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FAMILIE/231: Interview - "Die Familie darf nicht länger Privatproblem der Eltern sein" (DJI)


DJI Bulletin 4/2009, Heft 88
Deutsches Jugendinstitut e.V.

»Die Familie darf nicht länger Privatproblem der Eltern sein«


Vielen Menschen fällt es schwer, Kind und Beruf zu vereinbaren. Der Zeitforscher Ulrich Mückenberger fordert deshalb eine zeitpolitische Wende: Mütter und Väter müssten den gesetzlichen Anspruch erhalten, ihre Arbeitszeit vorübergehend zu reduzieren - ohne auf Karrierechancen verzichten zu müssen.


DJI: Herr Mückenberger, der amerikanische Autor James Gleick kritisiert in seinem Bestseller »Faster« den Trend zur »Gute-Nacht-Geschichte für eine Minute«. Haben Eltern heute zu wenig Zeit oder gehen sie nur falsch mit ihr um?

MÜCKENBERGER: Die Flexibilisierung der Gesellschaft ist gerade für Eltern eine echte Herausforderung. Sie können ihre Zeit zwar flexibler einteilen, aber der Koordinationsaufwand steigt enorm - im Privaten und im Beruflichen. Denn alle müssen ihre Zeit ständig neu organisieren. Das gelingt nicht jedem.

DJI: Wie wirkt sich das auf den Familienalltag aus?

MÜCKENBERGER: Die Wissenschaft spricht inzwischen von den Pinnbrett-Familien: Versetzte Arbeitszeiten, Mobilitätsphasen, das Versorgen der Kinder und der eventuell pflegebedürftigen Großeltern führen dazu, dass sich Paare kaum mehr begegnen. Sie koordinieren ihren Alltag - bildhaft gesprochen - nur noch über das Pinnbrett: Wer muss wann wen wohin fahren und wo abholen und so weiter. Das scheint mir ein sehr großes Problem der gegenwärtigen Gesellschaft zu sein. Denn die Gefahr ist groß, dass die emotionale Basis der Familie, die kollektive Familienzeit, verloren geht.

DJI: Eine Verheißung der Industrialisierung war doch eigentlich: mehr Zeit für alle.

MÜCKENBERGER: Die Arbeitszeiten sind seit dem 19. Jahrhundert zwar deutlich kürzer geworden, aber ob wir deshalb mehr frei verfügbare Zeit haben, ist fraglich. Das liegt auch daran, dass es keine klare Abgrenzung mehr zwischen Arbeit und Freizeit gibt. Die Sphären von Berufs- und Privatleben durchdringen einander immer stärker, begleitet von der Tendenz, dass Menschen möglichst viel gleichzeitig und sofort erledigen wollen. Das ist eine tiefgreifende zeitkulturelle Veränderung.

DJI: Sie meinen, wir wollen einfach zu viel auf einmal: Erfolg im Beruf, Erfüllung in der Familie, Spaß in der Freizeit?

MÜCKENBERGER: In der Tat ist das ein Problem der globalisierten Gesellschaft. Der italienische Philosoph Giacomo Marramao spricht vom »Zeitsyndrom«: Die zeitlichen Erwartungen der Menschen übersteigen, was sie an zeitlichen Erfahrungen machen können. Das lässt sich auch an Ihrem eingangs genannten Beispiel deutlich machen: Eltern können sich heute billig eine ganze Sammlung von Büchern mit Gute-Nacht-Geschichten kaufen, finden aber keine Zeit, diese ihren Kindern vorzulesen.

DJI: Sind Eltern dem Zeitdruck hilflos ausgeliefert?

