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FRAUEN/528: Chinas Wanderarbeiterinnen 2013 (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 125, 3/13

Chinas Wanderarbeiterinnen 2013
Kurze Geschichte einer Frauenmehrheit

Von Astrid Lipinsky



Nach dreißig Jahren lohnt sich ein neuer Blick: In den 1980er-Jahren begann mit der städtischen Nachfrage nach Billigarbeitskräften und der Lockerung des inländischen Reiseverbots die Flut der Wanderarbeiter_innen vom Dorf. Heute wird ihre Gesamtzahl auf mindestens 262 Millionen geschätzt.


Zuerst wanderten vor allem Männer auf die städtischen Baustellen - Frauen, Kinder und Alte blieben im Dorf und kümmerten sich um die Landwirtschaft. Die Männer blieben nicht auf Dauer in der Stadt, häufig kamen sie passend zur Ernte zurück.


Die Fließbandarbeiterin

Dann siedelten sich Textil-, Elektronik- und IT-Fabriken vor allem in den Exportsonderzonen nahe Hongkong, in Shenzhen und Dongguan, an. Für ihre Fließbänder rekrutierten sie bevorzugt junge unverheiratete Frauen, sie galten als fleißiger und gehorsamer als Männer, als geschickter beim Kleinteile-Zusammenbauen. Billiger waren sie auch, und sowieso ist die Textilindustrie, auch in China, eine Frauenbranche. Mehr als 80% der Wanderarbeiter_innen im Perlflussdreieck sind weiblich und zwischen 18 und 22 Jahre jung. Den Mädchen kam es auf den kurzzeitigen, möglichst hohen Verdienst an, mit dem sie die Schulbildung ihrer Brüder finanzierten oder für die eigene Mitgift sparten. Es war ihnen nur recht, dass die Überstunden ihnen keine Zeit zum Geldausgeben am Arbeitsort ließen. Die Eltern beruhigte es, dass Dorfnachbarinnen oder Mitschülerinnen mit vor Ort waren. Das Firmenwohnheim ähnelte sogar ein bisschen dem Studentenwohnheim, da waren die Töchter sicher und vor der bösen städtischen Umwelt geschützt. Die Unternehmen sparten die Fortbildungskosten. Lange gab es jährlich nach dem Frühlingsfest ausreichend Nachschub für das Fließband.

Mit der Jahrtausendwende änderte sich aber einiges: Es kam zu mingonghuang, einem Mangel an billigen Arbeitskräften vom Dorf. Die Exportunternehmen reagierten mit dem Abzug in noch weniger entwickelte und deshalb preisgünstigere Regionen innerhalb Chinas oder gleich ins Ausland nach Vietnam oder Bangladesh - oder in das arme Südosteuropa wie Albanien und Rumänien. Die Mädchen fanden genauso gut bezahlte Arbeitsplätze näher von zu hause. Chinas Geburtenpolitik mit maximal zwei Kindern auch im ländlichen China wurde Anfang der 1990er-Jahre erstmals flächendeckend umgesetzt, und eins von zwei Kindern schicken Eltern nicht mehr bereitwillig in die Ferne, Im Gegenteil sind sie bereit, ihr Geld auch in die Ausbildung der Töchter zu stecken.


Die Aufwertung und die Diversifizierung der dagongmei

China ist riesig, und "die" Wanderarbeiterin gibt es heute nicht mehr. Sie blieb so kurzfristig wie eine Semesterferienpraktikantin, und deshalb wurde ihre (nicht versicherte) Arbeit verächtlich als dagong, als bloßes Herumjobben, klassifiziert. Jung und unqualifiziert war sie, deshalb mei, kleine Schwester. Mit der Bezeichnung als dagongmei wurde die weibliche Wanderarbeit entqualifiziert und informalisiert, die Wanderarbeiterin war als Arbeiterin überhaupt nicht ernst zu nehmen.

Mehr und mehr dagongmei kamen aber in die Stadt, um langfristig dort zu bleiben, und verlangten mehr: langfristigere, mit einer Qualifizierung und allmählicher Lohnerhöhung sowie Sozialversicherung verbundene Arbeit; eine Tätigkeit, die mit Familie vereinbar war. Der Titel der dagongmei wollte nicht mehr passen: auf die verheirateten Frauen mit Kindern im mittleren Alter, die in städtischen Haushalten und als Kinderbetreuerin nachgefragt waren und sind; auf die Inhaberinnen von mobilen Gemüse- und Obstständen; auf die Frauen, deren Kinder in der Stadt aufwuchsen.


