Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → SOZIALES

DISKURS/011: Sorgeökonomie als allgemeine Wirtschaftstheorie (Olympe)


Olympe Heft 30 - Dezember 2009
Feministische Arbeitshefte zur Politik

Sorgeökonomie als allgemeine Wirtschaftstheorie

Von Ulrike Knobloch


In diesem Artikel möchte ich eine Sorgeökonomie (engl.: care economics) als allgemeine Wirtschaftstheorie andenken, die sich mit bezahlter Sorgearbeit in den verschiedenen Sektoren der Erwerbswirtschaft (Unternehmen, Staat, Non-Profit-Sektor) ebenso wie mit unbezahlter Sorgearbeit in der Haus- und Versorgungswirtschaft auseinandersetzt.[1] Die unbezahlte Arbeit, die auch heute noch überwiegend von Frauen geleistet wird, wird dadurch in ihrem Umfang und ihrer Bedeutung sichtbar und systematisch in die ökonomische Theoriebildung einbezogen. Dabei ist es wichtig, zu sehen, dass es eine Vielzahl von Überlegungen gibt, die ökonomische Theorie so zu erweitern, dass der gesamte Bereich bezahlter und unbezahlter Sorgetätigkeiten mit ihren besonderen Merkmalen in die Analyse einbezogen wird.[2]

Im Folgenden werde ich meinen eigenen Zugang zu einer Sorgeökonomie skizzieren, wobei ich mich auf verschiedene andere sorgeökonomische Ansätze beziehen werde. Meine Ausgangsthese lautet, dass die Sorgeökonomie kein Randgebiet ökonomischer Theoriebildung ist, sondern ein allgemeiner Theoriebereich, der vielen anderen Wirtschaftsbereichen als Grundlage dient bzw. dienen müsste, wobei die Theoriebildung erst am Anfang steht. Ansatzpunkte meiner Sorgeökonomie als allgemeine Wirtschaftstheorie (Knobloch 2006, 2008), auf die ich im Folgenden näher eingehen werde, sind

eine Methode jenseits des in der Mainstream-Ökonomie verbreiteten methodologischen Individualismus, der von einzelnen Wirtschaftssubjekten ausgeht, ohne sich für deren soziale und institutionelle Einbettung zu interessieren,
die Bestimmung eines ökonomischen Gegenstandsbereichs, also dessen, was unter Ökonomie zu verstehen ist, und seine Erweiterung über den Marktbereich hinaus sowie
ein Handlungsmodell jenseits des am eigenen Nutzen orientierten Handelns voneinander unabhängiger Wirtschaftssubjekte.

Methode: genderbewusste Wirtschaftsethik
"[E]thical judgements are a valid, inescapable, and in fact desirable part of an economic analysis. ... [H]uman well-being should be a central measure of economic success."[3] (Power 2004: 5)

An der Methode ansetzen bedeutet sich darüber klar werden, wie wir über ökonomische Fragen nachdenken. Das Studium der Volkswirtschaftslehre in den 1980er Jahren hinterliess bei mir das schale Gefühl, dass mit dem, was ich lernte, etwas ganz grundsätzlich nicht stimmte. Erst viel später konnte ich dieses Gefühl auf den Punkt bringen: Wirtschaftstheorie ist entgegen den Behauptungen meiner damaligen Professoren (!) nicht wertfrei und auch nicht - aber darüber wurde nicht einmal in Ansätzen gesprochen - geschlechtsneutral, sondern beruht auf normativen Voraussetzungen. Um das ökonomische Denken nicht auf fragwürdige Normen und Werte zu basieren, gilt es zunächst einmal, sich diese normativen Voraussetzungen, die den ökonomischen Theorien zugrunde liegen, bewusst zu machen: zum Beispiel Effizienz, Gewinn- und Nutzenmaximierung, Orientierung an den Präferenzen sowie grenzenloses Wachstum und die als selbstverständlich zugrunde gelegte geschlechtsspezifische Arbeitsteilung oder die sozialen Ungleichheiten aufgrund von Geschlecht, Klasse und Ethnizität.

