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FRAUEN/816: Chile - "Es war nicht meine Schuld, wo ich war oder was ich trug ..." (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Chile "Es war nicht meine Schuld, wo ich war oder was ich trug ..."

Von Carlos Ramos



Große Gruppe von Frauen bei der Performance - Foto: © Isabel Riffo

Foto: © Isabel Riffo

(Berlin, 26. Januar 2020). Das Jahr 2019 war geprägt von feministischen Kämpfen. Besonders hervorheben möchten wir ein Beispiel aus Chile: Im Zuge des gesellschaftlichen Aufbruchs entwickelte das Künstlerinnenkollektiv Lastesis in Valparaíso die Performance "Ein Vergewaltiger auf deinem Weg". Text und Choreographie verweisen auf die strukturelle Gewalt, die das tägliche Leben von Frauen bestimmt. Auch in Berlin wurde die Performance bei verschiedenen Gelegenheiten aufgeführt. Auf dem Hermannplatz in Berlin-Neukölln trafen sich einige Leute aus Chile. Radio Matraca sprach mit in Deutschland ansässigen Chileninnen, die uns ihre Eindrücke mitgeteilt haben. Ihre Namen wollten sie lieber nicht nennen.

Unsere erste Gesprächspartnerin schildert ihre Eindrücke folgendermaßen: "Wenn du anfängst, mit Leuten zu sprechen, wird dir schnell klar, dass jede Frau irgendwann in ihrem Leben schon mal eine Gewalterfahrung gemacht hat, in Form von Machtmissbrauch, in Form von sexueller Gewalt, ... Gewalt eben. Und was diese Bewegung hier macht, ist wie eine Befreiung, es ist befreiend, dein Unterbewusstsein auszuleeren und diese Sachen rauszulassen, weil jede irgendwo tief im Inneren abgespeichert hat, dass es nicht ok ist, über diese Dinge zu sprechen, du schämst dich viel zu sehr. Aber jetzt, wo diese Macht hoffentlich gestürzt wird ...".

Neben uns meldet sich eine weitere Frau zu Wort, unsere Gesprächspartnerin Nummer zwei: "Du, kann ich auch was sagen? Ich finde, dieser Frauenprotest ist eine superwichtige Bewegung, die sich nach überall hin ausgebreitet hat. Aber das Patriarchat hat eben auch drauf reagiert. Schau mal, was vor ein paar Tagen in Istanbul passiert ist. Als die türkischen Frauen die Parolen gerufen haben, kam die Polizei und hat sechs Frauen festgenommen ..." .


Eine ältere Frau liest von einem Blatt, während hinter ihr einige andere Frauen performen - Foto: © Isabel Riffo

Foto: © Isabel Riffo

Die Performance der Gruppe Lastesis enthält eine klare Botschaft: Die Verantwortung für einen Übergriff liegt beim Täter. Das kann der Mann neben dir sein, der Partner, ein Richter, der Präsident persönlich oder der Staat. Der Text kritisiert das gewalttätige Vorgehen der Polizei, die in vielen Teilen der Welt Normalität geworden ist, und bezieht sich dabei auf den historischen Moment, in dem Chile sich befindet, seit vor über zwei Monaten die gesellschaftliche Rebellion ihren Anfang genommen hat.

Frauen werden gezwungen, sich auszuziehen und Kniebeugen vorzuführen, sie werden angefasst und sogar vergewaltigt. Mit seinen Carabineros (der chilenischen Polizei) hat der Staat ein Unterdrückungssystem aufgebaut, das mit willkürlichen Verhaftungen, Ermordungen, Entführungen, Schüssen in die Augen und sexueller Gewalt gegen die Bevölkerung vorgeht. Laut Angaben des Nationalen Menschenrechtsinstituts (INDH) gab es bis zum 12. Dezember vergangenen Jahres 117 Anzeigen wegen sexueller Gewalt. Es ist davon auszugehen, dass die tatsächliche Zahl der Übergriffe weitaus höher ist.

Im Refrain des Protestlieds der Gruppe Lastesis heißt es: "Und es war nicht meine Schuld, wo ich war oder was ich trug!" Dieser Satz ist buchstäblich um die Welt gegangen, nicht zuletzt dank der Übersetzunge ins Französische, Englische, Deutsche, Türkische, ... Mit den Mitteln der Kunst soll deutlich gemacht werden, dass zwar die tägliche Gewalt gegen Frauen nicht an geografischen Grenzen haltmacht - der Widerstand dagegen jedoch genausowenig.

