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FRAUEN/883: Dirty Dancing - Übergriffe in der Berliner Tanzszene (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin

Dirty Dancing - Übergriffe in der Berliner Tanzszene

von Yalira Santelmo - Pressenza Berlin, 5. September 2024


Die Ber­li­ner Paar­tanz­sze­ne ist aus dem Ber­li­ner Nacht­le­ben nicht weg­zu­den­ken. Die Don­ners­ta­ge und Sonn­ta­ge im Ber­li­ner Soda Club (Kul­tur­braue­rei­ge­län­de), an denen auf 5 ver­schie­de­nen Floors paar­wei­se ge­tanzt wer­den kann (Ki­zom­ba, Salsa Cu­ba­na, Mambo, Bach­ata, Zouk), sind schlicht­weg eine In­sti­tu­ti­on. Am Spree­ufer sind im Som­mer fast täg­lich Tanz­ver­an­stal­tun­gen unter frei­em Him­mel zu fin­den, die die Hin­ga­be die­ser Com­mu­ni­ty wie­der­spie­geln: Die Ver­an­stal­tun­gen sind gra­tis, die bes­ten DJs der

Stadt stel­len ihr Kön­nen zur Ver­fü­gung und Men­schen jeden Al­ters, mit den ver­schie­dens­ten kul­tu­rel­len und so­zia­len Hin­ter­grün­den be­we­gen sich in Paa­ren rhyth­misch zur Musik. Da­ne­ben gibt es jähr­li­che Fes­ti­vals, wie den Ber­lin Salsa Con­gress (für Salsa), Ber­lin Kiz­zes (für Ki­zom­ba) und Ritmo (für Bach­ata), wo gleich meh­re­re Tage hin­ter­ein­an­der weg Tanz­kur­se und Tanz­aben­de be­sucht wer­den kön­nen.

Die Zeit der Pan­de­mie, die Paar­tan­zen­de schwer ge-

trof­fen hat, war auch für die gro­ßen Tanz­schu­len wie Mam­bi­ta, Cum­ban­cha oder Dolce Vita Dance eine echte Her­aus­for­de­rung - doch mit Mas­ken, HEPA Fil­tern, Spen­den und di­ver­sen Vor­sichts­maß­nah­men wurde ihr er­folg­reich ge­trotzt. Tan­zen ist aus dem Leben ein­fach nicht weg­zu­den­ken - wo ge­lebt wird, wird ge­tanzt. Dies war ge­ra­de in Zei­ten die­ser gro­ßen, zwi­schen­mensch­li­chen Di­stanz eine Quel­le der Freu­de und des Ge­fühls der Ver­bun­den­heit in Ber­lin.

Ob Tango, Salsa oder Zouk: Der Paar­tanz stellt eine Form der kul­tur­über­grei­fen­den Kom­mu­ni­ka­ti­on dar, in der keine Worte not­wen­dig sind: Durch Be­we­gungs­codes, Musik und Rol­len­auf­tei­lun­gen wird ein Be­we­gungs­rah­men ge­stal­tet, in dem Tän­zer und Tän­ze­rin­nen ihrem krea­ti­ven Aus­druck frei­en Lauf las­sen kön­nen. Durch die Über­ein­kunft, dass eine Per­son den Tanz führt (der Lea­der, tra­di­tio­nell ge­se­hen die Rolle des Man­nes) und eine Per­son im Tanz folgt (der Fol­lower, tra­di­tio­nell ge­se­hen die Rolle der Frau) wer­den syn­chro­ni­sier­te Be­we­gun­gen er­mög­licht. Hier­durch ent­steht ein Pro­zess der Emer­genz, in dem der Tanz nicht nur die in­di­vi­du­el­len Be­we­gun­gen zwei­er Per­so­nen dar­stellt, son­dern ein neues, rhyth­mi­sches Bild ge­zeich­net wird. Damit er­ge­ben sich viel­fäl­ti­ge Ge­stal­tungs­mög­lich­kei­ten über die ei­gent­li­chen Tanz­schrit­te hin­aus.