Die integrative Wirtschaftsethik, die ich in den 1990er Jahren am Institut für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen kennenlernte, ist ein Ansatz, der zum einen kritisch-reflexiv die dem Wirtschaften eigenen Normen und Werte sichtbar macht und zum anderen die Dimensionen einer lebensdienlichen Ökonomie bestimmt (Ulrich 2005). Allerdings bleiben auch bei diesem Ansatz die Kategorie Geschlecht und der ganze Bereich der unbezahlten Arbeit ausgeklammert. Deswegen entwickelte ich die integrative Wirtschaftsethik zu einer geschlechterbewussten Wirtschaftsethik weiter, die über die Voraussetzungen des Wirtschaftens in einem modernen Wirtschaftssystem reflektiert und dabei nicht die Augen davor verschliesst, dass zu den Voraussetzungen, die jedes moderne Wirtschaftssystem für seine Existenz benötigt, neben der Erwerbsarbeit auch die versorgungswirtschaftlichen Tätigkeiten gehören (Knobloch 1993).

Bei der Entwicklung einer geschlechterbewussten reflexiven Methode konnte ich auf Vorarbeiten zurückgreifen. Von zentraler Bedeutung war dabei der Bielefelder Subsistenzansatz, der mich durch seine Kapitalismuskritik und seine entwicklungspolitische Perspektive beeindruckte. Schon Ende der 1970er Jahre haben die drei Subsistenztheoretikerinnen Veronika Bennholdt-Thomsen, Maria Mies und Claudia von Werlhof die Bedeutung der Subsistenz für jedes Wirtschaftssystem hervorgehoben (Bennholdt-Thomsen et al. 1992; Bennholdt-Thomsen & Mies 1997; Mies 1990). Dadurch wurde mir klar, dass Wirtschaftssysteme als reine Subsistenzwirtschaften auch ohne Erwerbswirtschaft grundsätzlich möglich sind, dass es aber Wirtschaftssysteme ohne Subsistenz- bzw. Versorgungswirtschaft bisher noch nicht gegeben hat und solche nur schwer vorstellbar sind, da die Erwerbswirtschaft auf die Leistungen in der Versorgungswirtschaft elementar angewiesen ist (Jochimsen & Knobloch 1997).

Ein weiterer wichtiger methodischer Schritt, der auf die integrative Wirtschaftsethik zurückgeht, ist die Unterscheidung von zwei Dimensionen lebensdienlichen Wirtschaftens, die dem Effizienzdenken vorgelagert sind: Das ist zum einen die Frage nach dem Sinn des Wirtschaftens und zum anderen die Frage nach der Legitimität des Wirtschaftens (Ulrich 2005: 28 f.). Doch auch diese beiden Dimensionen des Wirtschaftens gilt es in eine geschlechterbewusste Richtung weiterzudenken.

Bei der Sinnfrage geht es um das grundlegende Ziel des Wirtschaftens: Wozu wirtschaften wir überhaupt? Dem Wirtschaften selbst kommt nur eine dienende Rolle zu, so dass auch Effizienz, Gewinn- und Nutzenmaximierung sowie das Erfüllen von am Markt geäusserten Präferenzen[4] allenfalls nachrangige Ziele sein können. Die Suche nach einem übergeordneten allgemeinen Ziel des Wirtschaftens führt uns mitten hinein in die philosophische Frage nach dem guten Leben. Eine überzeugende Antwort auf die jahrtausendealte Frage, was gutes Leben ist, ist der Fähigkeitenansatz, wie er von der Philosophin Martha Nussbaum und dem Ökonomen Amartya Sen entwickelt wurde (Nussbaum 2003, Sen 2000). Als übergeordnetes Ziel wirtschaftspolitischer Massnahmen wird danach die Erweiterung der menschlichen Fähigkeiten angesehen - verstanden als das, was Menschen in ganz grundlegender Weise tun und sein können. Die Entwicklung der Fähigkeiten von Frauen und Männern bietet auch für die Sorgeökonomie ein anzustrebendes Ziel (Benería 2008: 12 ff.). Dagegen sind die in der Mainstream-Ökonomie im Vordergrund stehenden Präferenzen eine problematische Zielgrösse, vor allem deswegen, weil in ihnen häufig eine konservative Grundhaltung durchschlägt, wodurch die Gefahr besteht, die traditionelle Rollenverteilung und die immer noch geringe Wertschätzung der versorgungswirtschaftlichen Tätigkeiten zu zementieren (Nussbaum 2003: 17).

