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FRAUEN/297: Die unsichtbare Dienstbotenschicht (DJI)


DJI Bulletin 4/2009, Heft 88
Deutsches Jugendinstitut e.V.

Die unsichtbare Dienstbotenschicht

Von Maria S. Rerrich


Frauen aus armen Ländern verdingen sich in reichen Industriestaaten als Haushaltshilfen und Kindermädchen. Der transnationale Schattenmarkt hat sich in Deutschland längst zu einem eigenen System entwickelt. Familien versuchen damit drängende Alltagsprobleme informell zu lösen, doch die gesellschaftlichen Folgen sind gravierend.


Noch immer wird der Reproduktionsbereich nicht als eines unserer wichtigsten gesellschaftlichen Gestaltungsfelder wahrgenommen, so dass seine sich verschärfende Krise bisher kaum gesehen, geschweige denn politisch systematisch zu bewältigen versucht wird. Ein Grund dafür ist, dass dieser Bereich nicht als Gesamtzusammenhang gesehen wird, im Alltag ebenso wenig wie gesellschaftlich (Harrington 1999; Esping-Andersen 2009). Es fallen in der Regel nur Einzelfragen auf, die sich hier stellen, und Einzelprobleme, die es zu lösen gilt, wie: Wer kümmert sich um die Säuglinge und Kinder? Wer versorgt die alten Menschen und in welcher Qualität? Wie kann die Schwarzarbeit im Haushalt bekämpft werden?

Das sind in der öffentlichen Diskussion verschiedene Themen, und kaum jemand sieht die Verbindungslinien zwischen ihnen in einem wohlfahrtsstaatlichen Gesamtgefüge der Arbeitsteilung zwischen Familie, Markt und Staat, das gut oder inzwischen eben weniger gut funktioniert. Anders gesagt: Dort, wo der Reproduktionsbereich politisch in den Blick gerät, nimmt man lediglich Teilaspekte ins Visier, so als könnte man die vielen verschiedenen Einzelbausteine, die hier aufeinandertreffen und zusammenfließen, einfach auseinander dividieren: zum Beispiel die gesellschaftliche Teilhabe und Anerkennung von Menschen, die Aufgaben in Haushalt und Familie in den Mittelpunkt ihres Alltagslebens stellen, Gender und Qualifikation, Arbeit für Geld und Arbeit aus Liebe, die gesellschaftliche Bewertung von »Care«, internationale Arbeitsteilung und Menschenrechte sowie die Kommodifizierbarkeit von Beziehungen und Gefühlen, um nur einige zu nennen. Nicht zuletzt durch eine solche thematische Engführung wird die Arbeit, die in den Haushalten und Familien derzeit geleistet wird, fortlaufend trivialisiert, und deshalb greifen politische Regelungsversuche in diesem Bereich bisher selten: weil sie konzeptionell kaum der Komplexität und den Anforderungen des Feldes gerecht werden.


Eine Reaktion auf politische Versäumnisse

Die Krise des Reproduktionsbereichs erleben sehr viele Menschen in Deutschland inzwischen aber tagtäglich. Als eine der Reaktionen darauf hat sich in den letzten Jahrzehnten - von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt - eine neue unsichtbare Dienstbotenschicht in Deutschland etabliert, die Haus- und Familienarbeit gegen Bezahlung verrichtet. Niemand kennt die genaue Anzahl der Frauen, die bundesweit in den privaten Haushalten arbeiten, aber es ist davon auszugehen, dass sie in die Millionen geht (Schupp/Spieß/Wagner 2007). Wegen des Fehlens zeitgemäßer wohlfahrtsstaatlicher Vorkehrungen für viele ihrer drängenden Alltagsprobleme mussten die privaten Haushalte in den letzten Jahren zahlreiche informelle Problemlösungsstrategien entwickeln.

