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FAMILIE/229: Fremde Familien - Welche Ängste das multikulturelle Zusammenleben behindern (DJI)


DJI Bulletin 4/2009, Heft 88
Deutsches Jugendinstitut e.V.

Fremde Familien

Von Barbara Thiessen


Viele öffentliche Debatten kreisen um das Thema Integration. Doch wie unterschiedlich zugewanderte Familien ihren Lebensalltag gestalten, bleibt meist unberücksichtigt. Welche Vorurteile und Ängste das multikulturelle Zusammenleben behindern.


Was ist unser Bild von Normalität, wenn es um Familien geht? Am Beispiel der »Lindenstraße« lässt es sich vielleicht erahnen: In Deutschlands berühmtester Fernsehserie, die in der Stadt München spielt, sind Fälle von Trennung, Scheidung oder Kriminalität stark überrepräsentiert. Familien mit Migrationshintergrund kommen hingegen deutlich seltener vor als in der Realität: Haben in der »Lindenstraße« von derzeit 14 Familien nur drei Migrationshintergrund, also lediglich ein Fünftel, so liegt der tatsächliche Anteil in München bei 35 Prozent (BAMF 2009).

Was sich an der »Lindenstraße« verdeutlichen lässt, offenbart sich auch in öffentlichen Diskussionen: Die Situation von Migrationsfamilien wird meist als Sonderfall betrachtet (BMFSFJ 2000). Tatsächlich hat in Westdeutschland aber fast jede dritte Familie Migrationshintergrund (30 Prozent), in den neuen Ländern sind es 14 Prozent (Statistisches Bundesamt 2008). Zu diesen Familien zählen alle Eltern-Kind-Gemeinschaften, bei denen mindestens ein Elternteil eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzt oder die deutsche Staatsangehörigkeit beispielsweise durch Einbürgerung erhalten hat.


Die Missachtung der kulturellen Vielfalt

Empirische Studien zeigen, wie heterogen die Lebenslagen der Familien mit ausländischen Wurzeln in Deutschland sind. Unterschiede gibt es besonders zwischen den Einwanderungsgenerationen, den Herkunftsländern (der Eltern oder Großeltern) und den sozialen Milieus. Obwohl sich die Integrationsdebatte häufig auf türkischstämmige Mitbürger konzentriert, kommt lediglich knapp ein Viertel der zugewanderten Familien aus der Türkei. Etwa ein Fünftel stammt dagegen aus Osteuropa, ein weiteres Fünftel aus süd- oder westeuropäischen Ländern (Statistisches Bundesamt 2009).

Entsprechend der Herkunft unterscheiden sich auch die Lebensformen. Türkische Familien halten besonders stark an traditionellen Mustern fest: 92 Prozent der Eltern sind verheiratet, was die Quote in allen anderen Einwanderungsgruppen übertrifft. In einheimischen Familien sind lediglich 79 Prozent der Eltern ein Ehepaar, die übrigen gelten als alleinerziehend oder als Lebensgemeinschaft. Doch auch in der Bevölkerung mit Migrationshintergrund finden sich überraschend viele Alleinerziehende. Ihr Anteil ist beispielsweise bei afrikanischen, amerikanischen und zum Teil auch osteuropäischen Zuwanderern sogar höher als in der einheimischen Bevölkerung (Statistisches Bundesamt 2009).

Bundesweit gelten 14 Prozent der Familien als armutsgefährdet (Statistisches Bundesamt 2009). Laut den Ergebnissen der Sinus-Milieu-Studie finden sich Menschen mit Migrationshintergrund zwar in fast allen sozialen Milieus, allerdings sind sie in der Unterschicht und in der unteren Mittelschicht stärker repräsentiert. Die nationale Herkunft allein ist dabei aber offenbar weniger bestimmend als vielmehr der Bildungsgrad und der einstige Heimatort: Je höher das Bildungsniveau und je urbaner die Herkunftsregion, desto leichter und besser gelingt laut der Untersuchung die Integration (Wippermann 2007).

Diese wenigen Daten zur sozialen Lage und zu den Lebensformen und Herkunftsländern von Migrationsfamilien in Deutschland zeigen: »Die« Migrationsfamilie gibt es nicht. Bereits im sechsten Familienbericht wird deshalb die Rhetorik, die die Unterschiede der Migrantinnen und Migranten zur Mehrheitsgesellschaft akzentuiert und Exotisches betont, als eine »Folklore des Halbwissens« (BMFSFJ 2000) kritisiert. Das jüngste Beispiel hierfür lieferte Thilo Sarrazin bei einem Interview mit der Kulturzeitschrift »Lettre International« im Herbst 2009. Das Vorstandsmitglied der Bundesbank und früherer Berliner Finanzsenator warf darin Türken und Arabern vor, sich der Integration zu verschließen und hat unter anderem gesagt: »Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert.« Laut einer anschließenden Emnid-Umfrage stimmte die Hälfte der Bevölkerung dieser Aussage zu.