Bei der Legitimitätsfrage geht es um die Frage nach dem gerechten Zusammenleben der Menschen: Wem nützt und wem schadet der Wirtschaftsprozess? Wer sind die GewinnerInnen und wer die VerliererInnen des wirtschaftlichen Handelns gerade auch in Zeiten weiter zunehmender wirtschaftlicher Globalisierung? Aufgrund ihrer unterschiedlichen Lebenssituationen haben der Wirtschaftsprozess und die ökonomische Globalisierung unterschiedliche Auswirkungen für Frauen und Männer (Wichterich 2003). Gleichzeitig sind Frauen und Männer keine homogenen Gruppen (Power 2004: 5). Zusätzlich zur Kategorie Geschlecht verstärken weitere Kategorien die sozialen Ungleichheiten, vor allem die Kategorien Klasse und Ethnizität, aber auch Alter, Behinderung, sexuelle Orientierung. In der Geschlechterforschung wird diesem Phänomen mit dem Begriff der Intersektionalität Ausdruck verliehen.


Gegenstandsbereich: Lebensweltökonomie
"[C]aring labor and domestic labor are vital parts of any economic system and should be incorporated into the analysis from the beginning, not shoehorned in as an afterthought."[5] (Power 2004: 4)

Durch die Sorgeökonomie wird der ökonomische Gegenstandsbereich erweitert. Was wird aber überhaupt unter Ökonomie verstanden? Grundsätzlich geht es in der Mainstream-Ökonomie um den effizienten Umgang mit knappen Mitteln, wobei als knapp vor allem Kapital, Arbeit und Boden gelten. Wohingegen neben Natur und Umwelt auch die zum Grossteil von Frauen geleistete unbezahlte Arbeit als natürliche Ressource angesehen wird, das heisst, diese in Wirklichkeit knappen Mittel erscheinen als in beliebigem Ausmass frei verfügbar.

Erst die feministische Kritik hat deutlich gemacht, dass die für unbezahlte Arbeit eingesetzte Lebenszeit ebenfalls eine knappe Ressource ist und die ökonomische Analyse um den ganzen Bereich der unbezahlten (oder schlecht bezahlten) Arbeit zu erweitern ist. Denn der "Wohlstand der Nationen" (Adam Smith) wird nicht nur in der Erwerbswirtschaft, sondern in durchaus vergleichbarer Grössenordnung auch in der unbezahlten Versorgungswirtschaft erzeugt. Dabei zählt zur Versorgungswirtschaft der gesamte Bereich des Wirtschaftens im und um den Haushalt, also insbesondere die Hausarbeit, die Betreuung und Pflege von Angehörigen, Nachbarschaftshilfe und andere Formen der Freiwilligenarbeit. Diese Tätigkeiten sind für jedes Wirtschaftssystem überlebenswichtig, so dass jede Gesellschaft ein grosses Interesse daran haben muss, dass sie bereitgestellt werden. Eigentlich ist es erstaunlich, dass die unbezahlte Haus- und Versorgungswirtschaft seit der klassischen Ökonomie des 18. Jahrhunderts in der ökonomischen Wissenschaft ein Schattendasein führt. Bei Aristoteles und seinen Nachfolgern noch Kern des ökonomischen Denkens, wird die unbezahlte Haus- und Versorgungswirtschaft bei Adam Smith, der als der Begründer der modernen ökonomischen Wissenschaft gilt, nicht mehr mitgedacht. Stattdessen verschiebt sich der Ökonomiebegriff in dieser Zeit von der Hauswirtschaft auf die neu entstehende Marktwirtschaft.

