in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten die beste Definition gegeben: "Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde."

Die diskutierten gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen erlauben es nun, so genannte gute Praktiken aus anderen Ländern einzuordnen und als verallgemeinerte Leitlinien auf unsere Verhältnisse anzupassen. Vier grundlegende Strategien lassen sich daraus ableiten:

Erstens die nachhaltige Stärkung der Beschäftigungsfähigkeit im Lebenslauf vor allem durch eine zweite Bildungschance und lebenslanges Lernen; zweitens die Inklusion neuer Risiken in das System der sozialen Sicherung durch die Universalisierung des Prinzips der Sozialversicherung; drittens die Mindestsicherung bei Einkommensrisiken durch einen gesetzlichen Mindestlohn; viertens die Erweiterung des Zugangs zu Lebenschancen durch neue Beteiligungsrechte. Das Prinzip der Befähigungsgerechtigkeit weist darauf hin, dass anstelle von Eigentum verstärkt Zugangsrechte über Lebenschancen und Freiheiten entscheiden.


Zugangsrechte in die Ökonomie des vernetzten Arbeitsmarktes

In der Ökonomie des vernetzten Arbeitsmarkts von wissensintensiven, für- und vorsorgenden Dienstleistungen hängt vieles von neuen Zugangsrechten ab. Etwa das Zugangsrecht zur öffentlichen Infrastruktur von Kinderbetreuung. Das Zugangsrecht zur Hochschule auch für qualifizierte Menschen ohne Abitur und unabhängig vom Alter. Das Zugangsrecht zu Institutionen der Weiterbildung. Dieses hängt wiederum davon ab, ob die Bedarfe der Weiterbildung auch regelmäßig erfasst, diskutiert und in Weiterbildungspläne umgesetzt werden. Also wäre auch das Recht auf Weiterbildungsberatung ein solches wesentliches neues Zugangsrecht. Im Vergleich zu einigen Nachbarländern wie Österreich und Dänemark ist auch das Recht auf generöse Weiterbildungszeiten in Deutschland noch unterentwickelt. Wir sind mit Recht immer skeptisch im Bereich generöser Transferleistungen, weil die Gefahr des moralischen Risikos hier groß ist. Diese Skepsis ist im Bereich von Zugangsrechten zu aktiven Sozialleistungen nicht angebracht.

Auf der einen Seite könnte - parallel zum Ausbau der individuellen Weiterbildungsrechte - auch die Weiterbildung des Arbeitnehmers zur Pflicht werden. Es darf - um nur ein Beispiel zu nennen - nicht sein, dass die Einrichtung einer interaktiven Tafel in der Schule daran scheitert, dass Lehrer nicht mit dieser Technologie umzugehen wissen.

Auf der anderen Seite könnte den Arbeitgebern die Pflicht zugemutet werden, angemessene und nachprüfbare Maßnahmen zur Erhaltung und Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit ihrer Belegschaft zu planen und umzusetzen. Betriebsbedingte Kündigungen wären unter solchen Bedingungen unwirksam, wenn der Arbeitnehmer nach Weiterbildungsmaßnahmen auf demselben oder einem anderen Arbeitsplatz weiter beschäftigt werden kann.


Fazit

Ein modernes System der Beschäftigungssicherung bedarf auch einer verhandelten Flexibilität und einer verhandelten Sicherheit, die durch das Arbeitsrecht gestützt wird. Ich habe den Vorschlag unterbreitet, die Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeits- oder Beschäftigungsversicherung weiter zu entwickeln. Der entscheidende Vorteil bestünde in einer Stärkung des innovativen Verhaltensrisikos. Die Bereitschaft von Arbeitnehmern wie Arbeitgebern würde steigen, in vernünftiger und kalkulierter Weise riskante Investitionsentscheidungen zu treffen. Nur unter der Bedingung neuer Sicherheiten kann die Flexibilität der Beschäftigung, also die Variation von Arbeitszeiten im Lebenslauf, die zwischenbetriebliche Mobilität und die Weiterbildung steigen. Eine Beschäftigungsversicherung würde damit nicht nur die ökonomische Wohlfahrt steigern, sondern auch dem sozialpolitischen Ziel einer größeren Autonomie und einer balancierten Gestaltung von Lebens- und Arbeitswelt näher kommen. Das Solidarprinzip würde durch eine Erweiterung der Pflichten - etwa zur Weiterbildung - auf beiden Seiten des Arbeitsvertrags gestärkt.


Dr. Günther Schmid war bis März 2008 Direktor der Abteilung Arbeitsmarktpolitik und Beschäftigung am Wissenschaftszentrum Berlin und Universitätsprofessor Emeritus für Ökonomische Theorie der Politik an der Freien Universität Berlin. (Kontakt: www.guenther-schmid.eu)

Literatur:

• Schmid, G. (2008a): Full employment in Europe. Managing Labour Market Transitions and Risk, Cheltenham, UK and Northampton, MA, USA: Edward Elgar, 385 S.

• Schmid, G. (2008b): Von der Arbeitslosen- zur Beschäftigungsversicherung. Wege zu einer neuen Balance individueller Verantwortung und Solidarität durch eine lebenslauforientierte Arbeitsmarktpolitik. Bonn: Gutachten für die Friedrich-Ebert-Stiftung (Projekt Zukunft 2020, Gesprächskreis Arbeit und Qualifizierung), 60 S.

Der gekürzte und leicht überarbeitete Beitrag wurde als Vortrag zum Programmkonvent "Fortschritt. Arbeit. Gerechtigkeit" - Bausteine für eine Zeitenwende, der DL 21 (Forum demokratische Linke) am 28./29. März in Berlin, gehalten.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 3/2009, Heft 171, Seite 14-19
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juli 2009