Städtisch - aber ohne hukou

Kinder von Wanderarbeiterinnen erben, wie jede/r Chinese/in seit 1958, die lebenslange Wohnortregistrierung der Mutter. Dieser hukou ist unabhängig vom aktuellen Wohnort und sollte den ungebremsten Zuzug in die Städte ja gerade verhindern. Das heißt, in der Stadt geborene Wanderarbeiterkinder und ihre auf Dauer in die Stadt umgezogenen Eltern bleiben vom hukou her "Dorfbewohner". Damit haben sie zu vielen sozialen Vergünstigungen der Städte - von der Schulbildung bis zum verbilligten Wohnraum, zur Krankenversicherung und Pension - keinen oder nur erheblich teureren Zugang. Der hukou der in der Stadt geborenen Wanderarbeitertochter sieht nicht vor, dass sie auf Dauer in der Stadt bleibt, selbst wenn sie ihr hukou-Dorf noch nie gesehen hat und von landwirtschaftlicher Tätigkeit keine Ahnung hat.


Die neue Städterin und die Diskriminierung der
Landbevölkerung

Heute sind in China ein Drittel der Stadtbevölkerung Wanderarbeiter_innen. Gleichzeitig nimmt die Urbanisierung zu und ist zum Regierungsziel geworden. Die meisten Chines_innen meinen, dass das hukou-System geändert gehört, aber es gibt auch Städter_innen, die an ihrer bevorzugten Stellung festhalten wollen.

Wanderarbeiter-Ehepaare konnten und können in den Städten kaum bezahlbaren Wohnraum für eine Familie finden, viele von ihnen lassen deshalb ihre Kinder auf dem Land bei den Großeltern. 2010 fand eine Studie des Chinesischen Frauenverbandes, dass 22% aller chinesischen Kinder so leben, und 38% der Kinder von Eltern mit ländlicher Wohnortregistrierung, nämlich über 61 Millionen Kinder unter 18 Jahren. 2013 ergab eine Untersuchung, dass 75% der Kinder ihre Eltern nur ein Mal im Jahr sehen, wenn sie zum Frühlingsfest heimkommen. Selbst zu Telefonkontakten kommt es selten.

Viele Eltern nehmen deshalb die Kinder mit in die Stadt, wo sie aber beim Zugang zu den lokalen Schulen und illegalerweise durch erhöhte Gebühren diskriminiert werden. Eigene Wanderarbeiterschulen toleriert die Regierung nicht; immer wieder werden solche zugesperrt.

Dennoch: Wenn Stadtluft frei macht, dann gilt das ganz besonders für Frauen, und sie wollen bleiben. Das urbane Umfeld bietet ihnen verschiedene Möglichkeiten: frau kann sich von der ungelernten Arbeiterin im Unternehmen hocharbeiten; frau kann in der Familienphase von der Fließbandarbeit in die Klein-Selbstständigkeit wechseln, etwa durch einen Laden in einer der wuchernden Wanderarbeiter_innen-Siedlungen. Sind die Kinder im Schulalter, kann sie in die Haushaltsdienstleistung wechseln, idealerweise zu einem gut zahlenden westlichen Ausländer oder als Vollzeit-Tagesdame in den Edelhaushalt eines alten chinesischen Paares ohne Kinder. Zwar bietet die Regierung den Wanderarbeiterinnen keinen hukou-Wechsel, aber sie ermutigt sie zur Weiterbildung und fördert diese.


Webtipp:

China Labour Bulletin
www.clb.org.hk/en/content/migrantworkers-and-their-children

Lesetipps:
Li Wanwei/Pun Ngai (2008): Dagongmei. Arbeiterinnen aus Chinas Weltmarktfabriken erzählen. Assoziation A, Hamburg.
Ching Kwan Lee; Pun Ngai (2010): Aufbruch der zweiten Generation. Wanderarbeit, Gender und Klassenzusammensetzung in China. Assoziation A, Hamburg.
Georg Egger, Daniel Fuchs, Thomas Immervoll, Lydia Steinmassl (Hg) (2013): Arbeitskämpfe in China: Berichte von der Werkbank der Welt, Promedia, Wien.
Pun, Ngai/Lu, Huilin/Guo, Yuhua/Shen, Yuan (2013): Slaves. Ausbeutung und Widerstand in Chinas Foxconn-Fabriken. Mandelbaum, Wien.


Zur Autorin:

Astrid Lipinsky hat eine halbe Professur zu Wirtschaft und Gesellschaft Chinas in Göttingen und eine halbe Stelle als Post-Doc-Assistentin an der Universität Wien. Sie lebt in Wien.

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 125, 3/2013, S. 24-25
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Januar 2014