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DISKURS/010: Fairness und Kooperation (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2010

Analyse:
Fairness und Kooperation

Von Julian Nida-Rümelin


Im Anschluss an die im Zuge der jüngsten Sloterdijk-Debatte entfachte Diskussion über Freiheit, Staat und Steuern erörtert unser Autor den Rawls'schen Fairness-Begriff, der für ein realistisches Verständnis von Mensch und Gesellschaft durch den Handlungstyp der Kooperation ergänzt werden sollte.


Die einflussreichste Theorie der politischen Gerechtigkeit, nämlich die von John Rawls (Theory of Justice, 1971), die bis heute Orientierungspunkt für ihre Anhänger, aber auch für ihre Gegner geblieben ist, stellt den Fairness-Begriff in einer ganz spezifischen und auch politisch ergiebigen Weise in den Mittelpunkt. Demnach können wir uns klarmachen, was die Gerechtigkeit eines Institutionengefüges ausmacht, in dem wir uns vorstellen, die Menschen müssten über die Auswahl einer gesellschaftlich-politisch-wirtschaftlichen Grundstruktur (basic structure) entscheiden und dabei wäre ihnen die Möglichkeit genommen, ihre eigenen Interessenlagen stärker zu berücksichtigen als die Interessenlagen anderer Personen. Rawls zentrales Argument lautet: Wenn Menschen von ihren je persönlichen Stärken und Schwächen abstrahieren, würden sie sich für ein Institutionensystem entscheiden, das zwei Bedingungen erfüllt: 1.) Gleiche maximale Freiheiten für alle garantiert und 2.) Ungleichheiten nur in dem Maße zulässt, in dem diese Ungleichheiten allen, zumal der am schlechtesten gestellten Personengruppe zugute kommen. Diese Abstraktion von eigenen Interessenlagen wird von John Rawls dadurch erzwungen, dass er eine Entscheidungssituation entwirft, in der alles relevante, ökonomische, soziale und psychologische Wissen verfügbar ist, aber kein Wissen die Situation oder die Eigenschaften der eigenen Person betreffend.


Das Rawls'sche Konzept von Gerechtigkeit als Fairness

Was Rawls hier versucht hat, ist, den unklaren Begriff der (sozialen) Gerechtigkeit über den in seinen Augen klareren Begriff der Fairness zu explizieren. Gerechtigkeit wird aus Rationalität und Fairness abgeleitet. Das Ergebnis ist im besten Sinne sozialliberal: Es betont die Autonomie des Einzelnen (Separateness of Persons), indem jedes Individuum über individuelle Rechte und Freiheiten verfügt und die Eingriffe anderer, zumal des Staates, in die eigene Lebensgestaltung beschränkt. Zum Zweiten werden die Früchte der Kooperation so verteilt, dass alle davon etwas haben und zumal die am schlechtesten gestellte Personengruppe davon profitiert.

John Rawls verfolgte mit dieser Theorie das Ziel, das normative Selbstverständnis liberal und sozial verfasster westlicher Gesellschaften herauszuarbeiten. Zu diesem Selbstverständnis gehört, dass die institutionelle Grundstruktur nicht lediglich das Ergebnis von politischen Machtkämpfen und Mehrheitsentscheidungen ist, sondern von allen Bürgerinnen und Bürgern aus einer Perspektive der Fairness befürwortet werden kann. In der Tat beruht die Legitimation durch demokratische Entscheidungsverfahren in Parlament und Regierung auf einem tieferen Konsens, ohne den die bloße Mehrheit nicht für das Ganze Entscheidungen treffen kann. Der Gesellschaftsvertrag ist Fiktion, aber die Legitimität einer politischen Ordnung hängt davon ab, dass sie als Ergebnis eines solchen Vertrages verstanden werden kann. Das Rawls'sche Modell eines solchen Vertrages ist allerdings im Vergleich zu anderen vertragstheoretischen Entwürfen der Neuzeit hochkomplex und hochabstrakt. Er hat eher den Charakter einer Explikation des Gerechtigkeitsbegriffs als einer legitimationsstiftenden Instanz. Rationale Akteure - eigeninteressiert, aber, was ihren eigenen Status angeht, uninformiert - schließen keine Verträge. Sie sind sich zwangsläufig - sofern rational - einig. Sie haben keine Interessensdivergenzen und müssen keine Verträge abschließen, um Kooperation zu sichern. Sie kooperieren nicht. Dennoch ist das Rawls'sche Konzept von Gerechtigkeit als Fairness in meinen Augen diejenige politische Theorie, die einer humanen Praxis Orientierung geben kann.


