Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → SOZIALES

ARBEIT/477: Mehr Zeitsouveränität - für manche (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 134/Dezember 2011
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Mehr Zeitsouveränität - für manche

Langzeitkonten begünstigen Höherqualifizierte

von Philip Wotschack


Geringqualifizierte und weibliche Beschäftigte verfügen seltener über zeitliche Gestaltungsspielräume. Ihnen fehlt oft die Zeit für Weiterbildung und berufliche Weiterentwicklung. Aktuelle Betriebs- und Beschäftigtendaten geben Aufschluss darüber, inwieweit Langzeitkonten diesen Gruppen das Ansparen bezahlter Auszeiten für Weiterbildung oder eine bessere Vereinbarkeit unterschiedlicher Lebensbereiche ermöglichen. Die Ergebnisse deuten eher auf eine Verschärfung als eine Abschwächung sozialer Ungleichheiten hin und zeigen: Langzeitkonten müssen besser ausgestaltet und um weitere Arbeitszeitoptionen ergänzt werden.


Zeit zu haben gehört zur Lebensqualität: Zeit für Erwerbsarbeit, Partnerschaft, Kinder, Freunde, Erholung und Freizeit. Doch nicht jeder kann souverän über seine Zeit verfügen; die Chancen sind ungleich verteilt. Das gilt auch für die Möglichkeit, Zeit in Bildung, soziale Netzwerke oder beruflichen Aufstieg zu investieren. Wer hier nicht in hohem Maß über seine Zeit verfügen kann, dessen mittel- und langfristige Lebenschancen sind stärker eingeschränkt, vor allem bei gravierenden Ereignissen im Lebensverlauf wie der Geburt von Kindern oder der Bewältigung beruflicher Krisen. Die bestehende Forschung zeigt, dass sich geschlechts- und schichtspezifische Benachteiligungen oft negativ auf die zeitlichen Gestaltungsspielräume auswirken. Geringqualifizierte und weibliche Beschäftigte haben nicht nur häufiger niedrigere Einkommen, schlechtere Arbeitsbedingungen oder geringere Arbeitsmarktchancen, sie verfügen auch seltener über die notwendige Zeit für Erholung, Familie, Weiterbildung oder berufliche Veränderung.


Arbeitszeit im Lebensverlauf

Seit Mitte der 1990er Jahre haben unter dem Schlagwort der lebenslauf- oder lebenszyklusorientierten Arbeitszeitgestaltung neue Ansätze Eingang in die betriebliche Arbeitszeitpolitik gefunden. Sie wollen den Beschäftigten Möglichkeiten eröffnen, die Erwerbsarbeitszeit besser an die Wechselfälle des Lebens anzupassen. Dabei sollten auch für geringqualifizierte und weibliche Beschäftigte bessere Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und der beruflichen Weiterbildung geschaffen werden.

Ein wichtiges Instrument sind dabei langfristig angelegte Arbeitszeitkonten, die eine Umverteilung der Erwerbsarbeitszeit im Lebensverlauf möglich machen. Ihr Prinzip: In bestimmten Lebensphasen arbeiten Beschäftigte mehr und sparen diese Zeit auf dem Langzeitkonto an. Später können sie auf dieses Arbeitszeitkonto zurückgreifen und die vorgearbeitete Zeit nutzen, etwa für Kinderbetreuung, Pflege, Weiterbildung oder Erholung. Das Zeitguthaben wird für eine temporäre Freistellung oder Teilzeitarbeit verwendet. Einkommensverluste werden vermieden. Aus der Perspektive des Lebensverlaufs wird nicht weniger gearbeitet, die Arbeitszeit wird nur anders verteilt.

