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STIGMA/006: Bolivien - Bettler und Prostituierte, Negativ-Image lastet auf Ayoréode-Indigenen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 27. Dezember 2012

Bolivien: Bettler und Prostituierte - Negativ-Image lastet auf Ayoréode-Indigenen

von Anna Infantas


Alltagsszene in der Ayoréode-Gemeinde Degüi in Santa Cruz, Bolivien - Bild: © Miguel Ángel Souza/IPS

Alltagsszene in der Ayoréode-Gemeinde Degüi in Santa Cruz, Bolivien
Bild: © Miguel Ángel Souza/IPS

Santa Cruz, Bolivien, 27. Dezember (IPS) - Mitten in einem der zahlreichen Straßenmärkte in der südostbolivianischen Stadt Santa Cruz de la Sierra hat sich eine Gruppe von Ayoréode-Indigenen niedergelassen. Vor allem Frauen und Kinder bevölkern die Bürgersteige, bieten Kunsthandwerk an und bitten um ein bisschen Kleingeld. "Kauf eine von meinen Halsketten, meine Schöne", sagt eine ältere Frau in gebrochenem Spanisch. "Schenk mir was", fordert ein barfüßiges Mädchen.

Santa Cruz de la Sierra hat rund drei Millionen Einwohner, eine halbe Million weniger als Berlin. Sie ist größtes Wirtschaftszentrum des Landes und weist das schnellste Bevölkerungswachstum Boliviens auf. Die Ayoréode sind die größte indigene Gruppe in der Stadt. Die Urbanisierung hat ihnen kein besseres Leben beschert. "Die Ayoréode werden heute hauptsächlich als Bettler gesehen und als Prostituierte", heißt es in einer Untersuchung über diese indigene Gruppe, die der Anthropologe Luca Citarella in diesem Jahr veröffentlicht hat.

Eine der zwei größten urbanen Ayoréode-Gemeinden lebt im Stadtteil Bolívar. 'Comunidad Degüi' steht auf einer Mauer. Rund 100 Familien leben in 86 Häusern, die aus Lehm und Zuckerrohr zusammengebaut sind. Insgesamt sind es rund 400 Menschen. Damit ist die Comunidad Degüi die größte der 29 Ayoréode-Gemeindem im ostbolivianischen Departement Santa Cruz.

"Auf dem Land haben wir keine Arbeit und keine Gesundheitsversorgung", sagt Isaac Chiqueno, der Anführer der Gemeinde in Bolívar. "Deshalb ist uns nichts anderes übrig geblieben als in die Stadt zu gehen." Bereits vor 70 Jahren hat der Untergang der Ayoréode-Kultur begonnen. Die Indigenen werden immer mehr von der europäisch assimilierten Mainstream-Kultur vereinnahmt.


Alltägliche Diskriminierung

Doch der Umzug in die Stadt hat die Lebenssituation der meisten Ayoréode nicht verbessert. "Das Leben in der Stadt ist ganz anders als auf dem Land. Die Diskriminierung ist hier weit verbreitet", sagt Teresa Nominé, die erste Ayoréode-Indigene mit einem Sitz im nationalen Parlament. "In den Krankenhäusern werden wir schlecht behandelt, und unsere Kinder in den Schulen benachteiligt."

Ursprünglich waren die Ayoréode Nomaden, die von Ort zu Ort zogen. Irgendwann ließen sie sich im Norden des Gran Chaco nieder, einem Gebiet, das sich über den Süden Boliviens sowie den Norden Paraguays und Argentiniens erstreckt. Schätzungen zufolge leben in der Region heute noch immer rund 5.600 dieser 'wahren Menschen', wie sie sich in ihrer Sprache Zamuco nennen.

Früher waren die Ayoréode Jäger und Sammler. Heute ernähren sich diejenigen, die noch in den Wäldern leben, hauptsächlich von dem, was sie selbst anpflanzen. In der Stadt hingegen sind viele der Indigenen auf dem Bau beschäftigt oder als Gärtner. Viele der Frauen tragen mit Kunsthandwerk zum Haushaltseinkommen bei. Sie nähen Taschen, knüpfen Armbänder und fädeln Halsketten auf.

Das Bild der Ayoréode in der Öffentlichkeit ist stark negativ besetzt. "Die Ayoréode gelten als deplatziert in der Stadt. Sie verhalten sich anders als man es von Stadtbewohnern erwartet. Sie werden vor allem als Bettler, Verbrecher und Prostituierte angesehen", sagt die Soziologin Irene Roca gegenüber IPS. "Sie sind das Sinnbild der städtischen Armut."

Aber es gibt auch die anderen Ayoréode, die weniger sichtbar sind, wie Isaac Chiqueno und seine Familie. Chiqueno ist 49 Jahre alt und hat als einer der ersten acht Schüler im vergangenen Jahr seinen Sekundarstufenabschluss am Bildungszentrum von Degüi gemacht. In diesem Jahr konnten sich weitere 15 qualifizieren.

Chiqueno will jetzt Politikwissenschaft an der Universität studieren. Seinen fünf Kindern hat er eingeimpft, dass ein Studium ihre einzige Chance ist, etwas aus sich zu machen. Tochter Luisa hat auf ihren Vater gehört: Sie studiert Sozialarbeit.


Hohe Müttersterblichkeitsrate

Neben der Bildung ist auch die Gesundheit der Ayoréode ein Problem. "In den Krankenhäusern vergessen die Ärzte häufig, dass auch wir Menschen sind", sagt die Parlamentsabgeordnete Nominé, die seit fünf Jahren in Santa Cruz lebt. "Aber auch uns steht eine menschenwürdige Behandlung zu."

Noch immer gibt es Ayoréode-Kinder, die an Durchfall sterben. Auch die Müttersterblichkeit ist hoch. Viele Schwangere kommen oftmals sehr spät ins Krankenhaus und brauchen Glück, um dort auf jemanden zu treffen, der sich ihrer annimmt, wie aus einem Mai-Bericht der nichtstaatlichen Hilfsorganisation für Indigene im Osten Boliviens hervorgeht. Darin wurde die Lebenssituation von mehr als 2.700 Ayoréode untersucht.

Dem Bericht zufolge ist der mangelnde Zugang zur Gesundheitsversorgung eine Folge der Diskriminierung. Politische Maßnahmen gegen die Benachteiligung sind bisher ausgeblieben. (Ende/IPS/jt/2012)


Links:

http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=102097
http://www.ipsnews.net/2012/12/bolivias-Ayoréode-indians-devoured-by-the-city/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 27. Dezember 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Dezember 2012