Wer es sich leisten kann, stellt heute beispielsweise eine Haushaltshilfe aus Ungarn ein, die den alten Vater rund um die Uhr betreut, oder man engagiert für die Kinder ein Au-Pair aus der Ukraine, das nach Ablauf des Visums die Kleinen eventuell sogar illegal weiter betreut, und den Wohnungsputz erledigt vielleicht eine Putzfrau aus Brasilien. Hierzulande sind die häuslichen Beschäftigten derzeit oft Frauen aus weniger privilegierten Ländern, die - obwohl sie teils über Jahre und Jahrzehnte in den privaten Haushalten in Deutschland arbeiten - selten umfassende Arbeits- und Bürgerrechte in Deutschland geltend machen können (Rerrich 2006; Lutz 2007). Was ist an dieser Transnationalisierung der bezahlten Haus- und Familienarbeit problematisch? Mit einer älter werdenden Bevölkerung, veränderten privaten Lebensformen (zum Beispiel gibt es weniger Familien mit einer ausschließlich zu Hause arbeitenden Frau), der zunehmenden Erwerbstätigkeit von Frauen und einem komplexer und mobiler gewordenen Alltag sind die Haushalte in Deutschland dringend auf alltägliche Entlastung angewiesen (Nickel 2008). Und Frauen aus Osteuropa, Lateinamerika und Asien können in deutschen Haushalten Summen verdienen, die sie in der Heimat nie erwirtschaften könnten. Ist das nicht für alle Beteiligten eine Win-Win-Situation? Aus der Perspektive der einzelnen Arbeitskraft wie des einzelnen Haushalts mag das häufig so erscheinen, aber aus soziologischer Sicht greift eine solche Individualperspektive zu kurz.


Transnationale Migration und Armut

Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene sind diese Arrangements in vieler Hinsicht bedenklich. Zum einen erfolgen die Gestehungskosten dieser Arbeitskraft nicht in Deutschland, sondern in den Entsendeländern, und die Folgekosten - wenn die häuslichen Beschäftigten etwa krank oder alt werden - werden vermutlich auch oft dort aufgefangen. Pointiert könnte man sagen: Was die Haus- und Familienarbeit betrifft, wird Deutschland derzeit von Ländern wie Polen oder Ecuador subventioniert. Es gibt zum Zweiten das Problem des sogenannten brain drain. In vielen ärmeren Ländern fehlen Fachkräfte, etwa Lehrerinnen oder Krankenschwestern, weil sie in den privaten Haushalten in wohlhabenden Ländern arbeiten, wo sie sehr viel mehr verdienen können. Die Arbeit der Migrantinnen in Deutschland hat zudem zwiespältige Auswirkungen für ihre Angehörigen zu Hause, denn viele der häuslichen Beschäftigten haben in ihrer Heimat selbst Familien. Diese sind zwar dringend auf das Geld angewiesen, das die Mütter und Töchter nach Hause überweisen, aber die persönlichen Konsequenzen sind für die Kinder und alten Menschen dort oft schwierig. Anders gesagt: Die Migration der Frauen in die deutschen Haushalte stellt auch einen »care drain« für die Entsendeländer dar (Hochschild 2002).


Quasifeudale Verhältnisse in der Demokratie

Aber nicht nur für die Entsendeländer, auch für Deutschland sind die Konsequenzen der Transnationalisierung von Haus- und Familienarbeit durchaus zwiespältig. Viele hiesige Haushalte ziehen zwar Vorteile aus diesen Arbeitsarrangements und könnten ihren Alltag mangels praktikabler Alternativen ohne diese Unterstützung gar nicht oder nur unter großen Schwierigkeiten bewältigen. Bekannt ist allerdings, dass der Löwenanteil der Arbeit in den privaten Haushalten in Schwarzarbeit erfolgt, bekannt ist auch, dass vielfach Löhne bezahlt werden, mit denen offiziell angemeldete Dienstleistungsunternehmen wie Pflegedienste und Dienstleistungsagenturen nicht konkurrieren können (Gather/Geissler/Rerrich 2002).

Es gibt aber noch ein weniger offensichtliches und viel grundlegenderes Problem: In der Mitte unserer demokratischen Gesellschaft etablieren sich quasifeudale Verhältnisse, wenn Menschen hier arbeiten und leben, die weder Arbeitsrechte noch demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten haben beziehungsweise geltend machen können. Folgt man dem politischen Philosophen Michael Walzer, so muss dort von Bürger-Tyrannei gesprochen werden, wo sich in modernen Demokratien Verhältnisse wie im alten Griechenland als »Lösung« für zentrale gesellschaftliche Aufgaben etablieren (Walzer 1994). Zur Erinnerung: Im alten Athen teilte sich die Gesellschaft in die (damals nur männlichen) Bürger, die alle Rechte besaßen, eine große Gruppe von Sklaven (die für die häusliche Arbeit zuständig waren) und die sogenannten Metöken. Das waren ortsansässige Fremde, die weder versklavt noch Bürger waren, sondern Freie ohne politische Rechte - ähnlich wie viele der Frauen, die heute in Deutschland Haus- und Familienarbeit gegen Bezahlung verrichten. Sieht so das neue Europa aus? Und wird das eine gesellschaftliche Dauerlösung sein? Die Antwort auf diese Fragen kennt derzeit niemand.