In der Welt zu Hause 
 Woher zugewanderte Familien in Deutschland stammen, in Prozent
Türkei
22
Asien oder Australien
11
Afrika oder Amerika
5
Osteuropa
18
Süd- oder Westeuropa
20
keine Angaben
24

Quelle: Statistisches Bundesamt 2009



Hartnäckige Mythen der Migration

Wissenschaft und Politik wissen bisher sehr wenig über den vielfältigen Lebensalltag in Migrationsfamilien, was die Bildung von Vorurteilen und Mythen begünstigt. Zudem sind die Debatten über die Integration dieser Familien oft stark geprägt von den Vorstellungen über die Familie, die in der einheimischen Kultur vorherrschen. Diese Verknüpfung wird in Bezug auf Migrationsfamilien selten thematisiert und noch seltener wissenschaftlich untersucht. Die möglichen Implikationen sind jedoch nicht zu unterschätzen. Deshalb sollen sie an dieser Stelle entlang der wenigen gesicherten Erkenntnisse veranschaulicht werden.

Empirische Studien - wie etwa jene der Erziehungswissenschaftlerin Merle Hummrich (2009) oder der türkischen Psychologin Çigdem Kagitçibasi (2007) - weisen darauf hin, dass Migrationsfamilien mit einem »doppelten Familienmythos« belegt sind. Demnach schreiben Einheimische den Zuwanderern einen vormodernen Lebensstil zu, der sich durch traditionelle, geschlechtliche Arbeitsteilungsmuster und einen engen, häufig auch emotionalen und körperbetonten Zusammenhalt auszeichnet. Diese Annahme rührt von einem (meist nicht bewusst thematisierten) Autonomie-Ideal der westlich-europäischen Kultur: Sich selbst als abhängig von Beziehungen zu sehen, scheint ambivalent konnotiert zu sein und wird daher bei den fremden Familien stark problematisiert oder auch idealisiert.

Der »Familienmythos« wird aber auch durch die Migrantinnen und Migranten selbst verstärkt. Oft weisen sie auf die »besonderen« Bindungen in ihrer Familie und deren verlässlichen Zusammenhalt hin (Hummrich 2009). Dahinter verbirgt sich möglicherweise eine Ambivalenz: Weil nichtdeutsche Menschen hierzulande mehr auf die Verlässlichkeit in der eigenen Familie angewiesen sind, fällt es ihnen schwer, Brüche im Familienleben einzugestehen. Längst finden sich allerdings Hinweise darauf, dass die hohe Arbeitsbelastung und unterschiedliche Wohnorte dazu führen, dass sich auch Migrantinnen und Migranten kaum mehr real als Familie erleben (Thiessen 2007). Hier bedarf es aber noch einer genauen Untersuchung der Alltagspraxis von Müttern, Vätern, Großeltern, Kindern und weiteren relevanten Verwandten in Migrationsfamilien. Dabei stehen in Anlehnung an den theoretischen Ansatz von »Doing Family« (Jurczyk/Lange 2002) unter anderem die Fragen im Mittelpunkt, wie Migrantinnen und Migranten konkret Gemeinsamkeit im Familienleben herstellen und wie die soziale Situation und Bildungshintergründe die alltägliche Praxis beeinflussen.


Zwischen Angewiesenheit und Autonomie

Neuere empirische Studien deuten darauf hin, dass Migrationsfamilien über Generationen hinweg komplexe Ausbalancierungsprozesse zwischen Angewiesenheit und Autonomie bewältigen müssen. Diese sind massiv von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beeinflusst (Gogolin/Nauck 2000, Gomolla/Radtke 2002, Hamburger 2005, Hummrich 2009). So kann die Mitarbeit eines türkischen Jugendlichen im elterlichen Betrieb beispielsweise nicht nur Ausdruck eines restriktiven Familienzusammenhalts sein, sondern auch Folge der gescheiterten Arbeitsplatzsuche. Zwar ist jede Familie Modernisierungsprozessen ausgesetzt, denn die Vorstellungen der Eltern sind gegenüber den Heranwachsenden in aller Regel kulturell »veraltet« (Hamburger/Hummrich 2007). Aber die familiale Reorganisation wird unter Bedingungen der Migration noch komplizierter. Denn die Entscheidung zur Migration beinhaltet immer den Wunsch der Verbesserung der Lebenslage in einem System, das durch Leistung Aufstieg verspricht. Damit befinden sich die Eltern selbst in einem umfassenden Veränderungsprozess.

Die generationsübergreifende Arbeit am sozialen Aufstieg erweist sich in empirischen Studien insbesondere dann als schwierig, wenn die Eltern gescheitert sind und durch die Orientierung an traditionellen Mustern wieder Halt suchen (Hamburger/Hummrich 2007). Die zweite Generation soll dann einerseits den sozialen Aufstieg verwirklichen, sich anderseits aber nicht von der Tradition entfernen. Diese paradoxe Erwartung verkompliziert sich noch durch diskriminierende Erfahrungen am deutschen Bildungsmarkt, der gleiche Chancen bei gleicher Leistung verspricht, aber Migrantinnen und Migranten nicht selten benachteiligt.