Eine nur auf die Erwerbswirtschaft bezogene Ökonomie unterliegt der Tischlein-deck-dich-Vorstellung, dass sich wie im Märchen der Tisch selbst deckt und entsprechend der Kühlschrank sich selbst füllt, das Essen sich selbst kocht, die Wäsche sich selbst wäscht und so weiter (Knobloch 2002). Diesseits der Märchenwelt sind diese Tätigkeiten jedoch ganz real von Menschen zu leisten, denn kleine Kinder können sich nicht selbst betreuen, kranke, pflegebedürftige und alte Menschen sich nicht selbst pflegen. Deshalb ist der gesamte Bereich des Wirtschaftens, der für die Versorgung der Menschen mit dem zum (guten) Leben Notwendigen zuständig ist, in den Gegenstandsbereich der Ökonomie einzubeziehen.

Analog zum Ökonomiebegriff beschränkt sich auch die weitverbreitete Vorstellung von Arbeit auf die bezahlten Tätigkeiten in der Erwerbswirtschaft. Diese hier genauer als "Erwerbsarbeit" bezeichneten Tätigkeiten sind aber nicht die einzige Form von Arbeit. Mindestens ebenso bedeutsam ist die Versorgungsarbeit, die unbezahlt im und um den Haushalt geleistet wird. Versorgungsarbeit ist für den Einzelnen wie für die Gesellschaft notwendige Arbeit. Sie ist an anderen Zielen orientiert als die Erwerbsarbeit, denn es steht nicht die Einkommenserzielung, sondern die Versorgung der Menschen mit dem zum (guten) Leben Notwendigen im Vordergrund.

Um nicht zahlreiche im Wirtschaftsleben notwendige Leistungen unberücksichtigt zu lassen, muss somit ein erweiterter Arbeitsbegriff zugrunde gelegt werden, der unter Einbezug aller gesellschaftlich notwendigen Arbeiten erwerbs- und versorgungswirtschaftliche Tätigkeiten umfasst. Arbeit wird dann von anderen Tätigkeiten nicht mehr über das Einkommen abgegrenzt, sondern mit Hilfe des Drittpersonen-Kriteriums. Ob etwas Arbeit ist oder nicht, entscheidet sich danach, ob es sich um Tätigkeiten handelt, die auch von einer dritten Person übernommen werden können - dann handelt es sich um Arbeit -, oder ob man sie selbst tun muss, um in den Genuss der Tätigkeit zu kommen - dann handelt es sich nicht um Arbeit. Nach dem Drittpersonen-Kriterium sind somit alle Aktivitäten Arbeit, die an Dritte delegiert werden können. Beispiele sind Mahlzeiten zubereiten und Wäsche waschen, denn diese Tätigkeiten können auch von anderen ausgeführt werden, Essen und Schlafen sind dagegen keine Arbeit, denn das muss jede und jeder selbst tun, um satt und ausgeschlafen zu sein. Durch empirische Untersuchungen wie Zeitbudgeterhebungen, Satellitenkonten zur Haushaltsproduktion und Freiwilligensurveys sind zum einen Umfang und Wert der unbezahlten Arbeit sichtbar gemacht worden und zum anderen, damit verbunden, die immense Bedeutung, die diese Arbeit für jede Gesellschaft hat.

Eine Wirtschaftstheorie, die sich mit der bezahlten und der unbezahlten Arbeit auseinandersetzt und beide Bereiche systematisch zusammen denkt, steht noch aus. Als ein erster Ansatz in diese Richtung ist die Lebensweltökonomie zu verstehen. Der Begriff "Lebensweltökonomie" wurde geprägt für bestehende und neue Ansätze, die die erwerbsorientierte Wirtschaftsweise in ihren lebensweltlichen Kontext einbetten und damit das gesamte wirtschaftliche Geschehen in einen gesellschaftlichen, ökologischen, historischen, räumlichen und normativen Zusammenhang stellen (Jochimsen, Kesting & Knobloch 2004). Zusätzlich in den Blick rückt dadurch der gesamte unbezahlte Bereich, in dem auch ökonomisch gehandelt wird, insofern hier Lebenszeit sowie materielle und finanzielle Ressourcen direkt oder indirekt zur eigenen oder zur Versorgung anderer Menschen eingesetzt werden. Der Lebensweltökonomie geht es um eine systematische Verbindung von erwerbswirtschaftlichen und versorgungswirtschaftlichen Tätigkeiten, wobei sie auch die Verschiebungen, die zwischen den beiden Bereichen stattfinden, in den Blick nimmt. Dabei interessiert sich die Lebensweltökonomie insbesondere für die Überschneidungen von Erwerbs- und Versorgungswirtschaft, wie Haushaltsproduktion, Eigenarbeit und Subsistenzwirtschaft, Pflege sowie andere soziale Dienstleistungen, und nimmt die Besonderheiten der Tätigkeiten in diesen Grenzbereichen in den Blick.


