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DISKURS/017: Grundeinkommen - An der kurzen Leine (RUBIN)


RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Winter 2012
Ruhr-Universität Bochum

An der kurzen Leine

Welche Haltungen sich in der Diskussion um ein bedingungsloses Grundeinkommen zeigen



Wie würde unser Gemeinwesen aussehen, wenn niemand mehr arbeiten gehen müsste? Wenn jeder vom Staat ein Grundeinkommen ohne jegliche Verpflichtung zur Gegenleistung bekäme und gut davon leben könnte? Würde dieses Modell die Bürger zum Müßiggang anstiften und die deutsche Wirtschaft in der Folge zusammenbrechen? Oder wäre genau das Gegenteil der Fall, und die Menschen würden ihre Autonomie verstärkt nutzen, um sich - in Form von verschiedenen Tätigkeiten - neben anderem mehr für das Gemeinwesen einzusetzen? Seit 2004 ist in Deutschland eine öffentliche Debatte über die Frage entbrannt, welche Folgen die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) hätte. Der Sozialwissenschaftler Dr. Sascha Liebermann analysiert die unterschiedlichen Haltungen, die in der Debatte zutage treten, in seinem Projekt "Solidarität und politische Vergemeinschaftung".


Das BGE ist ein Einkommen, das der Staat jeder Person zahlt - "von der Wiege bis zu Bahre". Die Bedingungslosigkeit besteht darin, dass für dieses Einkommen keine Gegenleistung in Form von Erwerbsarbeit oder anderweitigen Tätigkeiten gefordert wird. Auch spielt es keine Rolle, ob die Person über privates Vermögen verfügt, also eigentlich finanziell abgesichert ist. Das BGE ist so hoch, dass damit zum einen die Existenz gesichert, zum anderen eine gesellschaftliche Teilnahme möglich ist (z.B. dadurch, dass sich die Person einen Computer leisten kann, um sich auf diesem Wege zu informieren). Neben dem BGE kann die Person erwerbstätig sein, ist aber in der Lage - weil ihre Existenz bereits finanziell abgesichert ist -, sich ihren Job "freier" auszusuchen.

Solch ein Szenario ruft sofort Kritiker auf den Plan: Wer soll das alles in Zeiten leerer Kassen bezahlen? Wird Deutschland dann nicht von einer Einwanderwelle erfasst? Sascha Liebermann schaut sich Standpunkte und Argumente in der öffentlichen Diskussion genau an. Im Mittelpunkt seiner Untersuchung stehen dabei die sogenannten "Habitusformationen" - das bedeutet so viel wie "Haltungen zur Welt". Liebermann erklärt: "Jedes Individuum erwirbt in seinem sozialisatorischen Bildungsprozess eine Haltung zur Welt, die sich in seinem gesamten Handeln ausdrückt. Wie geht er zum Beispiel mit Problemen um, wie deutet er gesellschaftliche Zusammenhänge?

"Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus."
Grundgesetz, Artikel 20 (2)

Dabei geht es nicht nur um eine inhaltliche Position, sondern auch darum, wie sie artikuliert wird." Liebermann untersucht also - vereinfacht gesprochen -, welche Positionen es in der BGE-Diskussion gibt und was für ein Selbstverständnis als Gemeinwesen sich daraus ableiten lässt.

Als der Vorschlag vor einigen Jahren aufkam, ein BGE einzuführen (Info), gab es noch vehemente Einwände, zum Beispiel, dass ein BGE neoliberal sei, sagten die einen, die anderen hielten es für kommunistisch. "Inzwischen hat sich der Ton in der Diskussion versachlicht", sagt Sascha Liebermann. Ein Hauptargument gegen das BGE ist nach wie vor, dass die Bürger zum Nichtstun verleitet würden, wenn sie "einfach so" - also ohne Gegenleistung - Geld bekämen. Dahinter steckt die Befürchtung, dass niemand mehr einer Erwerbstätigkeit nachgehen würde, wenn er nicht müsste. Das spiegelt eine ganz bestimmte Haltung zur Welt wider: Die Bürger gehen nur und vor allem anderen fürs Geld arbeiten.

