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WOHNEN/110: Soziale Stadtpolitik - Ein politisches Konzept für mehr Chancengerechtigkeit (spw)


spw - Ausgabe 5/2013 - Heft 198
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Soziale Stadtpolitik - Ein politisches Konzept für mehr Chancengerechtigkeit

Von René Böhme, Rolf Prigge und Thomas Schwarzer



Deutsche Großstädte zwischen wirtschaftlicher Prosperität und verfestigter Armut

Die großen deutschen Stadtregionen gelten wieder als Zentren der Reurbanisierung, des Wachstums und der Wohlstandsproduktion, als Orte von Innovationen und Kreativität. Sie sind Orte moderner Lebensweisen und besitzen eine besondere Anziehungskraft auf Unternehmer und Händler, auf Wissenschaftler und junge Menschen in der Ausbildung sowie auf Migranten. Hinter dieser allgemeinen Beschreibung verbergen sich jedoch ausgeprägte Unterschiede in den Standortbedingungen und Entwicklungstrends (Döll, Stiller 2011). Zwar wird ein Drittel des deutschen Bruttoinlandsprodukts in den 30 größten deutschen Städten produziert, sie bieten 11,4 Millionen Arbeitsplätze und 18,5 Millionen Menschen ihren Lebensmittelpunkt. Die ökonomischen Entwicklungsperspektiven dieser Städte hängen aber auch davon ab, welchen Verlauf der demografische Wandel nimmt und ob sie sich als attraktive Standorte für wissens- und forschungsintensive Unternehmen positionieren können. Innerhalb des deutschen Großstädtesystems zeigen sich dementsprechend deutliche Unterschiede in Hinblick auf die Entwicklung der Bevölkerungs- und Erwerbstätigkeit sowie in Bezug auf das Qualifikationsniveau der Beschäftigten (Döll, Stiller 2011: 270). Im Zeitraum 2005 bis 2010 schrumpften vor allem kleinere und mittlere Städte, während die meisten Großstädte wieder die Rolle von Wachstumsmotoren einnehmen (BBSR 2012). Die Mehrheit der stark schrumpfenden Städte und Gemeinden liegt nach wie vor in Ostdeutschland. In Westdeutschland sind nur wenige Gemeinden von starker Schrumpfung betroffen. Schwächere Schrumpfungstendenzen zeigen sich hier in ländlichen Gebieten und in vielen Großstädten des Ruhrgebietes. Dagegen hat sich die Zahl der Städte und Gemeinden mit starkem Wachstum leicht erhöht. Als "Boom-Regionen" gelten München und Hamburg sowie das Rhein-Main Gebiet und Stuttgart. In Ostdeutschland entwickeln sich aber auch die Großstädte Berlin und Leipzig leicht positiv, eindeutiger vor allem Dresden, Erfurt, Jena und Magdeburg. Die Verschiebungen im deutschen Städtesystem zeigen eine zunehmende Polarisierung von starkem Wachstum und starker Schrumpfung. In sozialer Hinsicht wächst jedoch die Einkommensungleichheit, prekäre Beschäftigungsverhältnisse nehmen ebenso zu wie die Langzeitarbeitslosigkeit. Die Tendenz der Polarisierung prägt nicht allein das Städtesystem sondern auch die sozialräumliche Struktur der Städte. Soziale Segregation und Prozesse der Gentrifizierung verstärken sich in den großen Städten, insbesondere in den prosperierenden Großstädten. Durch die weitgehend liberalisierten Wohnungsmärkte sind Bevölkerungsgruppen mit geringen Einkommen auf randständige Stadtteile und Quartiere verwiesen.

Die anfänglichen Hoffnungen, früher oder später würden alle gesellschaftlichen Gruppen vom Wachstum und vom zunehmenden Wohlstand profitieren, erwiesen sich spätestens seit der Finanzmarktkrise 2009 als Illusion. Vielmehr stieg die Armut auch in Phasen wirtschaftlicher Prosperität und konzentriert sich verstärkt in den großen Städten (Seils, Meyer 2012). Wie die TABELLE zeigt, liegt trotz rückläufiger Arbeitslosigkeit die Armutsgefährdung selbst in prosperierenden Großstädten wie Frankfurt und Hamburg im Bereich des bundesdeutschen Durchschnitts von 15 Prozent. Lediglich München und Stuttgart heben sich positiver ab. In allen anderen Großstädten liegen die Quoten der Armutsgefährdung über 15 Prozent, in den meisten dieser Großstädte zwischen 20 und 25 Prozent. Zudem weist die Entwicklung der Armutsquoten von 2011 zu 2012 auf eine weitere Auseinanderentwicklung zwischen den Großstädten hin.