Tra­di­tio­nel­le Rol­len­bil­der wer­den auf­ge­ho­ben oder über­trie­ben (bspw. über Klei­dung oder tra­di­tio­nell mas­ku­li­ne und fe­mi­ni­ne Be­we­gungs­sti­le), Ele­men­te

aus an­de­ren Tanz­rich­tun­gen über­nom­men oder die abend­li­che Laune in be­son­ders ge­fühl­vol­len, zu­rück­hal­ten­den oder en­er­ge­ti­schen Be­we­gun­gen aus­ge­drückt, die wech­sel­sei­tig vom Part­ner auf­ge­grif­fen und in­ter­pre­tiert wer­den kön­nen. So bie­tet jeder ein­zel­ne Tanz die Ge­le­gen­heit, einen in­di­vi­du­el­len Aus­druck von Stär­ke, Sen­sua­li­tät, und Selbst­be­wusst­sein zu fin­den. Das Er­geb­nis ist eine be­son­de­re Form des Em­power­ments, wel­ches die sub­jek­ti­ve Er­fah­rung der Tan­zen­den und der Be­ob­ach­ten­den prägt. Damit dies ge­lin­gen kann, ist Ver­trau­en not­wen­dig. Ver­trau­en auf Sei­ten des Fol­lowers, dass sorg­sam mit dem Kör­per um­ge­gan­gen wird, der ge­führt wer­den darf. Ver­trau­en auf Sei­ten des Lea­ders, dass der Fol­lower den Be­we­gungs­im­pul­sen folgt, die vom Lea­der ge­stal­tet wer­den.

Was pas­siert je­doch, wenn das Ver­trau­en miss­braucht wird?

In Ber­lin wur­den immer wie­der Stim­men von Frau­en laut, die in der Paar­tanz­sze­ne se­xu­ell be­läs­tigt wur­den. In Chat­grup­pen, in denen sich Tanz­be­geis­ter­te über die Neu­ig­kei­ten zu Tanz­kur­sen und Tanz­ver­an­stal­tun­gen aus­tau­schen, kam es an­läss­lich die­ser Be­rich­te zu regen Dis­kus­sio­nen. Die Mei­nun­gen gin­gen häu­fig weit aus­ein­an­der - es han­de­le sich um Ein­zel­fäl­le, die in der Ver­ant­wor­tung der Be­trof­fe­nen lägen, oder aber um ein na­he­zu all­um­fas­sen­des Pro­blem in Ber­lin, das von or­ga­ni­sa­to­ri­scher Seite, das heißt sei­tens Ver­an­stal­ter:innen und Tanz­leh­rer:innen ge­klärt wer­den müsse. Nun hat eine klei­ne Grup­pe von Tanz-

be­geis­ter­ten die In­itia­ti­ve er­grif­fen und auf ei­ge­ne Kos­ten eine Um­fra­ge kon­zi­piert und aus­ge­führt, um ein ge­naue­res Bild über das Aus­maß der Be­läs­ti­gun­gen zu er­hal­ten.

Die Er­geb­nis­se sind er­nüch­ternd. In­ner­halb nur einer Woche haben rund 450 Paar­tan­zen­de aus den ver­schie­dens­ten Tanz­be­rei­chen, von Salsa bis Swing, den Fra­ge­bo­gen aus­ge­füllt (68% Frau­en, 27% Män­ner, 1% nicht-binär, 4% ohne An­ga­be). Zwei Drit­tel aller Teil­neh­men­den gaben an, un­an­ge­mes­se­nes Ver­hal­ten er­lebt zu haben - 80% der teil­neh­men­den Frau­en, 33% der Män­ner - ein kla­res Ge­fäl­le. Weib­li­che POC (Peop­le Of Color) waren mit 84% am häu­figs­ten be­trof­fen. Bei dem un­an­ge­mes­se­nen Ver­hal­ten ging es in 70% der Fälle um kör­per­li­che und se­xu­el­le Über­grif­fe, bspw. un­er­wünsch­te Be­rüh­run­gen oder Küsse bis hin zu Ver­ge­wal­ti­gun­gen, ge­folgt von emo­tio­na­ler und di­gi­ta­ler Ge­walt, bspw. Gas­ligh­ting, Stal­king oder Cat­cal­ling (je­weils 40% und 30% der Fälle). Bei 50% der Teil­neh­men­den hat diese Er­fah­rung dazu ge­führt, dass sie mit dem Tan­zen auf­hör­ten oder auf­hö­ren woll­ten.