Aber ist das wirklich so? Gehen wir nicht doch automatisch eine Bindung mit unserem Job ein - selbst wenn er nicht immer Spaß macht und wir manchmal alles hinwerfen möchten? Liebermann ist sich da sicher: "Selbst da, wo der Beruf nur Einkommenslieferant ist, ist für die Bewältigung einer Aufgabe ein Mindestmaß an Identifizierung notwendig." Forschungsergebnisse schon aus der Entwicklungspsychologie und der Soziologie aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, aber auch Liebermanns eigene bestätigen, dass jegliche Initiative von außen gefördert werden kann (z.B. durch Geld), sie aber letztlich vom Individuum ausgeht. So lässt sich auch erklären, dass sich so viele Menschen ehrenamtlich in Vereinen und Wohltätigkeitsorganisationen engagieren oder ihre Angehörigen zuhause pflegen (Abb. 2) - ohne dass sie dafür jemals einen Cent bekommen. Anscheinend ist hier nicht Geld der Beweggrund, sondern der Wunsch, etwas Sinnvolles aus seinem Leben zu machen.


Abb. 2: Jahresvolumen bezahlter und unbezahlter Arbeit: Schon heute umfassen die unbezahlten Tätigkeiten (z.B. Haus- und Gartenarbeit, Pflege, Betreuung, Ehrenamt) mehr Stunden als die bezahlte Arbeit.


Milliarden Stunden
1992
2001
Unbezahlte Arbeit
Erwerbsarbeit
Wegezeiten für Erwerbsarbeit
102
59
10
96
56
10


Sascha Liebermann stößt in der BGE-Debatte immer wieder auf diesen Widerspruch: Einerseits basiert das Gemeinwesen schon heute auf freiwilligem Engagement, nicht zuletzt in der Loyalität der Bürger zum Gemeinwesen, das nicht durch Geld entlohnt wird, andererseits befürchten Kritiker, dass sich niemand mehr engagieren würde, gäbe es ein BGE. Einerseits wird dem Bürger durch das deutsche Grundgesetz größtmögliche Autonomie zugesprochen, ja sogar abverlangt ("Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus"), andererseits traut man ihm nicht zu, diese sinnvoll zu nutzen. "Als Forscher möchte ich natürlich den Beleg dafür haben, dass es solch ein Phänomen heute schon gibt", sagt Sascha Liebermann. In seinem Material sei er bislang nicht auf einen derartigen Habitus gestoßen. Ganz im Gegenteil: "Die Suche danach, mit seinem Leben etwas anzufangen, ist in der Regel bei jedem vorhanden. Nur nimmt sie nicht immer die Formen an, die gemeinhin gewünscht sind - insbesondere dann, wenn jemand seine Erfüllung außerhalb der Erwerbstätigkeit findet, sich zum Beispiel dafür entscheidet, für seine Kinder zu Hause zu bleiben" (Abb. 3).

Für den Sozialwissenschaftler wirft dieser Widerspruch zwischen den tatsächlichen Lebensverhältnissen (Abb. 4) und dem Misstrauen in die Autonomiefähigkeit der Bürger interessante Fragen auf: Was bedeutet es zum Beispiel langfristig für das Fundament der Demokratie, wenn die Bürger einerseits ausdrücklich dazu aufgerufen sind, sich einzubringen, ihnen andererseits aber ständig abgesprochen wird, dass sie dazu in der Lage sind? "Diese Infantilisierung von Erwachsenen ist eine sehr allgemeine Entwicklung, die sich in allen Bereichen finden lässt. Es gibt eine ständige Sorge darum, dass die Leute einem entgleiten könnten, dass es so zu einem Ordnungsverlust kommt", so Liebermann. Alles gehe hin zur Standardisierung als Form von Entmündigung - zum Beispiel in Gestalt des Bachelor-/Mastersystems an den Universitäten oder der Sanktionen, mit denen Hartz-IV-Empfänger "bestraft" werden. Die Befürchtung, dass die Bürger mit der neuen Freiheit nicht umgehen könnten, kommt übrigens nicht nur aus den Reihen der BGE-Gegner, sondern auch aus denen der - Befürworter: Das zeigt sich daran, dass Letztere Gegenleistungen für das BGE einfordern, zum Beispiel in Form einer Bildungspflicht.

"Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft."
Gerhard Schröder, Interview in der BILD-Zeitung, 5.4.2001

Im Gegensatz zur Quantitativen Forschung, die mit hoch aggregierten, von jeglicher Spur individuierten Lebens befreiten Massendaten operiert - also auf standardisierten Befragungen von Tausenden von Personen basiert -, arbeitet Sascha Liebermann fallrekonstruktiv. Das bedeutet, dass er Material benutzt, das das Leben hervorbringt. Dazu gehören Reden (z.B. von Politikern), Zeitungsartikel, Radio- und Fernsehsendungen, aber auch offene Interviews, die Liebermann mit ausgewählten Personen führt, und Stellungnahmen in öffentlichen Diskussionsveranstaltungen. Massendaten hält Sascha Liebermann für seine Arbeit für zu grob: "Bei diesen Daten weiß man nie genau, wie sie erhoben wurden - und was beispielsweise dabei nicht erhoben wurde."

Das Projekt ist eine Kooperation zwischen der Forschungsgruppe Psychologie der Arbeit am Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften (ZOA) der ETH Zürich und der Juniorprofessur Qualitative Methoden der Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum und für den Zeitraum von Juni 2010 bis 2013 angelegt. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die BGE-Diskussion sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz.    mv


info

Das BGE in der öffentlichen Diskussion

Der Begriff des bedingungslosen Grundeinkommens lässt sich bis in die 1960er-Jahre zurückverfolgen. In den USA prägte der Sozialpsychologe Erich Fromm die Rede vom "Guaranteed Income", zeitgleich griff der Ökonom Milton Friedman die Idee der Negativen Einkommenssteuer auf. In Deutschland wurde das BGE Anfang der 1980er-Jahre durch die sogenannte Existenzgeldgruppe zum Thema; 1982 veranstaltete die Deutsche Gesellschaft für Soziologie einen Kongress zum Thema "Krise der Arbeitsgesellschaft", bei dem auch einige Vorträge zum Grundeinkommen gehalten wurden. Die Debatte fand damals in einem ausschließlich wissenschaftlichen Kontext statt; mit der Wiedervereinigung verschwand sie komplett. Wiederbelebt wurde sie Anfang der 2000er-Jahre, als die Hartzgesetze kurz vor der Einführung standen und der Satz von Alt-Kanzler Gerhard Schröder "Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft" noch in der Luft lag. Sascha Liebermann, der damals in Frankfurt lebte, fühlte sich als Bürger aufgerufen, etwas dagegen zu unternehmen. Forschungsergebnisse aus gemeinsamen Projekten mit Kollegen ebneten den Weg dazu, sich mit dem Vorschlag eines Grundeinkommens akademisch zu befassen. Doch Forschung ist das eine, was Liebermann strikt trennt von dem anderen: dem öffentlichen Engagement. Er gründete mit vier Kollegen die Initiative "Freiheit statt Vollbeschäftigung", um das Thema in die Öffentlichkeit zu tragen. "Wir haben es als Rückschritt empfunden, noch mehr auf Erwerbstätigkeit zu setzen", erinnert er sich. Innerhalb eines Jahres baute die Gruppe eine Website auf, auf der sie ihre Thesen zum BGE veröffentlichte. Zunächst ohne Reaktion: "Wir hatten kein Geld, niemand kannte uns, wir waren Greenhorns von der Uni", so Liebermann. Die öffentliche Wahrnehmung nahm Ende 2003 merklich zu, als die Gruppe - finanziert durch auch unerwartete Spenden aus dem Bekanntenkreis - Plakate in Frankfurt aufhängen ließ, auf denen sie für das BGE warben. "Es kamen sehr schnell empörte E-Mails, wenig später klopften die ersten Redaktionen an", erzählt Liebermann. Es folgten Interviews für den WDR, FAZ, taz, Frankfurter Rundschau, Deutschlandfunk etc. Bis 2006 bezogen alle deutschen Parteien zur Idee eines BGE Stellung; Forschungsinstitute, Interessenverbände der Wirtschaft und Gewerkschaften legten ihre Expertisen vor. Seitdem ist das BGE nicht mehr aus der öffentlichen Diskussion wegzudenken: Personen wie Götz Werner, Gründer und Geschäftsführer des dm-drogerie markt, der ehemalige thüringische Ministerpräsident Dieter Althaus, Die Linke-Bundesvorsitzende Katja Kipping und nicht zuletzt die Piratenpartei haben sich für das BGE medienwirksam starkgemacht.