Verdeckte Widersprüche und viele offene Fragen

Allerdings scheint eines ziemlich sicher: Die zahlreichen, umfassenden und vielfach anspruchsvollen Aufgaben im Reproduktionsbereich werden künftig weniger denn je als reine Privatangelegenheit betrachtet werden können, die »irgendjemand« (bevorzugtes Geschlecht: weiblich) schon »irgendwie« erledigen wird. Wer soll sie aber dann in Zukunft verrichten und zu welchen Konditionen? Und wie soll die gesellschaftliche Anerkennung dafür aussehen? Für diese Fragen braucht es im 21. Jahrhundert zeitgemäße Antworten, und das setzt eine umfassende und systematische Anpassung unserer wohlfahrtsstaatlichen Strukturen an grundlegend veränderte gesellschaftliche Gegebenheiten voraus. Solche Strukturen konzeptionell zu entwickeln und politisch umzusetzen, wird sicher keine leichte Aufgabe sein, denn hier sind die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Akteure berührt und sämtliche politischen Ressorts angesprochen, nicht nur das Familienministerium. Noch ist es eine offene Frage, ob und gegebenenfalls wann man sich dieser Herausforderung stellen wird. Gewiss ist nur, wie auch immer sich der Reproduktionsbereich künftig entwickeln wird: Politisch gestaltet wird er allemal. Denn das stillschweigende Fortschreiben des Status quo der neuen internationalen Arbeitsteilung in den privaten Haushalten würde ebenfalls einen (wenn auch eher fragwürdigen) politischen Umgang mit der Jahrhundertfrage der künftigen Gestaltung von Haus- und Familienarbeit darstellen.


Professor Dr. Maria S. Rerrich ist seit 1993 Professorin für Soziologie an der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften der Hochschule München. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Umbrüche der alltäglichen Lebensführung, bezahlte und unbezahlte Arbeit in privaten Haushalten, Entwicklung von Care, illegale Migration, soziale Ungleichheit zwischen Frauen sowie Strategien der Gleichstellungs- und Familienpolitik in Wohlfahrtsstaatsregimes.

Kontakt: rerrich@hm.edu


Literatur:

Esping-Andersen, Gosta (2009): The incomplete revolution. Adapting the welfare state to women's new roles. Cambridge

Gather, Claudia / Geissler, Birgit / Rerrich, Maria S. (Hrsg.; 2002): Weltmarkt Privathaushalt. Bezahlte Haushaltsarbeit im globalen Wandel. Münster

Harrington, Mona (1999): Care and equality. Inventing a new family politics. New York

Hochschild, Arlie Russell (2002): Love and gold. In: Ehrenreich, Barbara / Hochschild Arlie Russell (Eds.; 2002): Global woman. Nannies, maids, and sex workers in the new economy. New York

Lutz, Helma (2007): Vom Weltmarkt in den Privathaushalt. Die neuen Dienstmädchen im Zeitalter der Globalisierung. Opladen

Nickel, Hildegard Maria (2008): Care - Black Box der Arbeitspolitik. In: Berliner Journal für Soziologie, Heft 2, S. 185-191

Rerrich, Maria S. (2006): Die ganze Welt zu Hause. Cosmobile Putzfrauen in privaten Haushalten. Hamburg

Schupp, Jürgen / Spieß, C. Katherina / Wagner, Gert G. (2007): Familienbezogene Dienstleistungen stärker an den Familien ausrichten. In: Digler, Alexander u. a.: Betriebliche Familienpolitik. Potenziale und Instrumente aus multidisziplinärer Sicht. Wiesbaden

Walzer, Michael (1994): Sphären der Gerechtigkeit, Frankfurt


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Quelle:
DJI-Bulletin Heft 4/2009, Heft 88, S. 18-19
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Februar 2010