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FRAUEN/307: Brasilien - Frauen wollen in der Landwirtschaft nach oben (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 13. April 2011

Brasilien: Frauen wollen in der Landwirtschaft nach oben - Auf die Zuckerrohrerntemaschinen

Von Mario Osava

Zuckerrohrerntemaschine - Bild: ©Mario Osava/IPS

Zuckerrohrerntemaschine
Bild: ©Mario Osava/IPS

Guariba, Brasilien, 13. April (IPS) - "Sie ist verrückt", sagten die meisten Ehemänner und anderen Familienmitglieder jener 34 Frauen, die sich im südbrasilianischen Bundesstaat São Paulo dafür entschieden haben, Erntemaschinen für Zuckerrohr zu fahren. Verlockend ist für sie dabei die Chance auf einen besseren Lohn, und die fortschreitende Technisierung der Branche macht ihnen Mut.

Im Gespräch mit IPS machten die Frauen allerdings deutlich, dass sie den Einwand, das Fahren der riesigen Maschinen durch die endlosen Zuckerrohrfelder der Region, ganz allein und manchmal auch im Dunkeln, sei ein Männerjob, für ein Klischee halten, das sie nicht gelten lassen.

Im siebten Monat schwanger zu sein, hat die 33-jährige Mutter von drei Kindern, Rosana do Carmo nicht davon abgehalten, an dem Kurs teilzunehmen, den das Sekretariat für Beschäftigung und Arbeitsbeziehungen von Guariba anbietet. Die 35.000 Einwohner zählende Stadt liegt in Brasiliens Hauptanbaugebiet für Zuckerrohr, etwa 300 Kilometer von der größten Stadt des Landes São Paulo entfernt.

Do Carmo hofft, den theoretischen Unterricht, der an jedem Abend der Woche vier Stunden in Anspruch nimmt, vor der Geburt ihres Kindes abschließen zu können. Den praktischen Teil des Trainings an der Erntemaschine möchte sie sich für später aufheben, wenn das Baby etwas älter ist.

Einen Treckerfahrkurs hat sie bereits absolviert. "Ich war die einzige Frau unter 18 Männern", berichtet sie und fügt hinzu, dass sie sich ständig Witze wie "deine Füße sind zu klein für die Pedale" anhören musste. Aber do Carmo ist weit davon entfernt, einen Rückzieher zu machen. Auf der Suche nach einem besseren Leben "und Wohlstand" ist sie fest entschlossen, sogar eine noch größere und kompliziertere Maschine zu fahren.


Mechanisierung der Ernten trifft meist die Frauen

Der CERT-Kurs für Erntemaschinenfahrer ist ausschließlich für Frauen gedacht. Guaribas Arbeitsbeauftragter José Roberto de Abreu zufolge stellt die Zuckerrohrbranche nur wenige Frauen ein. Sie sind deshalb am stärksten von der Arbeitslosigkeit durch die fortschreitende Mechanisierung des Erntevorgangs betroffen. Viele Kursteilnehmerinnen sind geschiedene, allein erziehende Frauen in einer Region, die einer großen Zahl von Gelegenheitsarbeitern einen Job bieten kann.

Noemia Pereira de Melo, Mutter von zwei Kindern, wird von ihren Mitschülern wegen ihrer langjährigen Erfahrung als Zuckerrohrschneiderin ein hohes Maß an Respekt entgegen gebracht. "Ich habe Zuckerrohr geschnitten, da war ich 18", sagt die 37-Jährige. Anfangs trat sie in die Fußstapfen ihres Vaters, der auf der Suche nach Erntearbeit umhergezogen war. Doch schließlich ließ sie sich in Guariba nieder.

Sie hat in der Zuckerindustrie unterschiedliche Aufgaben übernommen, aber ihr Traum ist es, eine Erntemaschine zu bedienen. Sie belegte einen Kurs, in dem sie die einzige Frau unter 40 Männern war. Da sie jedoch nicht am praktischen Unterricht teilnahm, wurde sie später nicht eingestellt. Diesmal glaubt sie, dass sie größere Beschäftigungschancen hat, da ein ortsansässiger Betrieb bereit ist, mehr Frauen einzustellen. "Ich möchte mit dem Zuckerrohrschneiden aufhören, um weiterzukommen", sagt sie. Außerdem hat ihr die stundenlange Arbeit mit der Machete eine chronische Schleimbeutelentzündung eingebracht.


Fortbildung zahlt sich aus

Zuckerrohrschneider verdienen weniger als 1.000 Reais (600 US-Dollar) im Monat. Maschinenarbeiter können hingegen, je nach Produktivität, das Zwei- bis Dreifache verdienen - je nach der Höhe der Erträge.

Gemäß einem Abkommen zwischen Lokalregierung und der Zuckerrohrindustrie wird das Niederbrennen der Zuckerrohrfelder im Bundesstaat São Paulo, in dem 60 Prozent der Zucker- und Ethanolproduktion Brasiliens stattfindet, eingestellt. Das Abfackeln der Felder erleichtert das manuelle Ernten von Zuckerrohr. Die Abkehr von der Brandrodung führt zwangsläufig dazu, dass Zuckerrohrschneider von Erntemaschinen ersetzt werden. Der Staatlichen Universität von São Paulo zufolge waren im letzten Jahr 140 000 Maschinen im Einsatz.