Handlungsmodell: sorgendes Wirtschaften
"[H]uman agency is important. ... This emphasis on agency means that questions of power, and unequal access to power, are part of the analysis from the beginning"[6] (Power 2004: 5).

Für die nur noch über das Handlungsmodell des geschlechtsneutralen Nutzenmaximierers bestimmte ökonomische Mainstream-Wissenschaft gehört alles zur Ökonomie, was durch die Brille des am eigenen Nutzen interessierten Handelnden betrachtet werden kann. Doch dieses Handlungsmodell greift überall dort zu kurz, wo es um zwischenmenschliche Entscheidungsprozesse und den verantwortlichen - und eben nicht nur effizienten - Umgang mit knappen Gütern wie zum Beispiel Zeit, Bodenschätze und Trinkwasser geht. Auch auf die Frage "Wer soll in Zukunft die für jede Gesellschaft notwendige unbezahlte Arbeit leisten?" kann der eigeninteressierte Nutzenmaximierer keine sinnvolle Antwort geben. Welche Motive sind dagegen beim sorgenden Handeln handlungsleitend? Vor dem Hintergrund der ökologischen Krise hat sich Anfang der 1990er Jahre das Netzwerk Vorsorgendes Wirtschaften - ein Netzwerk von an ökonomischen Fragen interessierten Frauen, die aus ganz verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen kommen und in vielfältigen Bereichen der Gesellschaft tätig sind - auf die Suche nach Alternativen zum verkürzten ökonomischen Handlungsmodell begeben (Busch-Lüty u.a. 1994, Biesecker 2000). Ausgehend von den speziellen Lebenszusammenhängen von Frauen, die immer noch stark in der Versorgungswirtschaft eingebunden sind, wurden die in diesem Bereich wirksamen Handlungsprinzipien herausgearbeitet. Die drei zentralen Handlungsprinzipien, die den in der Erwerbswirtschaft dominierenden entgegenstehen, sind: Kooperation statt Konkurrenz, Vorsorge statt Nachsorge und die Orientierung am zum (guten) Leben Notwendigen statt an monetären Grössen. Diese Handlungsprinzipien behalten auch in der Erwerbswirtschaft ihre Gültigkeit, und die Orientierung an ihnen fördert eine zukunftsfähige Wirtschaftsweise.

Darauf aufbauend hat die Ökonomin Maren Jochimsen (2003a, 2003b) eine Sorgetheorie entworfen, um Sorgesituationen und ihre spezifischen Kennzeichen in der ökonomischen Wissenschaft angemessen erfassen zu können. Ausgangspunkt für ihre Theorie des Sorgens bildet die Bereitstellung von Sorgetätigkeiten insbesondere für Kinder, ältere, kranke und behinderte Menschen. Um die Besonderheit von Sorgesituationen deutlich hervorheben zu können, geht sie von extremen Sorgesituationen aus, die gekennzeichnet sind durch eingeschränkte bzw. nicht vorhandene Handlungsfähigkeit und begrenzte Autonomie sowie durch sich daraus ergebende Asymmetrien und Abhängigkeiten.