Weitere Informationen: www.freiheitstattvollbeschaeftigung.de


Im Internet unter www.rub.de/rubin erklärt Sascha Liebermann im Interview, wie man sich die Einführung eines BGE in Deutschland konkret vorstellen kann, wie es finanziert werden könnte und welchen Einfluss eine Einführung auf das Familienleben hätte.

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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. 1, S. 42:
Tägliches Brot: Sein Material findet Sascha Liebermann unter anderem in Zeitungen. Wenn ihm ein besonders interessanter Aspekt über den Weg läuft, schreibt er direkt eine Notiz dazu - oder veröffentlicht einen Blog-Eintrag auf seiner Seite www.freiheitstattvollbeschaeftigung.de. "Wenn ich einen Gedanken erst einmal aufgeschrieben habe, dient mir das gewissermaßen als Modell, das ich später wieder verwenden kann", sagt er.

Abb. 3, S. 44 oben:
Für viele Väter ist es unter den momentanen Bedingungen undenkbar, ihre Arbeit zugunsten der Kinderbetreuung aufzugeben. Die Einführung eines BGE könnte das ändern: "So wird schlicht die Möglichkeit geschaffen, sich offen zu fragen, wie man zur Aufgabe der Elternschaft steht", sagt Sascha Liebermann.

Abb. 4, S. 44 unten:
Während das Arbeitsvolumen in den vergangenen Jahrzehnten gesunken ist (links), nimmt die Zahl der Erwerbstätigen zu (Mitte). Das bedeutet, dass die Arbeit anders verteilt wird - dass es also mehr Teilzeitarbeit gibt. Gleichzeitig steigt das Bruttoinlandsprodukt (rechts). "Die Wertschöpfung erfasst im Bruttoinlandsprodukt wächst also", sagt Sascha Liebermann. "Da stellt sich natürlich die Frage: Was machen wir mit den Möglichkeiten, mehr Lebenszeit anderen Dingen widmen zu können?" Diese Frage ist deswegen so schwer zu beantworten, weil die Orientierung an der Erwerbstätigkeit sich sogar verstärkt hat.

Den Artikel mit Bildern finden Sie im Internet im PDF-Format unter:
http://www.ruhr-uni-bochum.de/rubin/rubin-herbst-2012/pdf/beitrag7.pdf

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Quelle:
RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Winter 2012, S. 42-45
Herausgeber: Rektorat der Ruhr-Universität Bochum
in Verbindung mit der Stabsstelle Strategische PR
und Markenbildung der Ruhr-Universität Bochum
Anschrift: Stabsstelle Strategische PR und Markenbildung
der Ruhr-Universität Bochum, 44780 Bochum
Telefon: 0234/32-26 952, Fax: 0234/32-14 136
E-Mail: rubin@rub.de
Internet: www.rub.de/rubin/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. März 2013