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KRIMINALITÄT/075: Indien - Kinderhandel grassiert in entlegenen Dörfern (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 15. September 2014

Indien: Kinderhandel grassiert in entlegenen Dörfern

von K.S. Hariskrishnan


Bild: © Sujoy Dhar/IPS

Alle acht Minuten verschwindet in Indien ein Kind
Bild: © Sujoy Dhar/IPS

Thiruvananthapuram, Indien, 15. September (IPS) - In einem Land, in dem weit mehr als die Hälfte der rund 1,2 Milliarden Einwohner mit weniger als zwei US-Dollar am Tag auskommen muss, lassen sich die Menschen nicht leicht schockieren. Verzweifelte Familien, die auf der Suche nach Einkommen und Nahrung sind, ganze Dorfgemeinschaften, die ihre Notdurft im Freien verrichten, und ältere Frauen, die schwere körperliche Arbeit leisten, sind auf dem Subkontinent ein gewohnter Anblick.

Und doch gibt es inmitten dieses tief verwurzelten Elends nach wie vor Verbrechen, die die Öffentlichkeit in Rage bringen. Dazu gehört der Handel mit Kindern, der in den Medien der Bundesstaaten, in denen tausende Heranwachsender skrupellosen Menschenhändlern in die Hände fallen, für Schlagzeilen sorgt.

Am 5. Juni wurde der Wanderarbeiter Shakeed Ahamed im Zusammenhang mit Kinderhandel festgenommen. Ihm wird vorgeworfen, muslimischen Waisenhäusern im südindischen Bundesstaat Kerala mehr als 580 Kinder aus armen Familien zugeführt zu haben. Der Fall löste im ganzen Land Empörung aus.

Auch in den Staaten Andhra Pradesh, Bihar, Karnataka, Uttar Pradesh, Maharashtra, Madhya Pradesh, Rajasthan, Jharkhand, Chhattisgarh und Westbengalen wird offenbar systematisch mit Kindern gehandelt. "Die Opfer werden angelockt oder entführt. Dann werden sie in unterschiedlichen Einrichtungen zum Arbeiten oder zur Prostitution oder zu anderen erniedrigenden Tätigkeiten gezwungen und oft sogar getötet", berichtete das nationale Amt für Kriminalstatistiken (NCRB).


Menschenhandel nimmt zu

Laut den vorliegenden Daten sind die offiziell erfassten Verbrechen im Zusammenhang mit Menschenhandel zwischen 2009 und 2012 von 2.848 auf 3.554 Fälle gestiegen. 2012 erklärte der damalige Innenminister Jitendra Singh vor dem Oberhaus des Parlaments, dass im Vorjahr fast 60.000 Kinder als vermisst gemeldet worden seien. Von mehr als 22.000 fehle weiterhin jede Spur, sagte er.

Wie viele Kinder bisher Opfer von Menschenhändlern geworden sind, lässt sich nicht genau feststellen. Regierung und unabhängige Organisationen stimmen darin überein, dass etwa alle acht Minuten ein Kind in Indien verschwindet. Menschenrechtsgruppen sehen die Armut als einen der Faktoren, die den Kinderhandel begünstigen. In dem Globalen Hungerindex 2013 kommt Indien unter insgesamt 78 untersuchten Ländern auf den 63. Platz. Demnach mussten im vergangenen Jahr 21,3 Prozent aller Inder hungern.

Nach Angaben der Weltbank stehen 68,3 Prozent der Bevölkerung weniger als zwei Dollar täglich zur Verfügung. "Sozio-ökonomische Rückständigkeit ist einer der wichtigsten Gründe für Kinderhandel", bestätigt der Richter J. B. Koshy, der früher dem High Court in Patna vorsaß und die Menschenrechtskommission von Kerala leitet. Zudem trieben Verbindungen zwischen Mafia und Politik den Handel mit Kindern in entlegenen Landesteilen voran.

