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INTERNATIONAL/005: China - Weniger Selbstmorde, Männer und ältere Menschen suizidgefährdeter (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 22. Februar 2011

China: Weniger Selbstmorde - Doch mehr Männer und ältere Menschen suizidgefährdet

Von Mitch Moxley


Peking, 22. Februar (IPS) - In China sind zwar generell weniger Menschen suizidgefährdet als noch vor 20 Jahren. Doch gibt es gesellschaftliche Segmente, die immer häufiger im Freitod die Lösung ihrer Probleme sehen. So gibt es immer mehr Männer und ältere Menschen, die ihr Leben im bevölkerungsreichsten Wirtschaftswunderland beenden.

Noch vor zehn Jahren stammten die meisten Selbstmordkandidaten aus der Landbevölkerung. Nach Angaben des chinesischen Gesundheitsministeriums ist die Zahl jedoch um 30 Prozent gesunken. Auch waren es damals vorwiegend Frauen, die ihrem Leben ein Ende setzten.

Inzwischen sind es immer häufiger ältere Städter, die den Freitod wählen. Die Selbstmordrate in der Altersgruppe der 70- bis 74-Jährigen ist nach amtlichen Angaben von statistischen 13,39 pro 100.000 in den 1990er Jahren auf 33,76 pro 100.000 im Zeitraum 2000 bis 2009 in die Höhe geschnellt.

Die Senioren treiben vor allem die steigenden Kosten für ihre medizinische Versorgung und die Umsiedlung aus den Stadtzentren in die Randgebiete in die Depression, wie Jing Jun, Professor an der Soziologischen Fakultät der Tsinghua-Universität berichtet. Während sich das Land rapide entwickelt, sehen sich immer mehr Menschen im fortgeschrittenen Alter zur Aufgabe ihrer traditionellen Wohnsituation gezwungen. Andere Senioren wiederum kommen nicht damit zurecht, außerhalb der Familie alt werden zu müssen.


Weniger Selbstmorde unter Frauen

Demgegenüber sind Frauen aus den ländlichen Gebieten längst nicht mehr so suizidgefährdet wie noch vor 20 Jahren. Wissenschaftler erklären dies mit der gravierenden Stadtflucht, die viele Chinesinnen aus ihrer untergeordneten Rolle in der Familie befreite. Dieser Trend hat die Selbstmordrate im Lande von 1987 bis 2008 von statistischen 17,65 pro 100.000 auf 6,6 pro 100.000 Menschen nach unten gedrückt. Damit lag die Volksrepublik in jenem Jahr sogar noch unterhalb des globalen Durchschnitts von 14,5 Selbstmorden pro 100.000 Menschen.

Eine bemerkenswerte Leistung, wenn man bedenkt, dass China zu den Ländern mit der höchsten Selbstmordraten der Welt zählte. So geht aus einer Studie des Pekinger Zentrums für die Erforschung und Verhinderung von Selbstmorden aus dem Jahre 2007 hervor, dass sich damals noch mehr als 287.000 Festlandchinesen umgebracht hatten. Die meisten Suizide in den Städten waren die Folge von Stress und Depressionen.

Der gleichen Untersuchung zufolge stellten Frauen die Hälfte der Opfer. Die gängigste Methode, ihrem Leben ein Ende zu setzen, war die Einnahme von Pestiziden. Selbstmorde forderten in der Altersgruppe der 15- bis 34-Jährigen die meisten Todesopfer. Mehr als 20 Prozent von 140.000 Oberschülern, die im Rahmen einer zweijährigen Evaluierung befragt worden waren, gaben an, schon einmal den Freitod in Erwägung gezogen zu haben.

Im letzten Jahr sorgte eine Selbstmordserie in den Fabriken des iPad-Produzenten 'Foxconn-Technologies' in der wirtschaftlich brummenden Stadt Shenzhen im Süden Chinas für Aufmerksamkeit. Die Suizide wurden mit den schlechten Arbeitsbedingungen und langen Arbeitszeiten bei Foxconn verantwortlich gemacht.


Junge Menschen depressiver

Experten zufolge leiden auch viele junge Chinesen unter Isolation und Depressionen im Zuge der massiven sozialen Umwandlungen. Wie Wu Fei erklärte, Außerordentlicher Professor an der Philosophischen Fakultät der Universität Peking, sind Selbstmorde kein traditionell chinesisches Problem. Vielmehr seien viele Chinesen überfordert gewesen, mit dem schnellen sozialen Transformationsprozess der letzten drei Jahrzehnte Schritt zu halten. Chinas Wirtschaftswachstumskurs habe viele soziale und innerfamiliäre Schwierigkeiten nach sich gezogen. Streitende Paare und prügelnde Eltern würden zwar gern ignoriert, hätten sich aber zu grundlegenden Problemen ausgewachsen.

Zhan Chunyun, Vorsitzender der Kangning-Psychologie-Hotline in Guangzhou, macht auch die offizielle Ein-Kind-Politik für die hohe Selbstmordrate unter jungen Leuten verantwortlich. Mit den an die Einzelkinder gerichteten Erwartungen seien viele schlichtweg überfordert.

Zhang zufolge sorgt die Regierung zwar für psychologische Kliniken, doch beschränken sich die meisten Häuser auf die Ausgabe von Medikamenten. Das soll nun anders werden. So kündigte ein Sprecher des chinesischen Gesundheitsministeriums an, dass es mehr Beratungsstellen für Selbstmordkandidaten geben werde. (Ende/IPS/kb/2011)


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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Februar 2011