Um den Zuckerrohrschneidern dabei zu helfen, statt der achtmonatigen Saisonarbeit feste und besser bezahlte Jobs an Land zu ziehen, bieten ihnen verschiedene öffentliche und private Organisationen an, sich für höher qualifizierte Jobs in Landwirtschaft und Industrie zu qualifizieren. Mit dem ersten Kurs, den das Sekretariat für Beschäftigung und Arbeitsbeziehungen von Guariba fördert, erhalten die 34 ausgewählten Frauen ein Stipendium von monatlich 210 Dollar.

Dem Beschäftigungsbeauftragten Abreu kam die Idee für die Frauenkurse erstmals 2009, als er zum Leiter des SERT ernannt wurde. Zuvor war er jahrelang als landwirtschaftlicher Berater, Mechanisierungsexperte und Ausbilder in Zuckerfabriken tätig gewesen. "Ich gehe davon aus, dass einige Frauen den Lehrgang abbrechen werden, aber es gibt noch andere, die darauf hoffen, einen Platz im Kurs zu bekommen", betont er.

SERT bietet auch Kurse für andere Jobs in der Zuckerrohrindustrie, in denen die Teilnehmer beispielsweise lernen, Trecker und Gabelstapler zu fahren. Zudem gibt es Lehrgänge für Bau- und Textilarbeiter. Auch werden Fachkräfte für die Nahrungsmittelbranche ausgebildet. Die einheimischen Arbeitskräfte seien auf die Kurse dringend angewiesen, versichert Abreu.

Gewerkschaften, Betriebe für die Verarbeitung von Zucker und Ethanol sowie Unternehmen aus der Agrarindustrie haben sich dem Modernisierungsprogramm angeschlossen, das insgesamt 7.000 Zuckerrohrarbeiter befähigen soll, eine Anstellung innerhalb und außerhalb des Sektors zu finden.


Alternativberuf Haushaltshilfe

Frauen haben Priorität in den von SERT organisierten Kursen, die in den vergangenen zwei Jahren 1.400 Kräfte durchlaufen haben. Erhalten sie später einen Job, können sie in Guariba bleiben und müssen nicht in die Städte der Umgebung abwandern, um sich dort als Dienstboten zu verdingen.

Zurzeit sind 620 Frauen als Hausangestellte registriert. Etwa 500 von ihnen arbeiten in Ribeirão Preto, der Hauptstadt des Zuckerrohranbaugebiets, in dem es 85 Dörfer und 50 Zucker- und Ethanolfabriken gibt. Anders als in Guariba verdienen Haushaltshilfen in Ribeirão Preto 500 Dollar im Monat, verfügen über Arbeitnehmerrechte und haben am Wochenende frei.

Die Stadtverwaltung von Guariba deckt 40 Prozent der Fahrkosten, die den Frauen durch die Busfahrt ins 65 Kilometer entfernte Ribeirão Preto entstehen. Eine solche Unterstützung erhält die 57-jährige Pendlerin Cilia Maria Silva aus dem benachbarten Pradópolis nicht. Sie erinnert sich gern an jene vier Jahre zurück, als sie in einer Zuckerfabrik in ihrer Stadt gearbeitet hat. "Wir brauchen mehr Industrie und Fabriken in Pradópolis und Guariba" meint sie.

Rita de Cassia Cardoso ist eine der 34 Frauen, die an dem Kurs für Erntemaschinenfahrerinnen teilnehmen. Im Alter von 21 Jahren war sie bereits Treckerfahrerin und ging in ihrer Heimatstaat Mato Grosso do Sul im mittleren Westen Brasiliens mehrere verschiedene Tätigkeiten in der Landwirtschaft nach. Sie kam mit ihrem Mann nach Guariba, der in einem örtlichen Betrieb beschäftigt ist. Mit dem Kurs will sie ihrem Kindheitstraum nahe kommen, als LKW-Fahrerin für eine Fabrik zu arbeiten. Doch langfristig hat sie vor, Agrarwissenschaften zu studieren, "um am Prozess der Globalisierung teilzuhaben".


Frauen in Zuckerrohrsektor schlechter bezahlt

Ihre Kollegin Rita das Neves hat schon als Elfjährige auf den Zuckerrohrfeldern gearbeitet. Ihr Mann verletzte sich in einem Jahr während der Ernte am Knie und betreibt nun eine kleine Familienbar, während sie versucht, sich in der Branche nach oben zu arbeiten. In einer Gruppe von 50 Zuckerrohrschneidern gebe es immer nur vier bis sechs Frauen, erklärte Neves. Die meisten hätten schlechter verdient als die Männer, obwohl sie häufig größere Mengen Zuckerrohr geschnitten hätten, berichtet die 30-Jährige.

Neves ist Buchhalterin von Beruf, den sie jedoch nie ausgeübt hat. Sie hat auch schon als Haushaltshilfe gearbeitet, den Job als Zuckerrohrschneiderin jedoch vorgezogen. Nun ist sie im dritten Monat schwanger und lernt gerade, schwere Feldmaschinen zu bedienen. "Ich habe keinen Zweifel daran", sagt sie optimistisch, "dass hierin die Zukunft für mich und meine Familie liegt". (Ende/IPS/jb/2011)


Links:
http://www.guariba.sp.gov.br/
http://www.unica.com.br/
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=97843

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 13. April 2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. April 2011