Sind solche Lebensarbeitszeitmodelle wirklich in der Lage, bestehende Benachteiligungsmuster zu durchbrechen? Die empirische Untersuchung dieser Fragen steht noch aus. Repräsentative Individualdaten zur Nutzung von Langzeitkonten liegen nicht vor. Ein Forschungsprojekt am WZB kann jedoch erste Aufschlüsse geben: Auf Basis von repräsentativen Unternehmensdaten sowie Beschäftigtendaten aus zwei Dienstleistungsbetrieben wurden Muster der ungleichen Nutzung von Langzeitkonten untersucht. Leitend war die Frage, ob Langzeitkonten neue zeitliche Gestaltungsmöglichkeiten für weibliche Beschäftigte und Beschäftigte mit niedriger beruflicher Stellung schaffen und damit zum Abbau bestehender Muster sozialer Benachteiligungen beitragen können.

Die Analysen auf Basis repräsentativer Unternehmensdaten und Fallstudien in Vorreiterunternehmen zeigen, dass bestimmte Beschäftigtengruppen eingeschränkte Zugangsmöglichkeiten haben: Beschäftigte in kleinen und mittleren Unternehmen können deutlich seltener auf ein Langzeitkonto zugreifen als Arbeitnehmer in großen Unternehmen (mit 250 und mehr Mitarbeitern). In großen Unternehmen, in denen viele Frauen beschäftigt sind, ist die Chance, dass ein Langzeitkonto existiert, wiederum signifikant kleiner als in Großunternehmen mit einem hohen Männeranteil - eine klare Benachteiligung weiblicher Beschäftigter.

Selbst in Vorreiterunternehmen mit Langzeitkonten, die in den Fallstudien ausführlicher untersucht wurden, zeigt sich, dass oft nur Beschäftigte der fest angestellten "Kernbelegschaften" Zugang zum Langzeitkonto haben, während Leiharbeiter und befristet Beschäftigte von der Nutzung ausgeschlossen sind. Vertiefende statistische Auswertungen von Beschäftigtendaten aus zwei Dienstleistungsbetrieben machen zudem deutlich, dass auch innerhalb dieser Kernbelegschaften das Langzeitkonto sehr unterschiedlich verwendet wird.


Berufsgruppen mit niedrigem Einkommen sind benachteiligt

Bei den befragten hochqualifizierten Angestellten ist das Langzeitkonto am weitesten verbreitet; bei qualifizierten Angestellten gibt es einen mittleren, bei einfachen Angestellten einen niedrigen Verbreitungsgrad. Beschäftigte mit niedrigerer Vergütung weisen zudem deutlich geringere Zeitguthaben auf bestehenden Langzeitkonten auf. Aufgrund der geringeren Vergütung ist diese Beschäftigtengruppe eher auf ein vollständiges Entgelt angewiesen, um ein ausreichendes Haushaltseinkommen erzielen zu können. Hochqualifizierte Angestellte profitieren, denn mit einer hohen beruflichen Stellung ist häufig viel unbezahlte Mehrarbeit verbunden. Das Langzeitkonto eröffnet dieser Beschäftigtengruppe die Möglichkeit, zumindest einen Teil der ohnehin anfallenden Überstunden auf dem Langzeitkonto zu sparen. Entsprechend stärker wird das Langzeitkonto genutzt. Bei den qualifizierten Angestellten (vor allem den Männern) wird es häufig als Option gesehen, um den vorzeitigen Ausstieg aus dem Erwerbsleben zu realisieren.

Beschäftigte mit einer niedrigeren beruflichen Stellung wollen die Zeit auf dem Langzeitkonto anders einsetzen. Zwar stellt der vorzeitige Ausstieg aus dem Erwerbsleben auch bei dieser Gruppe den häufigsten Verwendungswunsch dar, doch möchten sie ihr Guthaben auf dem Langzeitkonto öfter als die höher qualifizierten Angestellten für eine bezahlte Freistellung in der Familienzeit verwenden. Für die unteren Berufsgruppen zeichnet sich damit ein grundlegendes Dilemma ab: Die Nutzung des Langzeitkontos könnte für viele eine wichtige Lösung von Vereinbarkeitsproblemen darstellen, ist aber aufgrund der für ihre soziale Lage charakteristischen finanziellen und zeitlichen Restriktionen nur selten realisierbar.