"Viele Eltern können sich noch nicht einmal das Nötigste leisten", berichtet Koshy. "Deshalb sehen sie sich gezwungen, ihre Kinder zu verkaufen. Einige Minderjährige werden von ihren Familien einfach sich selbst überlassen, andere laufen von zu Hause weg. Kriminelle und ihre Mittelsmänner gehen dann auf diese Kinder zu. Hübsche Mädchen werden auch mit Gewalt mitgenommen."

Laut einer 2005 durchgeführten Studie der Nationalen Menschenrechtskommission (NHRC) gehören die meisten Opfer von Menschenhändlern den unteren Schichten der Gesellschaft an. Schätzungsweise die Hälfte der innerhalb von Indien verkauften Kinder sind zwischen elf und 14 Jahren alt.

Aus einem 2006 verbreiteten Report von 'ECPAT International' sind etwa 32 Prozent der Mädchen mit dem HI-Virus infiziert oder haben bereits Aids. Andere wurden mit Geschlechtskrankheiten infiziert oder leiden an anderen gynäkologischen Problemen. Das hängt damit zusammen, dass die meisten verschleppten Mädchen sexuell ausgebeutet werden.

Eine von der Regierung 2003 in Auftrag gegebene Studie geht davon aus, dass die Zahl der Sexarbeiter von zwei Millionen im Jahr 1997 auf drei Millionen im Zeitraum 2003/2004 gestiegen ist. Viele von ihnen sollen im Alter zwischen zwölf und 15 Jahren sein. Sreelekha Nair, ehemalige Mitarbeiterin des Zentrums für Frauenstudien in Neu-Delhi, weiß, dass arme Eltern ihre Kinder oft freiwillig den Mittelsmännern der kriminellen Banden übergeben - manchmal für umgerechnet etwa 33 Dollar. Die Polizei habe nicht immer die Möglichkeit, in Familienangelegenheiten einzugreifen, sagt Nair.

Der indische Innenminister Rajnath Singh versprach kürzlich einer Gruppe von Aktivisten, die von der Generalsekretärin der Nationalen Vereinigung indischer Frauen, Annie Raja, angeführt wurde, dass eine Bundesbehörde den seit mehreren Jahren beobachteten massenhaften Handel mit Kindern in Dörfern des Distrikts Gumla im östlichen Staat Jharkhand untersuchen werde.

Die Aktivisten hatten Singh mitgeteilt, dass aus Dörfern in dem Distrikt jedes Jahr Tausende Mädchen spurlos verschwinden würden. Raja erklärte im Juli vor der Presse, dass die von den Bundesstaaten in Gang gebrachten Entwicklungsprojekte abgelegene Ortschaften oft nicht erreichten.


Gesetze unzureichend und nicht respektiert

Experten kritisieren zudem, dass die Einhaltung eines 1986 erlassenen Gesetzes gegen Menschenhandel nicht ausreichend überwacht werde. Viele monieren ferner, dass es Kindern keinen umfassenden Schutz bietet, weil es sich ausschließlich auf Menschenhandel mit dem Ziel der Prostitution bezieht.

P. M. Nair, Leiter der Abteilung zur Untersuchung von Menschenhandel beim UN-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) in Neu-Delhi und ehemaliger Generaldirektor der indischen Polizei, plädiert dafür, alle Akteure des Menschenhandels - vom Rekrutier bis zum Ausbeuter - zur Rechenschaft zu ziehen. Die Opfer hingegen dürften niemals stigmatisiert werden, sondern müssten eingehend betreut werden. Es sei wichtig, die Regierungsbehörden auf die Durchführung von Rehabilitierungsmaßnahmen zu verpflichten.

Organisationen wie die 'Child Line India Foundation' helfen Betroffenen, Zugang zu Rechtsbeistand, Ärzten und Beratern zu finden. (Ende/IPS/ck/2014)


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/09/child-trafficking-rampant-in-underdeveloped-indian-villages/

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IPS-Tagesdienst vom 15. September 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. September 2014