Integration gelingt nur im Familienverbund

Deutlich wird: Belastbare Aussagen über Familien mit Migrationshintergrund erfordern eine intersektionelle Perspektive, also einen Ansatz, der kulturelle Bedingungen, soziale Milieus und Geschlechterdifferenzen zusammenführt. Integrationspolitik braucht deshalb ein selbstkritisches Nachdenken über Familie. Bisher hat sie allerdings meist nur einzelne Familienmitglieder im Blick: beispielsweise Kleinkinder mit Sprachdefiziten, Schüler mit Lernproblemen oder straffällige Jugendliche. Selbst im Nationalen Integrationsplan wird Familie bisher nicht als systematisches Element berücksichtigt. Bleibt sie aber eine »black box«, drohen Integrationsangebote etwa im Bildungs- und Ausbildungsbereich ins Leere zu laufen. Zumindest zeigen integrierte Ansätze aus der Familienbildung und -beratung, dass der Einbezug von Familienzusammenhängen zu nachhaltigeren Ergebnissen führt.

Integration gelingt deshalb am besten im Familienverbund, weil die Kinder ansonsten häufig in den Konflikt zwischen gesellschaftlichen Anforderungen und den Idealen ihrer Eltern geraten. Emotionale Anerkennung ist allerdings eine wesentliche Basis für gelingendes Aufwachsen. Integration von Kindern und Jugendlichen kann daher nicht gegen die Familie erzielt werden, auch der Bildungserfolg ist »in die durch die Eltern vermittelten Haltungen eingelagert« (Hummrich 2009). Einzubeziehen ist dabei unbedingt die große Anzahl der Verwandtschaftsbeziehungen neben den Eltern und Großeltern, die in vielen Migrationsfamilien zum alltäglichen Familienleben dazu gehören. Hierzu braucht es allerdings zunächst ein profundes Wissen über »Doing Family-Prozesse« unter Bedingungen der Migration.


Die Sozialpädagogin und Supervisorin Dr. Barbara Thiessen ist Grundsatzreferentin in der Abteilung »Familie und Familienpolitik« des Deutschen Jugendinstituts (DJI).

Kontakt: thiessen@dji.de


Literatur:

Alt, Christian (Hrsg.; 2006): Kinderleben - Integration durch Sprache? Bedingungen des Aufwachsens von türkischen, russlanddeutschen und deutschen Kindern. Kinderleben - Band 4. Wiesbaden

Büchner, Peter / Fuhs, Burkhard / Krüger, Heinz-Herrmann (1997): Transformation der Eltern-Kind-Beziehungen? Facetten der Kindbezogenheit des elterlichen Erziehungsverhaltens in Ost- und Westdeutschland. Kindheit, Jugend und Bildungsarbeit im Wandel. Ergebnisse der Transformationsforschung. Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik, S. 35-52

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) (2009): Grunddaten der Zuwandererbevölkerung in Deutschland. Bonn

Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend (BMFSFJ) (2000): Sechster Familienbericht. Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. Bonn

Gogolin, Ingrid / Nauck, Bernhard (Hrsg.; 2000): Migration, gesellschaftliche Differenzierung und Bildung. Opladen Gomolla, Mechthild / Radtke, Frank-Olaf (2002): Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Opladen

Hamburger, Franz (2005): Der Kampf um Bildung und Erfolg. In: Hamburger, Franz / Badawia, Tarek / Hummrich, Merle (Hrsg.): Bildungserfolg und Migration. Über das Verhältnis von Anerkennung und Zumutung in der Einwanderungsgesellschaft. Wiesbaden, S. 7-24

Hamburger, Franz / Hummrich, Merle (2007): Familie und Migration. In: Ecarius, Jutta (Hrsg.): Handbuch Familie. Wiesbaden

Hummrich, Merle (2009): Bildungserfolg und Migration. Biografien junger Frauen in der Einwanderungsgesellschaft. Wiesbaden

Jurczyk, Karin / Lange, Andreas: Familie und die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben. Neue Entwicklungen, alte Konzepte. In: Diskurs, Heft 3/2002, S. 9-16

Kagitçibasi, Çigdem (2007): Family, self, and human development across cultures. Theory and Applications, Mahwah, New Jersey

Kristeva, Julia (1990): Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt am Main

Statistisches Bundesamt (2008): Familienland Deutschland. Wiesbaden

Statistisches Bundesamt (2009): Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Ergebnisse des Mikrozensus 2007. Wiesbaden

Thiessen, Barbara (2007): Muslimische Familien in Deutschland. Alltagserfahrungen, Konflikte, Ressourcen. Expertise für das BMFSFJ. Berlin

Wippermann, Carsten u. a. (2007): Die Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Eine qualitative Untersuchung von Sinus Sociovision im Auftrag des BMFSFJ. Berlin


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Quelle:
DJI-Bulletin Heft 4/2009, Heft 88, S. 7-9
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Januar 2010