Wie Frauen Langzeitkonten nutzen

In den untersuchten Betrieben ist das Langzeitkonto bei Frauen und Männern ähnlich weit verbreitet. Auch die Guthabenhöhe unterscheidet sich nicht signifikant Benachteiligungen werden allerdings sichtbar, wenn Männer und Frauen in unterschiedlichen Lebensphasen oder Vergütungsgruppen betrachtet werden. Geschlechtsspezifische Benachteiligungen bei der Nutzung des Langzeitkontos sind also nicht genereller Natur, sondern entfalten sich erst im Lebenskontext. In der mittleren Lebensphase, in der viele Beschäftigte Kinder im Haushalt zu betreuen haben, haben die befragten weiblichen Beschäftigten deutlich seltener ein Langzeitkonto als ihre männlichen Kollegen oder als Frauen in späteren Lebensphasen. Unter den Beschäftigten mit Langzeitkonto haben wiederum die weiblichen Beschäftigten mit niedriger Vergütung die geringsten Guthaben. Für Frauen entstehen Benachteiligungen bei der Nutzung des Langzeitkontos also vor allem in der Kombination mit hohen außerberuflichen Anforderungen oder bei geringerem Entgeltniveau.

In der Gruppe der hochqualifizierten Angestellten entnehmen vor allem vollzeitbeschäftigte Frauen Zeit aus dem Langzeitkonto. Es scheint für die durch Vollzeiterwerbstätigkeit und Haushalt besonders in Anspruch genommene Gruppe eine wichtige Rolle zu spielen, um ihren Alltag zeitlich zu entlasten. Frauen mit Langzeitkonto wollen das Guthaben erheblich häufiger als Männer für Weiterbildung verwenden - unabhängig von ihrer beruflichen Stellung. Offensichtlich bietet das Langzeitkonto für Frauen eine Möglichkeit, Weiterbildungsinteressen zu verfolgen, die sie aufgrund ihrer Verpflichtungen in Beruf und Familie sonst nicht wahrnehmen könnten. Dieser Befund unterstreicht erneut die wichtige Rolle, die das Langzeitkonto für die Erhaltung der Beschäftigungsfähigkeit weiblicher Beschäftigter spielen kann, die aufgrund der skizzierten Nutzungsbarrieren aber nur selten realisiert wird.

Eine langfristige Perspektive im Unternehmen ist für viele Beschäftigte eine Voraussetzung dafür, Guthaben mit dem Langzeitkonto anzusparen. Ist diese nicht gegeben, wächst das Risiko, dass der Ansparprozess oder die spätere Zeitentnahme scheitern. Mitarbeiter, die keine Beschäftigungsperspektive im Unternehmen sehen, nutzen ein Langzeitkonto daher seltener. Auch die Bereitschaft, das Zeitguthaben für Weiterbildung zu verwenden, sinkt. In der Folge bauen Beschäftigte mit hohem Arbeitsplatzrisiko seltener Guthaben auf dem Langzeitkonto auf und verfügen damit über geringere zeitliche Ressourcen für den Erhalt ihrer Beschäftigungsfähigkeit oder die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Auch hier droht damit eine Verschärfung sozialer Ungleichheit.


Das Langzeitkonto braucht Ergänzungen

In der Gesamtschau machen die Ergebnisse deutlich, dass die Möglichkeiten, mit dem Langzeitkonto Zeitguthaben aufzubauen, für bestimmte Beschäftigtengruppen eingeschränkt sind. Das gilt in erster Linie für Beschäftige mit einer niedrigeren beruflichen Stellung, aber auch für Frauen, wenn diese sich in der mittleren Lebensphase befinden oder geringes Einkommen haben. Damit zeichnet sich hinsichtlich der Wirkung des Langzeitkontos eher eine Verschärfung ungleicher Verfügungsmöglichkeiten über Zeit im Lebensverlauf ab als deren Auflösung. Die Ziele einer stärker demografie- und lebenslauforientierten Arbeitszeitgestaltung und der Erhöhung der Beschäftigungsfähigkeit von am Arbeitsmarkt benachteiligten Gruppen wie etwa Frauen oder Geringqualifizierte werden derzeit mit dem Langzeitkonto kaum erreicht. Die Verbreitung des Kontos ist bei diesen Gruppen am geringsten. Auch jüngere Beschäftigte bzw. Beschäftigte in der mittleren Lebensphase verfügen deutlich seltener über ein Langzeitkonto und weisen erheblich niedrigere Zeitguthaben auf. Damit stehen diesen Beschäftigtengruppen in geringerem Maße Zeitguthaben zur Verfügung, die sie für die die Erhaltung ihrer Beschäftigungsfähigkeit oder die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie einsetzen können.