MÜCKENBERGER: Nicht ganz. Menschen können selbstverständlich lernen, ihre Zeit besser einzuteilen. Ein gutes Zeitmanagement alleine reicht aber nicht aus. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen müssen sich im Sinne der Menschen verbessern: die Arbeitszeiten, die Erreichbarkeit von Betreuungseinrichtungen, die Öffnungszeiten von Behörden und Arztpraxen. Die Familie darf nicht länger Privatproblem der Eltern sein. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern werden sie in Deutschland immer noch bestraft, indem sie weniger verdienen, Rentenansprüche einbüßen, auf Karrierechancen verzichten. Wir reden zwar seit 35 Jahren über die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, gelungen ist sie allerdings nicht.

DJI: Die Familienpolitik hat in der vergangenen Legislaturperiode aber doch einige wichtige Reformen angestoßen: Das Elterngeld wurde eingeführt und die Betreuungsangebote für Kinder unter drei Jahren werden ausgebaut.

MÜCKENBERGER: Das stimmt, die Familienpolitik hat mit den Ministerinnen Renate Schmidt und Ursula von der Leyen endlich erste Schritte getan. Das einkommensbezogene Elterngeld verringert zumindest die Lohnausfälle nach der Geburt eines Kindes, und neue öffentliche Betreuungseinrichtungen ermöglichen mehr Frauen die Rückkehr in den Beruf. Wir stehen aber immer noch am Anfang der notwendigen zeitpolitischen Wende in der Familienpolitik.

DJI: Welche Veränderungen sind aus zeitpolitischer Perspektive erforderlich?

MÜCKENBERGER: Zeitpolitik setzt ganzheitlich bei den Lebenslagen der Menschen an. Thematisiert werden die strukturellen Merkmale des alltäglichen Lebens, die bei der bisherigen Vereinbarkeitspolitik außen vor bleiben. Alles ist in Deutschland darauf ausgerichtet, dass ein Familienmitglied tagsüber, zumindest halbtags, frei verfügbar ist. Eine Vollzeittätigkeit beider Eltern ist deshalb nur schwer zu realisieren. Die Kinderbetreuung stellt dabei das größte Problem dar: kurze Öffnungszeiten, mangelnde Flexibilität in der Lage der angebotenen Zeiten und unzureichende Qualität. Spätestens wenn das Kind in die Schule kommt, erweist sich, dass ganztägige Angebote fehlen. Und die Notwendigkeit, die Arbeitswelt zugunsten einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf umzugestalten, ist in Deutschland nicht ausreichend identifiziert.

DJI: Dank des technischen Fortschritts können einige Eltern arbeiten, wann und wo sie wollen. Das ist doch ein großer Vorteil für Familien.

MÜCKENBERGER: Allerdings nur dann, wenn sich Arbeitszeit und -ort tatsächlich an den Bedürfnissen und Lebenslagen der Menschen orientieren. Die Flexibilisierung der Berufswelt folgt heutzutage aber meist einer streng betriebswirtschaftlichen Logik, die andere Gesellschaftsbereiche überschwemmt. Um nur ein Beispiel zu nennen: In vielen Kaufhäusern gibt es das Modell der sogenannten kapazitätsorientierten flexiblen Arbeitszeit, kurz Kapofaz. Für die Verkäuferinnen bedeutet das, dass sich ihre Arbeitszeit nach dem Kundenaufkommen richtet. Eine teilzeitbeschäftigte Mutter muss dann beispielsweise am späten Vormittag zweieinhalb Stunden arbeiten und am späten Nachmittag nochmal ...

DJI: ... und in den Zeitlücken, die übrig bleiben, sollen Eltern dann maximale emotionale Profite in der Familie erwirtschaften.

MÜCKENBERGER: Genau. Aber das kann nicht gelingen, denn Familienleben und Kindererziehung verlangen Empathie und lassen sich nur bedingt planen, schon gar nicht »bewirtschaften«. Stattdessen müsste die Familie den Takt im Alltag angeben. Denn ohne eine auch privat organisierte Fürsorge für andere kann eine Gesellschaft nicht bestehen.

DJI: Wie sieht eine familienfreundliche Arbeitswelt aus?