Für die Bereitstellung von Sorgetätigkeiten ist es wichtig, zwei Bestandteile dieser Tätigkeiten zu unterscheiden: das instrumentelle Element, also die konkrete sorgende Tätigkeit, z.B. spezielle Handgriffe in der Pflege, und das kommunikative Element, also die ergänzende, aber ebenso wichtige Tätigkeit, die die instrumentelle Sorgetätigkeit begleitet, z.B. das Sprechen mit der umsorgten Person. Erst beide Elemente zusammen sichern als integratives Produkt die Qualität einer Sorgetätigkeit (Jochimsen 2003b: 45).

Diese Sorgetheorie misst dem Konzept der Asymmetrie zentrale analytische Bedeutung bei und macht die in der Mainstream-Ökonomie dominierenden symmetrischen Tauschverhältnisse damit zu einem Sonderfall von Asymmetrie (Jochimsen 2003b: 39). Mit der Umkehrung der Prämissen - Autonomie und Unabhängigkeit als Spezialfall, beschränkte Handlungsfähigkeit und Abhängigkeiten als Normalfall - wird ein neues Handlungsmodell umrissen, das für eine Sorgeökonomie und darüber hinaus auch für eine neue allgemeine ökonomische Theorie einen wesentlichen Ansatzpunkt liefert.


Fazit

Eine Sorgeökonomie als allgemeine Wirtschaftstheorie zeichnet sich durch eine eigenständige Methode, durch die Formulierung eines konkreten Gegenstandsbereichs und durch ein erweitertes Handlungsmodell aus. Grundlegend ist die Erkenntnis, dass wirtschaftliches Handeln weder wertfrei noch geschlechtsneutral ist und dass Effizienz ein wichtiges, aber den Fragen nach Sinn und Legitimität des wirtschaftlichen Handelns untergeordnetes Ziel ist. Der Gegenstandsbereich beschränkt sich nicht auf die marktwirtschaftlichen Zusammenhänge, sondern bezieht neben der gesamten bezahlten Erwerbswirtschaft (Unternehmen, Staat, Non-Profit-Sektor) auch die unbezahlte Versorgungswirtschaft mit ein. Das ökonomische Handeln ist weniger durch Symmetrie und Unabhängigkeit, sondern vielmehr durch Asymmetrie und Abhängigkeit geprägt. Handlungsorientierungen bieten erst nachrangig Gewinn- und Nutzenmaximierung, vorrangig aber die Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten und damit das zum (guten) Leben Nötige. Verallgemeinerungsfähiges Handeln ist nicht auf Konkurrenz, sondern auf Kooperation, nicht auf Nachsorge, sondern auf Vorsorge, nicht auf Mehrung monetärer Grössen, sondern auf ein Auskommen mit den vorhandenen Mitteln ausgerichtet. Bei jedem dieser drei Ansatzpunkte - Methode, Gegenstandsbereich und Handlungsmodell - wird deutlich, dass es sich bei der traditionellen Mainstream-Ökonomie, die auch heute noch an den Universitäten weit verbreitet ist, um einen Spezialfall handelt, während sich die Besonderheiten, von denen die Sorgeökonomie ausgeht, als Normalfall erweisen.

Vor dem Hintergrund, dass Frauen mehr und mehr in der Erwerbswirtschaft tätig sind, Männer sich bisher aber nicht in einem vergleichbaren Umfang in der Versorgungswirtschaft beteiligen, erscheint mir die Frage, wer in Zukunft welche bezahlten und unbezahlten Sorgetätigkeiten erbringen soll, als eine zentrale Herausforderung für moderne Gesellschaften. In diesem Zusammenhang gewinnen neben der Kategorie Geschlecht weitere Kategorien wie Klasse und Ethnizität zunehmend an Bedeutung. Auf der Makroebene bietet eine Sorgeökonomie als allgemeine Wirtschaftstheorie die Möglichkeit, Verschiebungen zwischen Erwerbs- und Versorgungswirtschaft, zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit zu erkennen und damit eine Grundlage für zukünftige politische Massnahmen zu schaffen. Auf der Mikroebene kann sie Anhaltspunkte geben, die Lebenszeit zwischen bezahlter Erwerbsarbeit, unbezahlter Versorgungsarbeit und Freizeit auszubalancieren, also die von mir so genannte "Work-Work-Life-Balance" herzustellen.