Appell an die Bürgerschaft als Ganze

Allerdings sind Modifikationen, oder wer will, mag sagen Uminterpretationen, erforderlich. Die Begründung über eigeninteressierte rationale Individuen ist schon deswegen im schlechten Sinne akademisch, weil reale Bürgerinnen und Bürger mit diesen Kunstmenschen zu wenig gemein haben. Niemand befindet sich auch nur annähernd unter einem Schleier des Nicht-Wissens (Vale of Ignorance) und niemand ist ein rational optimierender Egoist. Bürgerinnen und Bürger haben Handlungsmotive zu denen legitimerweise die Verbesserung ihres eigenen Wohls, aber auch die Rücksichtnahme auf Andere, Bereitschaft zur Kooperation und die Sorge um die eigene Autonomie gehören. Gerechtigkeit als Fairness ist als Appell an die Bürgerschaft als Ganze zu verstehen: Die öffentliche Vernunft, die Art und Weise, wie politische Gründe öffentlich abgewogen werden, sollten alle Menschen gleichermaßen im Auge haben, jeder Einzelne sollte versuchen, einen unparteiischen, eben fairen Standpunkt einzunehmen. Dieser Standpunkt äußert sich jedoch nicht darin, dass keine eigenen Interessen - einzeln oder in der Gruppe, kulturelle, soziale, politische oder ökonomische - verfolgt werden könnten, vielmehr sollte diese Interessenverfolgung im Rahmen einer institutionellen Grundstruktur erfolgen, die eine faire Form von Kooperation und Konflikt garantiert. Es ist der gemeinsame Gerechtigkeitssinn, der diese faire bzw. gerechte Grundstruktur aufzubauen und aufrechtzuerhalten erlaubt. Das konkrete Gute, wie es sich in der spezifischen Lebensform und den Gemeinschaftszugehörigkeiten manifestiert, muss sich in eine gerechte Grundstruktur einbetten. Diese Einbettung erfolgt nicht lediglich durch Sanktionen, etwa bei Gesetzesübertretungen, sondern über einen gemeinsamen Gerechtigkeitssinn. Dass die institutionelle Grundstruktur Kooperation erlaubt und Fairness sichert, ist Voraussetzung dafür, dass sich die Individuen im Einklang mit ihr verhalten.


Fairness gegen marktradikale Konzepte

Diese Form Fairness begründeter Gerechtigkeit unterscheidet sich scharf von libertären bzw. marktradikalen Konzeptionen, wonach allein die faire Konkurrenz des Marktes im Sinne gleicher Chancen und die allgemeine und gleiche Zugänglichkeit von Ämtern und Positionen ausreicht, um eine gerechte Gesellschaft zu etablieren. Der Unterschied zwischen einem libertären und einem sozialen Verständnis von Fairness hat zwei Aspekte: Für Libertäre ist der Markt das Paradigma menschlicher Interaktion. Der Staat ist bestenfalls Nothelfer. Fairness begründete soziale Gerechtigkeit dagegen weist dem Staat die Rolle einer Ordnungsmacht zu, die die Regeln setzt, nach denen gespielt wird. Die institutionelle Grundstruktur umfasst die Prinzipien und die auf diesen Prinzipien beruhenden gesetzlichen Regelungen, sowie die Rechtssprechung und muss als Ganze sicherstellen, dass die Vorteile der Kooperation fair, d.h. so verteilt sind, dass sie allen, zumal dem am schlechtesten Gestellten, zugute kommen. Der Staat hat eine Garantenpflicht nicht nur für die Ausgangsbedingungen, sondern auch für die Ergebnisse. Der noch fundamentalere Unterschied besteht jedoch darin, dass es für libertäre Fairnesskonzeptionen keine Kooperation gibt. Kooperation ist auf dem Markt nicht vorgesehen und widerspricht dem Menschenbild der libertären, wonach es keinen Gerechtigkeitssinn und keine Kooperationsbereitschaft gibt. Fairness ist als normativer Begriff unterbestimmt, er bedarf der Konkretisierung im Sinne eines kooperativen, sozialen und institutionellen Verständnisses. Die Gleichheit und Freiheit der Marktteilnehmer garantiert keine faire, kooperative und soziale Gesellschaft.


Julian Nida-Rümelin (* 1954) ist Professor der politischen Theorie und Philosophie an der Universität München und Vorsitzender der Grundwertekommission der SPD, er war Kulturstaatsminister. Veröff. u.a. Philosophie und Lebensform (Suhrkamp 2009).
Sekretariat.Nida-Ruemelin@lrz.uni-muenchen.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2010, S. 19-21
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2010