MÜCKENBERGER: In Schweden haben nicht nur beide Elternteile den Anspruch darauf, weniger Zeit am Arbeitsplatz zu verbringen, solange ihre Kinder klein sind. Darüber hinaus wird ihnen gesetzlich zugesichert, dass sie später wieder Vollzeit arbeiten können. In Deutschland scheut sich die Politik bis heute, den Unternehmen solche verbindlichen gesetzlichen Auflagen zu machen. Unser Recht kennt zwar einen Teilzeitanspruch, aber nicht den Rückkehranspruch in Vollzeit. Wenn man Eltern zubilligen würde, ihre Arbeitszeit vorübergehend zu reduzieren, um später wieder mehr oder insgesamt länger zu arbeiten, wäre das Problem der Vereinbarkeit viel geringer. Das wäre im Übrigen auch vernünftig angesichts der steigenden Lebenserwartung.

DJI: Inwiefern?

MÜCKENBERGER: Zeit ist nicht nur zwischen Frauen und Männern oder zwischen gesellschaftlichen Gruppen höchst ungleich verteilt, sondern auch über das Lebensalter hinweg. Familienforscher sprechen von der »Rush hour« in der Mitte des Lebens, in der junge Erwachsene volles Engagement im Job bringen, aber auch ein Heim gründen und Kinder erziehen sollen. Gleichzeitig fallen viele der Vollzeiterwerbstätigen aufgrund eines kalendarisch gegebenen Stichtages plötzlich in den Ruhestand. Die Erwerbszeit und die Pensionierung werden als ein extremes Nacheinander von Zeitnot und Zeitwohlstand erlebt. An die Stelle dieses gewaltsamen Nacheinanders müsste ein Nebeneinander von zeitlicher Beschleunigung und Entschleunigung, von Anspannung und Entspannung treten.

DJI: Welche Aufgaben sollten sich die Politiker in der nächsten Legislaturperiode stellen?

MÜCKENBERGER: Es geht darum, einem Vereinbarkeits-Modell zum Durchbruch zu verhelfen, das das »System« der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion in den Blick nimmt. Es verlangt ein ressortübergreifend koordiniertes und aufeinander abgestimmtes System. Nötig sind erstens auf Lebenslagen bezogene flexible Arbeitszeitmodelle, zweitens eine öffentliche Kultur der Pflege, der Ganztagsschule, der Kleinkindbetreuung und drittens die Fortentwicklung des lohnbezogenen Elterngeldes. Das entspricht einem »schwedischen Modell«, das auf die Bedingungen unseres Landes angepasst ist. Dieses sollte - mehr noch als in Schweden - die vergangene Geschlechterdiskriminierung abwehren und Männern und Frauen eine gleiche Beteiligung an Elternschaft und Erwerbstätigkeit erlauben. Ich bin mir aber keineswegs sicher, ob die derzeitige Koalition zu einer solchen systematischen Vereinbarkeitspolitik bereit sein wird.

Interview: Birgit Taffertshofer


Professor Dr. Ulrich Mückenberger leitet an der Universität Hamburg die Forschungsstelle Zeitpolitik. Diese Forschungsdisziplin ist noch relativ jung, obwohl die Menschen sich immer schon mit ihrem Anliegen befassten: den Takt des gesellschaftlichen Alltags zeitlich sinnvoll zu gestalten. »Moderne Zeitpolitik hat zum Ziel, jedem Menschen die Teilhabe an dem sozialen und kulturellen Leben zu ermöglichen, das in und jenseits der Arbeit stattfindet«, steht im Manifest der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik, die Mückenberger mitbegründete. Der Professor für Arbeits- und Sozialrecht sowie Europarecht sucht nach strukturellen Konflikten in der gesellschaftlichen Zeitgestaltung und nach Wegen sowie Beteiligungsverfahren zu ihrer Lösung.

Kontakt: Ulrich.Mueckenberger@wiso.uni-hamburg.de


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Quelle:
DJI-Bulletin Heft 4/2009, Heft 88, S. 10-11
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Januar 2010