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FRAUEN/327: Irak - Chancenlos gegen Männerjustiz, zunehmende Unsicherheit für Frauen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 16. September 2011

Irak: Chancenlos gegen Männerjustiz - Aktivistinnen klagen über zunehmende Unsicherheit

Von Rebecca Murray


Bagdad, 16. September (IPS) - Der Freispruch eines Vergewaltigers durch ein irakisches Gericht hat eine Gruppe engagierter Anwältinnen auf den Plan gebracht. Die 'Al-Amal Association' hat das frauenfeindliche Urteil öffentlich kritisiert und Berufung eingelegt. Der Fall ist nach Ansicht der Juristinnen exemplarisch für ein zunehmend von Männern beherrschtes Rechtssystem, das Frauen der im Land wachsenden Unsicherheit und Gewalt schutzlos ausliefert.

"Die Richter haben deutlich gemacht, dass sie die Klage des Opfers missbilligten. Doch anstatt aus Scham über die Schändung zu schweigen, wehrte sich die Frau und verklagte den Vergewaltiger", sagte die Vorsitzende der Al-Amal-Association, Hanaa Edwar.

Die aus einer wohlhabenden Familie stammende Frau war in Bagdad allein in ein Taxi gestiegen, das sie ins 300 Kilometer entfernte Nasiriyah bringen sollte. Doch unterwegs stoppte der 20-jährige Fahrer, fiel über sie her und vergewaltigte sie. Das Opfer berichtete der Familie von dem Verbrechen, und die Polizei nahm den Täter fest. Doch vor Gericht verlor die Klägerin den Prozess. Mit Bemerkungen wie "Sie waren damals wohl betrunken" kam der Richter dem Angeklagten zu Hilfe und sprach ihn frei.

Darauf hin hat die Klägerin die Al-Amal-Association um justischen Beistand gebeten. "Ich bestehe auf meinem Recht und fordere die Bestrafung des Verbrechers, denn sonst wird er anderen Frauen das Gleiche antun", begründete sie ihren Entschluss, sich zu wehren.

Al-Amal ist eine der wenigen Frauenrechtsgruppen, die sich im Irak für die juristische Gleichstellung der Frauen im Familien- und Scheidungsrecht einsetzen. Sie kämpfen gegen ein drakonisches Strafrecht, das häusliche Gewalt und so genannte Ehrenmorde zulässt.


Innerfamiliäre Gewalt

Nach Schätzungen des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) werden 20 Prozent der zwischen 15 und 49 Jahre alten Irakerinnen von ihren Ehemännern misshandelt. "Tatsächlich ist ihre Zahl wohl weit höher", heißt es in einem Bericht. "Aus Furcht vor gesellschaftlicher Diskriminierung berichten betroffene Frauen nur selten darüber, zumal sie kein Vertrauen in die Ermittlungsbehörden haben."

"Durch den Einfluss von überlieferten Stammesnormen und einen wachsenden religiös motivierten politischen Extremismus im Irak finden Frauen weder in ihren Familien noch außerhalb ihres Hauses ausreichend Schutz vor Übergriffen", konstatiert auch ein kürzlich veröffentlichter Bericht der internationalen Menschenrechtsorganisation 'Human Rights Watch' (HRW). "Das irakische Strafrecht gibt Ehemännern das Recht, ihre Frauen zu misshandeln, und bei Verstößen gegen die so genannte Ehre ist selbst Mord entschuldbar."

"Trotz eines seit 1959 geltenden politisch-religiös beeinflussten Zivilrechts, das Männer deutlich bevorzugte, genossen Frauen im Irak vor 1991 im Vergleich zur übrigen Region nicht nur ein hohes Maß an verlässlichem Schutz. Auch ihre Beteiligung am öffentlichen Leben war weit größer", heißt es in dem Bericht.


Illegale Frühehen statt Unterricht

Erst als verheerende Kriege und internationale Sanktionen die irakische Infrastruktur zerstörten, umwarb der damalige Staatschef Saddam Hussein, um an der Macht zu bleiben, religiöse Gruppen. Dadurch büßten die Frauen viele ihrer mühsam erworbenen Rechte ein. Nach Saddams Sturz wehrten sich engagierte Juristinnen erfolgreich gegen die Bemühungen von Religionsführern, das Zivilrecht durch das islamische Recht der Scharia zu ersetzen.

Dennoch lässt Artikel 41 der neuen irakischen Verfassung zu, das Familienrecht nach unterschiedlichen religiösen Anschauungen auszulegen. "So werden etwa Bestimmungen über das bei der Eheschließung erforderliche Mindestalter von 15 Jahren umgangen, berichtete die Aktivistin Edward. Mit Zustimmung des Vaters und eines Richters werden auch Jüngere von muslimischen Geistlichen verheiratet, die sich diese Gefälligkeit mit umgerechnet etwa 200 US-Dollar bezahlen lassen.

Auch die Direktorin des 'Women's Leadership Institute' (WLI), Sundus Hasan, beklagt die wachsende Missachtung von Frauenrechten im Irak. "Vor 2003 schickten die Familien alle Kinder zur Schule", berichtete sie. "Heute jedoch müssen sie dafür sorgen, dass ihre Töchter sicher zur Schule kommen. Das sichere Geleit kann teuer werden. Weil viele Familien diese Kosten nicht aufbringen können, werden schon Zehn- bis Zwölfjährige von der Schulbank weg verheiratet. Niemand hält sich an das Gesetz."

Hasans Institut arbeitet an der Einbeziehung von einschlägigen internationalen Konventionen wie die Abschaffung der Diskriminierung von Frauen, die auch der Irak unterzeichnet hat, in die irakische Gesetzgebung.

Einen Anfangserfolg sehen die Frauenrechtlerinnen in der für die Zusammensetzung des Parlaments obligatorischen Frauenquote von 25 Prozent. "Das Frauenministerium ist jedoch politisch sehr schwach", kritisierte Hasan. "Und im 48-köpfigen Kabinett sitzen nur zwei Frauen." Früher waren es sechs, später vier, und jetzt noch zwei. (Ende/IPS/mp/2011)


Links:
http://www.iraqi-alamal.org/english/
http://www.iwli.org/
http://www.amnesty.org/
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=105079

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 16. September 2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. September 2011