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JUGEND/329: Integration Inhaftierter - Die Weichen werden im Gefängnis gestellt (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 2/2015 - Nr. 110

Die Weichen werden im Gefängnis gestellt

Von Matthias Müller und Ulrike Richter


Straffällig gewordenen jungen Menschen fällt es schwer, sich nach der Haft wieder in ein normales Leben einzufinden. Viele scheitern in der Arbeitswelt. Eine DJI-Studie gibt Hinweise, wie die Integration in Ausbildung und Beruf künftig besser gelingen könnte.


Jugendliche Straffällige wählen nach der Haftentlassung verschiedene Wege: Ein Teil setzt die Schule fort, andere beginnen eine Ausbildung; ein anderer Teil entscheidet sich für prekäre Arbeitsverhältnisse - oftmals als ungelernte Beschäftigte - oder bezieht Transferleistungen nach dem SGB II (Hartz IV). Ein Leben "auf alten Wegen" birgt jedoch die Gefahr erneuter Straffälligkeit, die schlimmstenfalls zurück ins Gefängnis führt. Das langfristige Ziel einer beruflichen Integration mit einem Einkommen, das den Lebensunterhalt sichert, hängt im Wesentlichen von zwei Faktoren ab: zum einen von der individuellen Qualifikation des jungen Erwachsenen und zum anderen vom begleitenden Unterstützungssystem.

Mit dem Bundesprogramm "Xenos - Integration und Vielfalt" wird versucht, den Übergang jugendlicher Inhaftierter von der Haft in die Freiheit besser zu gestalten und sie bei der Integration in Ausbildung oder Arbeit zu begleiten. Das Programm verbindet Akteure der Bewährungshilfe, der Justiz und der Arbeitsverwaltung mehrerer Bundesländer. Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) begleitete dieses Programm wissenschaftlich und befragte dazu unter anderem 239 junge Inhaftierte aus 15 Strafanstalten. Insgesamt 69 Jugendliche nahmen an einer Wiederholungsbefragung teil.


Nur ein Fünftel der jungen Inhaftierten besucht schulische Angebote

Nur etwas mehr als die Hälfte (58,5 Prozent) der jugendlichen Strafgefangenen verfügt über einen Schulabschluss als Voraussetzung für eine berufliche Ausbildung. Der Anteil von Inhaftierten mit einer erfolgreich abgeschlossenen Ausbildung liegt unter 6 Prozent. Zu diesem Ergebnis kommt die Basisbefragung (Richter/Müller 2014). Demnach scheint es für die Integration in Ausbildung und Arbeit entscheidend zu sein, schulische Defizite in der Haft abzubauen, um die Voraussetzung für berufliche Bildung zu schaffen. Vielen Jugendlichen fehlen aber nicht nur Schulabschlüsse, sondern auch grundlegende Kenntnisse im Rechnen oder Schreiben. Außerdem sind persönliche Fähigkeiten wie konstruktives Konfliktverhalten, Zuverlässigkeit gegenüber Arbeitgebern oder ein stabiler Lebenswandel oft kaum ausgeprägt. Daher empfiehlt es sich auf der Ebene der Hilfesysteme, die institutionelle Schnittstelle zwischen Haft und Freiheit durch eine Vernetzung der Akteure des Justizvollzugs und der Arbeitsverwaltung zu überbrücken. Obwohl der Anteil junger Inhaftierter ohne Schulabschluss in der Untersuchungsgruppe recht hoch ist (41,5 Prozent), nutzten relativ wenige während der Haft schulische Angebote (20,7 Prozent). Dies ist insofern überraschend, da Experteninterviews zeigen, dass die Motivation der Jugendlichen hoch ist, während der Haft an Angeboten teilzunehmen.