Auf dem Hermannplatz in Berlin fährt unsere Gesprächspartnerin Nummer zwei mit ihrer Einschätzung fort: "Wir sind Chileninnen. Ich bin aus Valparaiso, und ich platze vor Stolz darüber, was diese Frauen aus meiner Heimatstadt da auf die Beine gestellt haben. Ich finde, das ist eine der spannendsten Initiativen der letzten Zeit!"

Eine dritte Frau erzählt uns: "Ich bin auch aus Chile und erlebe das, was derzeit in unserem Land passiert, ziemlich intensiv mit und nehme soviel es geht an den Ereignissen teil. Ich habe auch die Performances von Frauen überall auf der Welt gesehen und finde das sehr beeindruckend. Nun ist natürlich ganz wichtig, dass die Männer die Botschaft ernstnehmen."


Frauen mit ausgestrecktem Arm bei der Performance - Foto: © Isabel Riffo

Foto: © Isabel Riffo

Unsere erste Gesprächspartnerin erzählt uns, wie sich die chilenischen Frauen und die übrigen Latinas in Berlin organisiert und der internationalen Bewegung angeschlossen haben: "Ja, ich fand die Aktionen sofort sehr beeindruckend, und als mich dann eine gute Freundin um 6 Uhr morgens anrief und sagte: "Du, wir machen diese Performance hier", war ich sofort dabei. Drei Stunden später waren wir eine Gruppe von 90 Frauen, die die Vorbereitung gemacht hat, und am nächsten Tag haben wir Performance beim Klimastreik aufgeführt. Mir war auch gleich klar, dass es hier nicht um ein regionales Thema geht sondern um ein Problem, das die gesamte Welt betrifft, von daher fand ich es super, von hier aus mitmachen zu können. Ich glaube, die Aktion hat für viele von uns etwas Befreiendes. Nicht in Chile zu leben sondern im Ausland erzeugt so eine innere Schwere. Du fühlst dich zerrissen, du lebst hier, gleichzeitig bist du im Kopf ständig dort. Deshalb tut es so gut, etwas Körperliches zu machen. Du schreist, du bewegst dich, das hilft mir, meine Gefühle rauszulassen, meine Wut, meine Solidarität mit Chile, weil ich mich doch sehr mit meinem Land verbunden fühle, also, ich meine das jetzt nicht irgendwie patriotisch oder so, aber ich fühle mich doch sehr als Chilenin.

Ich lebe jetzt seit 18 Jahren in Berlin. Ich fand das alles sehr bewegend, weil die Forderungen genau dieselben waren, die wir damals hatten, als ich zur Schule ging oder als ich in der Uni war. Ich bin während der Diktatur großgeworden. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie. Und dann hier in Berlin zu sein gab mir so ein Gefühl der Hilflosigkeit, du kannst die Leute auf den Straßen nicht unterstützen, kannst von hier aus nicht einfach eine von ihnen sein. Aber dann hat sich da was entwickelt, auch eine Form von politischem Aktivismus, der mir ein bißchen von dem zurückgegeben hat, was man verliert, wenn man länger weg ist. Du fühlst dich verloren und orientierungslos, aber durch diese Mobilisierung habe ich viele Gleichgesinnte getroffen und mich selbst wiedergefunden."

Für viele Frauen bedeutete die Performance "Ein Vergewaltiger auf deinem Weg" eine Art Befreiung. Ein großes Verdienst der kollektiven Aktion auf der Straße ist, dass so viele Frauen sich persönlich angesprochen fühlten. Das Konzept ist aufgegangen, das befreiende Potential zu den Frauen durchgedrungen. Kunst und kollektive Aktion initiieren gemeinsam einen Heilungsprozess.

Dazu Gesprächspartnerin Nummer zwei: "In Chile gab es eine spannende kulturelle Entwicklung, das war vor dem Putsch und noch vor der Unidad Popular. Die Linke hat es dann geschafft, eine Volkskultur aufleben zu lassen, die sich in bildender Kunst, in Wandmalereien, in der Musik ausdrückte. Und heute kommen auf der Plaza de la Dignidad über 200.000 Leute zusammen und singen das traditionelle "El pueblo unido", ... das geht richtig unter die Haut."


Maskierte Frau mit ausgestrecktem Arm - Foto: © Isabel Riffo

Foto: © Isabel Riffo

Ihre Begleiterin ergänzt: "Ich wollte noch was zur Rolle der Kunst sagen. Der künstlerische Ausdruck, die Musik, die Plakate, die Performances - damit erreicht man die Bevölkerung und kann Dinge vermitteln, die die Leute sonst gar nicht erfahren würden, weil sie nicht lesen und kein Radio hören. Durch künstlerische Aktionen erreichst du die Leute besser, das dringt besser zu ihnen durch."