TABELLE:
Quellen: Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2013;
Bundesagentur für Arbeit 2013, Eigene Berechnungen;
in Klammern die Position im Großstädtevergleich des jeweiligen Indikators.

TABELLE:






Quote der  
Armuts-    
gefährdung  2013      

Quote der  
Arbeits-   
losigkeit   09/2013   

Quote      
SGB II     
Empfänger   9/2013    

Brutto-         
inlandsprodukt  
je Einwohner     2010           

Bevölke-    
rungsent-   
wicklung     2011 zu 2008

München
Frankfurt
Stuttgart
Hamburg
Nürnberg
Düsseldorf
Dresden
Köln
Hannover
Bremen
Leipzig
Essen
Berlin
Duisburg
Dortmund

11,4%  (1.)
15,2%  (4.)
13,4%  (2.)
14,8%  (3.)
17,5%  (5.)
17,6%  (6.)
20,2%  (8.)
20,5%  (9.)
22,4% (12.)
22,3% (11.)
25,9% (14.)
20,0%  (7.)
21,2% (10.)
25,1% (13.)
26,4% (15.)

5,2%  (1.)
7,2%  (3.)
5,6%  (2.)
7,3%  (4.)
7,5%  (5.)
8,8%  (8.)
8,5%  (7.)
9,6%  (9.)
7,9%  (6.)
10,0% (10.)
10,6% (11.)
12,1% (13.)
11,3% (12.)
12,7% (14.)
13,1% (15.)

6,5%  (1.)
12,2%  (4.)
7,8%  (2.)
12,3%  (6.)
11,2%  (3.)
13,1%  (8.)
12,2%  (4.)
13,5%  (9.)
12,7%  (7.)
16,9% (10.)
17,4% (11.)
18,9% (14.)
20,0% (15.)
17,1% (12.)
17,6% (13.)

57.474 EUR  (4.)
80.921 EUR  (1.)
62.965 EUR  (3.)
51.778 EUR  (5.)
42.881 EUR  (7.)
68.007 EUR  (2.)
29.475 EUR (13.)
45.866 EUR  (6.)
35.817 EUR (10.)
42.055 EUR  (8.)
26.599 EUR (15.)
39.233 EUR  (9.)
28.649 EUR (14.)
30.932 EUR (11.)
29.829 EUR (12.)

+3,87%  (2.)
+4,01%  (1.)
+2,22%  (5.)
+1,51%  (8.)
+1,38% (10.)
+1,40%  (9.)
+3,43%  (3.)
+2,18%  (6.)
+1,20% (11.)
+0,18% (12.)
+3,17%  (4.)
-1,09% (14.)
+2,05%  (7.)
-1,22% (15.)
-0,59% (13.)


Dies hat zur Folge, dass sich prekäre Lebenslagen in den benachteiligten Stadtteilen und Wohnquartieren konzentrieren (Friedrichs, Triemer 2009). In vielen Stadtteilen und Wohnquartieren erreichen die Armutsquoten bis zu 40 und 50 Prozent. Besonders Kinder sind in diesen Quartieren verstärkt von Armut und drohender Ausgrenzung betroffen. Zwischen 25 und 40 Prozent aller Kinder unter 15 Jahren sind in den Großstädten von Grundsicherungsleistungen abhängig. Die sozialräumliche Polarisierung der Kinderarmut nimmt sogar im Zeitverlauf noch zu (Dohnke, Seidel-Schulze, Häußermann 2012). Die Folge sind vielfältige Benachteiligungen gerade der Kinder in Hinblick auf ihre gesundheitliche Entwicklung und ihre Teilhabe an Lern- und Bildungsprozessen.