Anmerkungen:

[1] Anm. der Red.: Eva Klawatsch-Treitl (siehe Artikel in diesem Heft) unterscheidet fünf Sektoren, nebst den in diesem Artikel erwähnten vier Sektoren kommt dort noch der illegale/kriminelle Sektor dazu.

[2] Siehe u.a. Benería (2008), Bennholdt-Thomsen u.a. (1992), Biesecker u.a. (2000), Busch-Lüty u.a. (1994), Folbre (1995, 2001), Himmelweit (2002, 2007), Jochimsen (2003a, 2003b), Jochimsen u.a. (2004), Jochimsen & Knobloch (2006), Madörin (2006), Razavi (2007).

[3] Übersetzung: "Ethische Urteile sind ein zulässiger, unvermeidlicher und zudem wünschenswerter Teil einer ökonomischen Analyse. Menschliches Wohlbefinden sollte ein wichtiger Massstab für ökonomischen Erfolg sein."

[4] Als Präferenzen werden in der Mainstream-Ökonomie die über den Markt zum Ausdruck gebrachten Vorlieben der Menschen bezeichnet.

[5] Übersetzung: "Sorgearbeit und Hausarbeit sind wesentliche Bestandteile jedes Wirtschaftssystems und sollten von Beginn an in die Analyse einbezogen, nicht nachträglich reinbugsiert werden."

[6] Übersetzung: "Menschliches Handeln ist wichtig. Diese Betonung des Handelns bedeutet, dass von Anfang an auch Machtfragen und ungleicher Zugang zu Macht Teil der Analyse sind."


Literatur:

Benería, Lourdes (2008): The Crisis of Care, International Migration, and Public Policy, in: Feminist Economics, 14 (3), 1-21.

Bennholdt-Thomsen, Veronika & Maria Mies (1997): Eine Kuh für Hillary. Die Subsistenzperspektive, München: Frauenoffensive.

Bennholdt-Thomsen, Veronika, Maria Mies & Claudia von Werlhof (1992): Frauen, die letzte Kolonie. Zur Hausfrauisierung der Arbeit, 3. Aufl., Zürich: Rotpunktverlag.

Biesecker, Adelheid, Maite Mathes, Susanne Schön & Babette Scurrell (Hg.) (2000): Vorsorgendes Wirtschaften. Auf dem Weg zu einer Ökonomie des Guten Lebens, Bielefeld: Kleine Verlag.

Busch-Lüty, Christiane, Maren Jochimsen, Ulrike Knobloch & Irmi Seidl (Hg.) (1994): Vorsorgendes Wirtschaften. Frauen auf dem Weg zu einer Ökonomie der Nachhaltigkeit, Politische Ökologie, Sonderheft 6, München: ökom.

Folbre, Nancy (2001): The Invisible Heart. Economics and Family Values, New York: The New Press.

Himmelweit, Susan (2007): The Prospects for Caring: economic theory and policy analysis, Cambridge Journal of Economics, 31(4), 581-599.

Himmelweit, Susan (2002): Making Visible the Hidden Economy: The Case for Gender-Impact Analysis of Economic Policy, in: Feminist Economics, 8(1), 49-70.

Jochimsen, Maren A. (2003a): Careful Economics. Integrating Caring Activities and Economic Science, Boston, Dordrecht, London: Kluwer.

Jochimsen, Maren A. (2003b): Die Gestaltungskraft des Asymmetrischen - Kennzeichen klassischer Sorgesituationen und ihre theoretische Erfassung in der Ökonomie, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik 4, Heft 1: Themenschwerpunkt: Feministische Wirtschaftsethik, 38-51.

Jochimsen, Maren A., Stefan Kesting & Ulrike Knobloch (2004) (Hg.): Lebensweltökonomie. Festschrift für Adelheid Biesecker, Bielefeld: Kleine Verlag.

Jochimsen, Maren A. & Ulrike Knobloch (2006) (Hg.): Lebensweltökonomie in Zeiten wirtschaftlicher Globalisierung, Bielefeld: Kleine Verlag.

