DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 4/2014 - Nr. 108
Die Generationen halten zusammen
Von Karin Jurczyk und Marina Hennig
Familien mit mehreren lebenden Generationen werden häufiger, sind aber schlecht erforscht. Es gibt zum Beispiel keine Daten dazu, wie sie sich zusammensetzen oder wo sie besonders oft vorkommen. Aus Studien lässt sich allerdings schließen, dass die Beziehungen zwischen den Generationen wichtiger werden, und dass die gegenseitige Solidarität nicht an einen gemeinsamen Wohnort geknüpft ist.
In der Diskussion über die Krise der Familie oder die wachsende
Vielfalt der Lebensformen beziehen sich viele Aussagen auf Haushalte
(Marbach 2000). Familienleben und Familienbeziehungen sind heute aber
nicht mehr an Haushaltsgrenzen gebunden. Aus diesem Grund ist eine
Definition des Begriffs Familie wie im Siebten Familienbericht (BMFSFJ
2006) sinnvoll: Familie ist eine Gemeinschaft mit starken Bindungen,
in der mehrere Generationen füreinander sorgen und Verantwortung
füreinander übernehmen. Sie ist ein privates soziales Netz der
besonderen Art, welches von den Familienmitgliedern im Rahmen des
"Doing Family" immer wieder hergestellt wird (Jurczyk/Lange/Thiessen
2014). Dieser Familienbegriff löst sich von der Vorstellung eines
Haushalts, in dem Eltern mit ledigen Kindern gemeinsam wohnen und
wirtschaften. Er betont die sozialen Beziehungen, vor allem die
gegenseitige Hilfe und Anteilnahme zu einem weiten Personenkreis aus
verwandten und verschwägerten Personen (Schweitzer 1987).
Dabei ist es wichtig, zwischen Mehrgenerationenfamilien und Mehrgenerationenhaushalten zu unterscheiden: In Mehrgenerationenhaushalten leben tatsächlich mehr als zwei Generationen zusammen. Mehrgenerationenfamilien werden immer häufiger, da die Lebenserwartung steigt. Dies führt dazu, dass immer mehr Kinder und Jugendliche längere Lebenszeiten mit ihren Großeltern haben.
Um die gelebte Familienrealität über die Haushaltsgrenzen hinaus empirisch abzubilden, müssten Daten ausgewertet werden, welche die amtliche Statistik aber nicht zur Verfügung stellt. Es existieren keine verlässlichen Daten darüber, wie viele Mehrgenerationenfamilien es gibt, wie sich diese zusammensetzen und welche Bevölkerungsgruppen in mehreren Generationen leben und welche nicht.
einige interessante Ergebnisse bieten jedoch die Befragungen des Sozio-Oekonomischen Panels (SOEP; 2012). Bei der repräsentativen Wiederholungsstudie werden in Deutschland jedes Jahr etwa 30.000 Personen befragt. Die Daten geben Auskunft über Einkommen, Erwerbstätigkeit, Bildung oder Gesundheit. Die Daten des SOEP zeigen im Zeitvergleich der Jahre 1991 und 2011, dass die Zahl der an mehreren Orten lebenden Generationen einer Familie in den letzten 20 Jahren deutlich zugenommen hat (Hennig 2014). Inwieweit jedoch die Viergenerationenfamilie zur Normalität wird, bleibt offen. Das liegt unter anderem daran, dass viele Frauen heute später Mutter werden als früher (Peuckert 2012).
Wie werden Familienbeziehungen über Haushaltsgrenzen hinweg gelebt? Um diese Frage zu beantworten, ist es sinnvoll, nach den sozialen Beziehungen einzelner Personen zu fragen. Im Rahmen des SOEP wurden 8.047 Personen ab dem 17. Lebensjahr zu ihrem engeren und entfernten Familienkreis befragt. Dabei sollten sie angeben, ob sie bestimmte Verwandte haben und wie weit diese entfernt wohnen. Bei den folgenden Analysen wurden nur die Familienbeziehungen im engeren Sinne berücksichtigt, das heißt Großeltern, Eltern, Kinder und Enkel. Die Abbildung[*] veranschaulicht, dass die durchschnittliche Generationenanzahl im Vergleich der Jahre 1991 und 2011 im Haus und auch bei weiteren räumlichen Entfernungen leicht zugenommen hat. So hat sich beispielsweise die Anzahl der Generationen einer Familie, deren Angehörige in der Nachbarschaft leben, zwischen den Jahren 1991 und 2011 deutlich erhöht. Gleichzeitig verstärkt sich aber die Tendenz, dass verschiedene Generationen einer Familie an unterschiedlichen Orten wohnen - die Generationen rücken spürbar auseinander. Das zeigen auch die Untersuchungen des Deutschen Alterssurveys (Mahne/Motel-Klingebiel 2010).