Wichtig bleibt zu erwähnen, dass der Text von "Ein Vergewaltiger auf deinem Weg" mehrere Referenzen an die Geschichte Chiles enthält. In den 80er Jahren lautete ein Slogan der Carabineros, der die Bevölkerung die folgenden zehn Jahre begleiten sollte: "Ein Freund auf deinem Weg". Diesen Satz las man auf Streifenwagen, in Tageszeitungen, auf Plakaten und im Fernsehen. Die Idee war, die Distanz, den "die Öffentlichkeit" dem Sicherheitsapparat entgegenbrachte, zu verringern, denn die Leute standen der Polizei sehr ablehnend gegenüber. Daran hat sich auch 30 Jahre später nichts geändert.

"Der Vergewaltiger bist du, die 'Pacos' ...", also die Polizei, lautet der Text von Lastesis. Indem "Freund" durch "Vergewaltiger" ausgetauscht wurde, ändert sich die ganze Aussage und wird zur Anklage. In die Performance wurde eine Strophe aus der Hymne der Carabineros eingebaut. Im neuen Kontext wird er zu einem Satz voll beißender Ironie: "Schlaf nur ruhig, unschuldiges Mädchen, sorge dich nicht um den Übeltäter, denn über deinen Schlaf, süß und lächelnd, wacht dein Liebhaber der Polizist".

Die Polizeihymne mit dem beunruhigenden Titel "Ordnung und Vaterland" ist in der kollektiven Erinnerung der Chilenxs besonders vorbelastet. Während der Pinochet-Diktatur stand sie in der Grundschule auf dem Lehrplan.

Eine Chilenin, die heute in Berlin lebt, teilt ihre Erinnerungen an die damalige Zeit mit uns: "Das mussten die Kinder damals in der Schule lernen. Zum Glück war ich in einer öffentlichen Schule und kann mich nicht daran erinnern, dass wir es dort gesungen haben, aber ich erinnere ich genau, wie es dann später hieß, man müsse das nun nicht mehr singen. Viele meiner Freundinnen wurden dazu angehalten, dieses Lied zu singen."

Nun haben die Frauen die Hymne aus der Zeit der Diktatur übernommen und eine kraftvolle Hymne des Widerstands daraus gemacht, die die strukturelle sexistische Gewalt veranschaulicht, der Frauen ausgesetzt sind. Das Lied ist zugleich ein Aufschrei gegen die systematische Gewalt, der Frauen überall auf der Welt zusammengebracht hat, ungeachtet ihrer Herkunft, ihres Alters, ihres Berufs, ihrer sozialen Stellung oder politischen Einstellung. Ein Aufschrei wie ein Lauffeuer, das nicht gestoppt werden kann. Eine Synfonie, die das Potential hat, uns zu heilen.


Einige Frauen bei der Performance - Foto: © Isabel Riffo

Foto: © Isabel Riffo

Hier der Text:

"Ein Vergewaltiger auf deinem Weg"
Kollektiv Lastesis.

Das Patriarchat ist ein Richter, der uns verurteilt von Geburt.
Und unsere Strafe ist die Gewalt, die du nicht siehst.
Das Patriarchat ist ein Richter, der uns verurteilt von Geburt.
Und unsere Strafe ist die Gewalt, die du nicht siehst.
Femizid! Straffreiheit für den Mörder!
Das Verschwinden. Die Vergewaltigung.

Und es war nicht meine Schuld, wo ich war oder was ich trug.
Und es war nicht meine Schuld, wo ich war oder was ich trug.
Und es war nicht meine Schuld, wo ich war oder was ich trug.
Und es war nicht meine Schuld, wo ich war oder was ich trug.

Der Vergewaltiger warst du.
Der Vergewaltiger warst du.
Der Vergewaltiger bist du.

Es sind die Bullen. Die Richter. Der Staat. Der Präsident.
Der Unterdrücker-Staat ist ein Sexist und Vergewaltiger.
Der Unterdrücker-Staat ist ein Sexist und Vergewaltiger.

Der Vergewaltiger warst du.
Der Vergewaltiger bist du.

Schlaf nur ruhig, unschuldiges Mädchen, sorge dich nicht um den Übeltäter,
denn über deinen Schlaf, süß und lächelnd, wacht dein Liebhaber der Polizist.

Der Vergewaltiger warst du.
Der Vergewaltiger bist du.
Der Vergewaltiger warst du.
Der Vergewaltiger bist du.


Übersetzung: Lui Lüdicke

Matraca-Beitrag zu diesem Thema:
https://www.npla.de/thema/feminismus-queer/la-culpa-no-era-mia-ni-donde-estaba-ni-como-vestia-recorre-el-mundo/


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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Januar 2020

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