Immerhin nahm jeweils knapp ein Drittel der Jugendlichen, die keinen Abschluss oder einen Förderschulabschluss hatten, das Angebot zum Schulunterricht wahr. Außerdem besuchte jeder zehnte Inhaftierte mit einem Hauptschulabschluss oder einem mittleren Schulabschluss entsprechende Angebote. Einige Jugendliche nutzten die Haftzeit, um eine Berufsausbildung zu beginnen oder fortzusetzen. Ein Drittel der Strafgefangenen befand sich zum Zeitpunkt der Basisbefragung in einer Ausbildung. Von diesen Jugendlichen war etwa jeweils die Hälfte ohne jegliche Ausbildungserfahrung (46,2 Prozent) oder ohne Ausbildungsabschluss (48,7 Prozent). Vor dem Hintergrund, dass mehr als die Hälfte aller Befragten (57,5 Prozent) noch nie eine Ausbildung angefangen haben, stellt sich die Frage, weshalb nicht mehr Inhaftierte eine Ausbildung beginnen. Einerseits lässt sich das damit erklären, dass die Haftzeit für einen Ausbildungsabschluss oft nicht ausreichen würde. Andererseits liegen Ursachen in der begrenzten Angebotsstruktur der Justizvollzugsanstalten.

Strafgefangene leiden während ihrer Haft häufig unter einer fehlenden beruflichen Perspektive. Entsprechend positiv bewerten sie Angebote zur Berufsorientierung, zu Bewerbungstrainings und zur Schul- sowie Berufsausbildung. Die meisten Jugendlichen entwickeln in der Haft sogar konkrete Pläne für eine Ausbildung oder eine Arbeit, die sie nach der Haftzeit verwirklichen wollen. Sie äußern sich sehr zuversichtlich, diese Pläne nach der Entlassung realisieren zu können, auch dann, wenn dies nicht ihrer bisherigen Berufs- und Bildungsbiografie entspricht.


Im ersten Jahr nach der Haftentlassung verschlechtert sich der Status stetig

Die Hälfte der Jugendlichen befindet sich drei Monate nach der Entlassung in einer Ausbildung, einer festen Arbeitsstelle oder in der Selbstständigkeit (Müller/Richter 2015). Schon nach einem weiteren dreiviertel Jahr ändert sich dieses Bild: Viele der jungen Erwachsenen arbeiten erneut in verschiedenen Aushilfsjobs oder erhalten Transferleistungen nach SGB II, da sich ihre Stellen häufig als nicht stabil erwiesen haben. Demnach ist das erste Jahr für viele Jugendliche eine Zeit, die mit hohen Erwartungen beginnt und häufig mit einer stetigen Statusverschlechterung endet.

Eine Ausnahme bildet die Gruppe junger Strafgefangener, die während der Haft eine Ausbildung abgeschlossen haben: Ihr Weg führt nach der Entlassung grundsätzlich in feste Arbeitsverhältnisse und ihr Leben weist weniger Instabilität auf. Berufsausbildungen während der Haft anzubieten ist demnach ein entscheidender Faktor für eine nachhaltige und weiterführende berufliche Integration nach einer Haftentlassung.

Lange Phasen der Arbeitslosigkeit oder der Besuch von Übergangsmaßnahmen, die den jungen Menschen kaum Zukunftsperspektiven eröffnen, haben hingegen negative Auswirkungen auf die Motivation. Während der Haft bewertete die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen Bildungsangebote, die in der Haft besucht wurden, als hilfreich oder sogar sehr hilfreich (zwischen 92 Prozent und 95 Prozent). Dieses positive Urteil verschlechtert sich nach der Haftentlassung sukzessive. So müssen die Jugendlichen die Erfahrungen machen, dass auch ein Schulbesuch in der Haft oder ein berufsorientierendes Angebot nach der Entlassung nicht notwendigerweise zu einem Ausbildungsplatz oder einem festen Arbeitsverhältnis führen. Nach einer Zeit der Erfolglosigkeit besteht die Gefahr der Resignation und eines Rückgangs an Bemühungen, eine passende Arbeit zu finden.

Bemerkenswert ist, dass die befragten Jugendlichen ungeachtet dieser Unsicherheiten ihre finanzielle Lage als stabil und verbessert erleben, was zu einer höheren Zufriedenheit führt. Somit sind Arbeit und Einkommen in dieser Gruppe von jungen Menschen teilweise entkoppelt, weil sie offenbar auch mit Transferleistungen oder sonstigen Einkommensquellen zurechtkommen.