Für die Arbeitszeitpolitik in den Unternehmen heißt das: Beschäftige aus niedrigen Qualifikations- und Einkommensgruppen und solche mit Betreuungs- oder Pflegeaufgaben (insbesondere Frauen) brauchen Unterstützung, damit sie ausreichende Zeitguthaben aufbauen können. Da es bei diesen Beschäftigten zeitliche und finanzielle Restriktionen gibt, können sich die Betriebe nicht allein auf die Einrichtung von Langzeitkonten verlassen. Hier ist die ganz Bandbreite von Handlungsansätzen und Instrumenten der Arbeitszeitgestaltung gefragt, die eine bessere Vereinbarkeit unterschiedlicher Anforderungen im Lebensverlauf ermöglichen; sie reichen von Teilzeitoptionen über Sabbaticalmodelle bis hin zur täglichen flexiblen Arbeitszeitgestaltung.

In der betrieblichen Praxis finden sich hierfür erfolgreiche Beispiele. Ein großer Automobilhersteller setzt stark auf Sabbaticals und Teilzeitoptionen. Um auch im gewerblichen Bereich und bei niedrigem Einkommen Teilzeitarbeit und Freistellungen zu ermöglichen, werden individuelle Lösungen, passend zu den Interessen und Möglichkeiten der Beschäftigten, angeboten. So können über einen längeren Zeitraum Entgeltbestandteile, Resturlaub und Guthaben aus dem Jahresarbeitszeitkonto für eine bezahlte Freistellung genutzt werden. Ein anderes Beispiel bietet eine Klinik, bei der im Dreischichtsystem gearbeitet wird. Zeiträume für außerberufliche Anforderungen werden dort durch Teilzeitoptionen und individuelle Spielräume bei der täglichen Arbeitszeitlage geschaffen. Solche Beispiele stellen bisher eher die Ausnahme dar. Sie wären innerhalb eines neuen arbeitszeitpolitischen Leitbilds weiterzuentwickeln und zu fördern.


Philip Wotschack ist seit 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Ausbildung und Arbeitsmarkt. Der in Groningen promovierte Soziologe untersucht im Projekt "Betriebliche Arbeitszeit- und Qualifizierungspolitik im Lebensverlauf" neue Handlungsansätze der demografiebewussten und lebenslauforientierten Personalarbeit von Unternehmen.
wotschack@wzb.eu


Literatur

Wotschack, Philip: "Keine Zeit für die Auszeit. Lebensarbeitszeit als Aspekt sozialer Ungleichheit" In: Soziale Welt, JG. 63, Heft 1, 2012 (im Erscheinen).

Wotschack, Philip: "Working-Time Options over the Life Course. Challenges und Company Practices". In: Ralf Rogowski/Robert Salais/Noel Whiteside (Eds.): Transforming European Employment Policy: Labour Market Transitions and the Promotion of Capability. Cheltenham/Northampton: Edward Elgar 2012 (im Erscheinen).

Wotschack, Philip/Scheier, Franziska/Schulte-Braucks, Philipp/Solga, Heike: "Zeit für Lebenslanges Lernen. Neue Ansätze der betrieblichen Arbeitszeit- und Qualifizierungspolitik". In: WSI-Mitteilungen, Jg. 64, Heft 1, 2012, S. 541-547.


*


Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 134, Dezember 2011, Seite 19-22
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wzb.eu

Die WZB-Mitteilungen erscheinen viermal im Jahr.
Der Bezug ist kostenlos.


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Januar 2012