"Das Er­geb­nis be­stä­tigt lei­der un­se­re Be­fürch­tung, dass es sich hier um ein struk­tu­rel­les Pro­blem han­delt", so eine der in­iti­ie­ren­den Per­so­nen. "Es drängt sich die Ver­mu­tung auf, dass Frau­en­feind­lich­keit immer noch die Rea­li­tät ist - auch in Ber­lin. Frau­en müs­sen ihre Gren­zen aktiv ver­tei­di­gen, Män­ner haben erst­mal die Be­rech­ti­gung, diese Gren­zen zu

über­schrei­ten. Diese Auf­fas­sung ist be­son­ders in die­ser Kon­stel­la­ti­on, wo die kör­per­li­che Nähe in der Natur der Sache liegt, Gift." Der Paar­tanz bie­tet in Zei­ten der zu­neh­men­den so­zia­len Iso­la­ti­on Ge­le­gen­heit, an­de­ren Men­schen in einem ge­re­gel­ten Rah­men nä­her­zu­kom­men. Ist die kör­per­li­che Nähe je­doch die Haupt­mo­ti­va­ti­on und das Tan­zen wird le­dig­lich als Ve­hi­kel für eine In­ter­ak­ti­on mit dem an­de­ren Ge­schlecht be­nutzt, wird das weder dem Tanz ge­recht, noch der Ver­ant­wor­tung für den Tanz­part­ner. Eine der Teil­neh­men­den be­schreibt: "Wäh­rend ich Bach­ata im Soda Club tanz­te, nahm ein Typ meine Hand und legte sie auf sei­nen eri­gier­ten Penis". Bei­spie­le wie diese zei­gen, dass die Tan­z­eti­ket­te ganz be­wusst miss­ach­tet wird. Ein schö­ner Abend wird auf diese Weise rui­niert, ein Hobby wird zum Ri­si­ko für das Wohl­be­fin­den und die ei­ge­ne Si­cher­heit.

Wie kann die­ses Pro­blem ge­löst wer­den? In grö­ße­ren Clubs gibt es Tür­ste­her, diese bie­ten je­doch in der Regel nur wenig Si­cher­heit. Schlimms­ten­falls wird nach dem Motto "Aus­sa­ge gegen Aus­sa­ge" gar nichts un­ter­nom­men. Die Tat­sa­che, dass stän­dig neue Ver­an­stal­tun­gen ent­ste­hen, zum Teil pri­vat or­ga­ni­siert, ist in einer Stadt wie Ber­lin be­son­ders reiz­voll, bie­tet Ab­wechs­lung und neue Im­pul­se - aber hier gibt es große Un­ter­schie­de, was die Pro­fes­sio­na­li­tät der Ver­an­stal­tung und die Hal­tung der Or­ga­ni­sa­tor:innen und Be­su­chen­den ge­gen­über Frau­en an­geht. Ge­ra­de Neu­lin­ge lau­fen hier Ge­fahr, schlech­te Er­fah­run­gen zu ma­chen und sind häu­fig un­si­cher, was im Rah­men

eines Tan­zes "er­laubt" ist, wo ein Über­griff be­ginnt und wie sie am bes­ten re­agie­ren sol­len. Dies zeigt sich auch an­hand der Um­fra­ge. Die Teil­neh­men­den wur­den ge­fragt, wel­che Lö­sungs­an­sät­ze wün­schens­wert wären. 70% wün­schen sich das The­ma­ti­sie­ren von Con­sent (Ein­wil­li­gung) im Tanz­un­ter­richt, knapp über 60% wün­schen sich, dass Tanz­leh­rer:innen, Or­ga­ni­sa­tor:innen und DJs da­hin­ge­hend spe­zi­ell ge­schult wer­den und na­he­zu 60% wün­schen sich das Aus­schlie­ßen von über­grif­fi­gen Per­so­nen von Tanz­ver­an­stal­tun­gen.