Den Übergang von der Haft in die Freiheit länger begleiten

Die Ergebnisse legen nahe, dass es für die erfolgreiche Integration ehemaliger jugendlicher Strafgefangener in Ausbildung und Arbeit besser ist, wenn sie nach der Haftentlassung länger als nur drei Monate professionell begleitet werden. Möglicherweise könnten dadurch Abbrüche vermieden oder kurzfristig andere Hilfsangebote gefunden werden. Desweiteren gibt es Hinweise darauf, dass die Offenheit der Jugendlichen für eine Beratung drei Monate nach ihrer Haftentlassung noch sehr hoch ist, dann aber kontinuierlich abnimmt. Dieses Zeitfenster der aktiven Informationssuche sollte künftig besser genutzt werden, auch wenn die professionellen Berufs- und Ausbildungsberater der Bundesagentur für Arbeit und das Jobcenter bislang noch zu wenig von den jungen Erwachsenen aufgesucht werden. Stattdessen nennen viele ihre Eltern als wichtigste Ratgeber. Diese verfügen jedoch nicht unbedingt über die notwendigen Kenntnisse.

Eine bessere Integration jugendlicher Straftäter nach der Haftentlassung setzt ein abgestimmtes Vorgehen aller beteiligten Institutionen wie der Justiz, der Bundesagentur für Arbeit, der Jobcenter und der Wirtschaft beziehungsweise der Betriebe voraus. Die Untersuchung belegt, dass gerade jene Ansätze eine gute Wirkung entfalten, die sowohl individuelle Lernprozesse als auch das Unterstützungssystem verbessern.


KASTEN
 
Das Bundesprogramm Xenos

Das vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales und vom Europäischen Sozialfonds geförderte Programm "XENOS - Integration und Vielfalt" lief zwischen den Jahren 2008 und 2014. Ziel war es, präventive Maßnahmen gegen die Ausgrenzung und die Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft zu fördern. In der zweiten Förderrunde zwischen 2012 und 2014 lag der Fokus darauf, den Zugang von benachteiligten Jugendlichen in eine Ausbildung oder eine Beschäftigung zu verbessern. Dadurch sollte ihnen die Integration in den Arbeitsmarkt und damit auch die Teilhabe an der Gesellschaft erleichtert werden. Das Deutsche Jugendinstitut evaluierte diese Förderrunde mit 102 Projekten und begleitete sie wissenschaftlich. Mehr Informationen stehen unter:
www.xenos-panorama-bund.de


DER AUTOR, DIE AUTORIN

Matthias Müller hat Soziologie, Psychologie und Erziehungswissenschaft studiert. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsschwerpunkt "Übergänge im Jugendalter" am Deutschen Jugendinstitut (DJI) und gehörte dem Team der wissenschaftlichen Begleitung des Bundesprogramms "Xenos - Integration und Vielfalt" an. Derzeit arbeitet er am DJI in der "Transferagentur Mitteldeutschland für kommunales Bildungsmanagement - TransMit". Seine Forschungsschwerpunkte sind die Forschung zu Übergangspassagen Jugendlicher und zur Gestaltung kommunaler Bildungsstrukturen.
Kontakt: mmueller@dji.de

Ulrike Richter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsschwerpunkt "Übergänge im Jugendalter" am DJI. Im Team der wissenschaftlichen Begleitung des Programms "Xenos - Integration und Vielfalt" untersuchte sie Projekte zur Gleichstellung von Männern und Frauen. Zudem analysierte sie förderliche und hinderliche Bedingungen der Projektarbeit in Fallstudien. Gegenwärtig arbeitet sie in der "Transferagentur Mitteldeutschland für kommunales Bildungsmanagement - TransMit" am DJI. Dort erforscht sie, welche Möglichkeiten die Verwaltungen nutzen, um das Bildungsgeschehen in ihrer Kommune zu koordinieren.
Kontakt: urichter@dji.de


Literatur

- RICHTER, ULRIKE/MÜLLER, MATTHIAS (2014):
Wege aus der Haft. Erste Ergebnisse der Basisbefragung junger Strafgefangener in Xenos-Projekten. Halle

- MÜLLER, MATTHIAS/RICHTER, ULRIKE (2015):
Wege aus der Haft - Befragung junger Inhaftierter zu ihren Zukunftsperspektiven nach der Haft. In: Bewährungshilfe Heft 1, S. 43-55


DJI Impulse 2/2015 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 2/2015 - Nr. 110, S. 32-34
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
Nockherstraße 2, 81541 München
Telefon: 089/623 06-140, Fax: 089/623 06-265
Internet: www.dji.de/impulse
 
DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos bestellt und auf Wunsch auch abonniert
werden unter impulse@dji.de.


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Dezember 2015

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