Die zur Verfügung stehenden Daten ermöglichen nur ansatzweise Analysen zur Dynamik der Generationsbeziehungen. Dennoch zeigen sie deutlich, dass dadurch, dass es insgesamt mehr Mehrgenerationenfamilien gibt, auch mehr Beziehungen zwischen ihnen möglich sind und dass die Mehrheit der befragten Personen 2011 in multilokalen Mehrgenerationenzusammenhängen lebte. Die Zahl der Befragten, die in eine Drei- und Mehrgenerationenfamilie eingebunden sind, betrug 1991 34,2 Prozent und im Jahr 2011 58,2 Prozent. Der prozentuale Anteil der Befragten in einer Zweigenerationenkonstellation ist dagegen von 51,2 Prozent im Jahr 1991 auf 30,4 Prozent im Jahr 2011 gesunken (Hennig 2014).
Dies hängt mit der seit Ende des 19. Jahrhunderts deutlich gestiegenen durchschnittlichen Lebenserwartung zusammen, ein Trend, der sich auch in den letzten Jahrzehnten weiter fortsetzte. Die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern erhöhte sich in Deutschland zwischen den Jahren 1901/1910 und 1932/43 von 44,8 auf 59,9 Jahre; bis zum Zeitraum 2005 bis 2010 stieg sie weiter auf 77,1 Jahre. Bei den Frauen erhöhte sich die durchschnittliche Lebenserwartung in denselben Zeiträumen von 48,3 auf 62,8 Jahre und dann auf 82,4 Jahre (Bundeszentrale für politische Bildung 2011). Erst nach 1950 konnte mehr als die Hälfte der zehnjährigen Kinder damit rechnen, überhaupt einen ihrer Großväter oder eine ihrer Großmütter kennenzulernen (Grünheid 2011). Die Beziehungen zwischen mehr als zwei Generationen haben an Bedeutung gewonnen - sowohl für die einzelnen Personen als auch für die Familie als Ganzes. Sie wirken sich positiv auf das Wohlbefinden der Individuen aus und auf die Unterstützung, die sie in ihrem Lebensverlauf erhalten (Bengston 2001). Diese Entwicklung führt auch zu einer Veränderung der Rolle des gemeinsamen Haushalts (Bertram 2002). Galt das "gemeinsame Wohnen in einem Haushalt seit Mitte der 1930er Jahre zunehmend als Synonym für Intimität und Enge der Beziehungen, so kann man demgegenüber davon ausgehen, dass die Beziehungen zwischen der neu gegründeten Familie und den Herkunftsfamilien auch dann fortbestehen, wenn alle in unterschiedlichen Haushalten leben" (ebd., S. 526). Die Solidarität zwischen den Generationen ist also nicht mehr an einen gemeinsamen Haushalt oder Wohnort gebunden.
Eine wissenschaftliche Untersuchung des sozialen Umfelds von einzelnen Personen, die Beziehungen zwischen den Generationen fokussiert, spiegelt sich in Begriffen wie der "multilokalen Mehrgenerationen-Familie" wider (Bertram 2002). Dabei ist es wichtig, nicht nur den Beitrag der älteren Generation zur Erziehung der (Enkel-)Kinder zu beachten, "...sondern auch die Solidarität mit der älteren Generation und die Bereitschaft, für diese auch Fürsorge zu übernehmen" (Bertram 2002, S. 519). Bereits in den 1960er-Jahren bezeichnete der Soziologe und Sozialphilosoph Leopold Rosenmayr die Beziehung zwischen alt gewordenen Eltern und ihren Kindern, die meist in eigenen Haushalten leben, als eine "Intimität auf Distanz" (Rosenmayr 1965). Damit meinte er, dass die sozialen Beziehungen zwischen den erwachsenen Kindern und ihren Eltern auch noch nach dem Auszug der Kinder aus dem elterlichen Haushalt trotz des Lebens in unterschiedlichen Haushalten bestehen bleiben und sich die Generationen gegenseitig unterstützen.
Wie sieht die Familienrealität in Drei- und Mehrgenerationenfamilien aus, wie werden die Beziehungen gestaltet? Untersuchungen, die die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern analysieren, zeigen, dass die unmittelbaren Familienmitglieder einen bedeutenden Anteil der sozialen Beziehungen ausmachen (Hennig 2006, 2014). Darüber hinaus sind sie durch die wachsende Zeit, die die Generationen miteinander verbringen, auch immer wichtiger bei den Hilfe- und Unterstützungsleistungen. Insbesondere im Falle der Pflegebedürftigkeit übernehmen bei der Mehrheit die Familienmitglieder die Pflegeleistungen (Brandt 2009; Haberkern 2009). Circa 70 Prozent der pflegebedürftigen Angehörigen werden zu Hause, also überwiegend von anderen Familienmitgliedern (meist von den Frauen) gepflegt. Ungefähr ein Drittel von ihnen wird zusätzlich durch ambulante Pflegedienste versorgt (Statistisches Bundesamt 2013). Je mehr Generationen in einer Familie vorhanden sind, desto eher gibt es aber auch Streit zwischen den Familienmitgliedern (Hennig 2014).