Be­son­ders schwie­rig ist es, die Ver­an­stal­ter:innen und Tanz­leh­rer:innen für das Thema zu sen­si­bi­li­sie­ren, denn das Thema wird gerne ver­harm­lost oder ver­schwie­gen. Tan­zen soll Spaß ma­chen, eine Flucht vor dem All­tag bie­ten, da ist ein Dis­kurs über Ge­walt nicht sehr be­quem - be­son­ders wenn es um hart er­kämpf­ten Pro­fit geht. Ein "Awa­re­ness Team", das auf Ver­an­stal­tun­gen er­kenn­bar ist und an­ge­spro­chen wer­den kann, Pos­ter, Öf­fent­lich­keits­ar­beit könn­ten zu einer Sen­si­bi­li­sie­rung für das Thema bei­tra­gen und es Be­trof­fe­nen er­leich­tern, sich zu weh­ren. Am wich­tigs­ten ist es je­doch, die Per­so­nen zur Ver­ant­wor­tung zu zie­hen, die sich schul­dig ma­chen - dies kann eben auch den Aus­schluss von Ver­an­stal­tun­gen oder aus dem Tanz­un­ter­richt be­deu­ten, wenn je­mand durch wie­der­hol­te Über­grif­fe auf­fällt. Dar­über hin­aus muss es einen ak­ti­ven Dia­log auf der Ver­an­stal­tungs­ebe­ne geben, um eine Kul­tur­än­de­rung in der Szene an­zu­sto­ßen. Ver­an­stal­ter:innen müs­sen zu Ver­bün­de­ten

der­je­ni­gen Per­so­nen wer­den, die am stärks­ten unter den Über­grif­fen lei­den und diese aktiv schüt­zen. Dass es sich hier um ein Pro­blem han­delt, das weit über Ber­lin hin­aus­geht, be­schreibt Li­lia­na de Lima, in­ter­na­tio­nal re­nom­mier­te Tän­ze­rin, Tanz­leh­re­rin und Or­ga­ni­sa­to­rin im Be­reich des Tar­ra­xo und Urban Kiz (Ab­le­ger des ur­sprüng­li­chen, an­go­la­ni­schen Ki­zom­ba). Auf ihrem In­sta­gram Ac­count äu­ßert sie: "Frau­en und Män­nern wer­den nicht die glei­chen Stan­dards auf­er­legt in der so­zia­len Tanz­sze­ne von Urban Kiz und Ki­zom­ba. [...] Frau­en wer­den häu­fig als "leicht" oder "nut­tig" be­zeich­net, wenn sie ein­fach nur den Tanz ge­nie­ßen. In einer Tanz­ver­bin­dung für mehr als 30 Mi­nu­ten zu blei­ben, oder mit ge­schlos­se­nen Augen zu Tan­zen, wird ein Grund für Ver­ur­tei­lung - das heißt, wenn du eine Frau bist. Wäh­rend­des­sen leben die Män­ner ihr bes­tes Leben. Über mul­ti­ple Sex­part­ner wäh­rend nur einem Wo­chen­en­de wird Witze ge­macht, es wird sogar dazu er­mu­tigt, wenn du ein männ­li­cher DJ oder Or­ga­ni­sa­tor bist. Fremd­ge­hen wird als nor­mal er­ach­tet bei vie­len Män­nern in der Szene, weil es nicht zählt, wenn es wäh­rend eines Fes­ti­vals pas­siert, rich­tig?" (von dem/der Autor:in über­setzt aus dem Eng­li­schen). Die­ses State­ment zeigt, wie tief die Frau­en­feind­lich­keit auch auf or­ga­ni­sa­to­ri­scher Ebene ver­an­kert ist.

Nur wenn es ge­lingt, auf ver­schie­de­nen Ebe­nen Ver­än­de­rung zu be­wir­ken, kann die Paar­tanz­sze­ne zu dem wer­den, was sie ei­gent­lich sein soll - ein Ort der Be­geg­nung, der Krea­ti­vi­tät, des Fei­erns ver­schie-

dens­ter Kul­tu­ren und des Mensch­seins an sich.


ALIAS:
Bei Interesse an dem Thema melden Sie sich gerne:
dancers4dancers.berlin@gmail.com


Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

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Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Reto Thumiger
E-Mail: redaktion.berlin@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 21. Dezember 2024

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