Jochimsen, Maren A. & Knobloch, Ulrike (1997): Making the Hidden Visible: The Importance of Caring Activities and their Principles for any Economy, in: Ecological Economics, Special Issue: Women, Ecology and Economics, Vol. 20/2, 1997, 107-112.

Knobloch, Ulrike (2008): Ansatzpunkte einer Sorgeökonomie als allgemeine Wirtschaftstheorie: Genderbewusste Wirtschaftsethik - Lebensweltökonomie - Vorsorgendes Wirtschaften, in: Judith Dellheim & Günther Krause (Hg.): Für eine neue Alternative. Herausforderungen einer sozialökologischen Transformation. Berlin: Karl Dietz Verlag, 162-176.

Knobloch, Ulrike (2006): Was ist Ökonomie? Genderbewusste Wirtschaftsethik - Vorsorgendes Wirtschaften - Lebensweltökonomie, in: Carola Möller, Ursula Peters & Irina Valley (Hg.): Dissidente Praktiken. Erfahrungen mit herrschafts- und warenkritischer Selbstorganisation, Königstein Ts.: Ulrike Heimer Verlag, 206-211.

Knobloch, Ulrike (2002): Kooperation in der feministischen Wirtschaftsethik, in: Adelheid Biesecker, Wolfram Elsner & Klaus Grenzdörffer (Hg.): Kooperation und interaktives Lernen in der Ökonomie, Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 151-171.

Knobloch, Ulrike (1993): Eine andere Wirtschaftsethik? Die Bedeutung der Frauenfrage für die Begründung einer grundlagenkritischen Wirtschaftsethik, Beiträge und Berichte des Instituts für Wirtschaftsethik 59, St. Gallen.

Madörin, Mascha (2006): Plädoyer für eine eigenständige Theorie der Care-Ökonomie, in: Torsten Niechoj & Marco Tullney (Hg.): Geschlechterverhältnisse in der Ökonomie, Marburg: Metropolis, 277-297.

Mies, Maria (1990): Patriarchat und Kapital. Frauen in der internationalen Arbeitsteilung, 3. Aufl., Zürich: Rotpunktverlag.

Nussbaum, Martha C. (2003): Frauen und Arbeit. Der Fähigkeitenansatz, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik 4, Heft 1, 8-31.

Power, Marilyn (2004): Social Provisioning as a Starting Point for Feminist Economics, in: Feminist Economics, 10 (3), 3-19.

Razavi, Shahra (2007): The Political and Social Economy of Care in a Development Context. Conceptual Issues, Research Questions and Policy Options, Gender and Development Programme Paper Number 3, Genf: UNRISD.

Sen, Amartya (2000): Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München/Wien: Hanser.

Ulrich, Peter (2005): Zivilisierte Marktwirtschaft. Eine wirtschaftsethische Orientierung, Freiburg, Basel, Wien: Herder.

Wichterich, Christa (2003): Femme global. Globalisierung ist nicht geschlechtsneutral, Hamburg: VSA-Verlag.


Autorin:

Ulrike Knobloch, Dr. oec., Oberassistentin mit Schwerpunkt Gender am Departement Sozialwissenschaften der Universität Freiburg, Schweiz, und Lehrbeauftragte für Wirtschaftsethik und Gender-Studies an der Universität St. Gallen. Sie hat das Netzwerk "Vorsorgendes Wirtschaften" mitbegründet und ist an der Herausgabe der Buchreihe "Lebensweltökonomie" beteiligt.


*


Quelle:
Olympe Heft 30 - Dezember 2009, Seite 27-36
Feministische Arbeitshefte zur Politik
Herausgeberinnen: Redaktion "Olympe"
Untermättli 4, 8913 Ottenbach (Schweiz)
E-Mail: Bestellungen@olympeheft.ch
Internet: www.olympeheft.ch

Olympe erscheint in der Regel zweimal jährlich.
Einzelheft: Fr. 21,-- (+ Versand)
Abonnement für 2 Ausgaben: Fr. 40,--


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juli 2010