Wie Beziehungen in Mehrgenerationenfamilien gelebt werden, zeigen auch Daten aus der ersten Erhebung des Surveys "Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten" (AID:A) des Deutschen Jugendinstituts aus dem Jahr 2010: Demnach sind Großeltern nach den Eltern und der Kita die drittwichtigste Betreuungsinstanz für ihre Enkelkinder insbesondere bei Alleinerziehenden, und sie haben eine positive Bedeutung für Jugendliche zwischen 13 und 17 Jahren. 70 Prozent der Befragten schätzen ihr Familienklima und sind immer gern mit der Familie zusammen.
Welche sozialen Mechanismen der Ausgestaltung der Beziehungen zwischen den Generationen einer Familie in hochdifferenzierten Gesellschaften zugrunde liegen, kann derzeit nicht eindeutig beantwortet werden. Der übliche Rückgriff auf als selbstverständlich wahrgenommene Solidaritätsnormen ist nicht ausreichend. Denn in Familien geht es um Aushandlungsprozesse zwischen individuellen Wünschen und Verpflichtungen zwischen den Generationen, zwischen widerstreitenden Gefühlen von Verbundenheit und Eigenständigkeit, zwischen Normen der Selbstverwirklichung und der sozialen Bindung (Lüscher 2000). Familie ist gekennzeichnet durch Ambivalenz. Solidarität zwischen den Generationen einer Familie kann dabei eine Erklärung bei der Ausgestaltung von Familienbeziehungen sein, aber es ist keine ausreichende. Es kann auch zur Fragmentierung von Familien kommen und Familie kann von einer prinzipiell konfliktträchtigen zur konfliktreichen Gemeinschaft werden (Kousholt 2011). Die Solidarität in der Familie ist eine Solidarität zwischen strukturell Ungleichen, teilweise voneinander Abhängigen, die zudem staatlichen Vorgaben und Pflichten unterliegt. Der Begriff von Familie als mehrgenerationale Solidargemeinschaft sollte nicht emphatisch überhöht werden. Solidarität impliziert auch in Familien Freiwilligkeit. Sie ist angesichts sich verändernder Arbeits- und Lebensbedingungen zerbrechlich.
Dr. Karin Jurczyk ist seit Januar 2002 Leiterin der
Abteilung "Familie und Familienpolitik" des Deutschen Jugendinstituts
(DJI). Ihre Forschungsschwerpunkte sind der Zusammenhang von Familie
und Beruf, Familienpolitik, Gender und alltägliche
Lebensführung.
Kontakt: jurczyk@dji.de
Prof. Dr. Marina Hennig ist seit August 2011 Leiterin der
Abteilung "Netzwerkforschung und Familiensoziologie" an der
Johannes-Gutenberg Universität Mainz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind
soziale Netzwerkanalyse, Mikrosoziologie, Familienforschung und
Sozialstrukturanalyse.
Kontakt: mhennig@uni-mainz.de
BERTRAM, HANS (2002):
Die Multilokale Mehrgenerationenfamilie. Von der Neolokalen
Gattenfamilie zur Multilokalen Mehrgenerationenfamilie.
Berliner Journal für Soziologie, Heft 4, S. 517-529
BRANDT, MARTINA (2009):
Hilfe zwischen Generationen. Ein europäischer Vergleich. Wiesbaden
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Lebenserwartung bei der Geburt. Im Internet verfügbar unter:
www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/europa/70509/Lebenserwartung
(Zugriff: 19.12.2014)
GRÜNHEID, EVELYN/SCHAREIN, MANFRED G. (2011):
Zur Entwicklung der durchschnittlichen gemeinsamen Lebenszeit von
Drei- und Vier-Generationen-Familien in West- und Ostdeutschland.
Eine Modellrechnung. In: Comparative Population Studies - Zeitschrift
für Bevölkerungswissenschaft, Heft 1, S. 3-40
HABERKERN, KLAUS (2009):
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Vortrag auf dem 9. Wissenschaftlichen Kolloquium "Familien und
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Zusammenarbeit mit der Deutschen Statistischen Gesellschaft,
Wiesbaden, 23. bis 24. November 2000
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STATISTISCHES BUNDESAMT (2013):
Pflegestatistik 2011. Wiesbaden
[*] DJI Impulse 4/2014 - Das komplette Heft finden Sie im
Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse
Dort finden Sie auch im Schattenblick nicht veröffentlichte Tabellen
und Graphiken der Printausgabe unter:
http://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bulletin/d_bull_d/bull108_d/DJI_4_14_WEB.pdf
*
Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 4/2014 - Nr. 108, S. 20-23
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
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Telefon: 089/623 06-140, Fax: 089/623 06-265
E-Mail: info@dji.de
Internet: www.dji.de
DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos bestellt und auf Wunsch auch abonniert
werden unter vontz@dji.de.
veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juli 2015
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