Während in den süddeutschen Großstädten beinahe Vollbeschäftigung vorherrscht, ist in Großstädten wie Berlin, Bremen, Dortmund Duisburg, Essen und Leipzig kaum Bewegung innerhalb des Sockels verhärteter Langzeitarbeitslosigkeit festzustellen. Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner entwickelt sich ebenfalls stark polarisiert in diesen Großstädten zwischen unter 30.000 Euro und bis zu 81.000 Euro in Frankfurt/M. Derzeit stehen besonders die Großstädte im Ruhrgebiet vor massiven Herausforderungen. Dagegen hat sich Dresden in den vergangenen Jahren auffällig positiv entwickelt. Von einer durchgängigen Reurbanisierung der Großstädte kann aufgrund dieser Datenlage jedoch nicht gesprochen werden (Prigge, Böhme 2013b).


Politische Reaktionen auf den Strukturwandel der Großstädte

In den 2000er Jahren unterstützte die Stadtpolitik noch weitgehend die marktgetriebene wirtschaftliche Dynamik in der Hoffnung, dass früher oder später alle gesellschaftlichen Gruppen vom zunehmenden Wohlstand profitieren würden. Mehr noch. In vielen deutschen Stadtregionen dominierten Konzepte, mit deren Hilfe vor allem die Attraktivität für kreative Eliten der neuen Wissensgesellschaft gesteigert werden sollte. Doch schon bald zeigte sich, dass die Konzentration auf die hochqualifizierten Wissensarbeiter allein nicht zu einer prosperierenden und lebenswerten Stadtgesellschaft führt (Speer 2009: 8). Ohne eine Rückkehr der Mittelschichten in die Innenstädte kann ein erforderlicher Stadtumbau nicht realisiert werden. Dabei dürfen auch die Milieus der Migranten, der Geringverdiener und der Einkommensarmen nicht verdrängt oder ausgegrenzt werden. Das heißt, ohne eine sozialpolitische Flankierung kann die Politik des aktuellen Stadtumbaus nicht erfolgreich sein. Das zeigen zumindest die vorliegenden Analysen von Stadtregionen in Europa, die den Stadtumbau bisher relativ erfolgreich gestalten (Bodenschatz, Laible 2008).

Eine aktiv gestaltende "Soziale Stadtpolitik" ist deshalb eine Grundvoraussetzung, damit der wirtschaftliche und soziale Stadtumbau gelingen kann. Mit dieser politischen Agenda gelang es der SPD Schritt für Schritt, viele zuvor von der CDU regierte Großstädte politisch zu erobern. Vor der Bundestagswahl 2009 stellte die CDU noch in acht der 15 größten deutschen Städte den Oberbürgermeister(1), die SPD lediglich in sieben(2) Vor der Bundestagswahl 2013 zeigte sich eine völlig veränderte Situation. Lediglich in zwei dieser 15 größten Großstädte stellt die CDU noch den Bürgermeister oder die Bürgermeisterin (Düsseldorf und Dresden), in allen anderen 12 Großstädten die SPD, in Stuttgart die Grünen. Diese "rot-grüne" Erfolgsgeschichte" vollzog sich Schritt für Schritt in ähnlicher Art und Weise wie in den meisten Bundesländern. Auch dort sitzen die Sozialdemokraten mittlerweile in 13 Bundesländern mit in der Regierung, außer in: Sachsen (Schwarz-Gelb), in Bayern (absolute Mehrheit der CSU) und demnächst wohl auch in Hessen (aktuelle Koalitionsgespräche).

Durch diese politischen Entwicklungen in den 15 größten deutschen Großstädten und den 16 Bundesländern verfügten die SPD und die Grünen vor der Bundestagswahl 2013 über eine ausgesprochen gute (strukturelle) Ausgangsposition. Warum es trotz dieser Konstellation und dem Scheitern der FDP an der 5 Prozent-Hürde nicht für eine Mehrheit "links" von der Union reichte, ist erklärungsbedürftig. Erklärungsbedürftig insbesondere im Hinblick auf die politische Mobilisierungsfähigkeit für einen Politikwechsel.


Das Konzept einer Sozialen Stadtpolitik

Wie die Großstädte auf die gesellschaftliche Polarisierung und die fortgesetzte soziale Spaltung der Stadtgesellschaften reagieren, haben zwei der Autoren in Fallstudien über die Ansätze Sozialer Stadtpolitik in Dortmund, Bremen und Nürnberg empirisch untersucht (Prigge, Böhme 2013a). Danach wurde in diesen Städten, unter Federführung der SPD, ein neuer Politiktyp entwickelt. Dieser hat ein breites, integratives Verständnis von sozialer Stadtentwicklung und verfolgt einen erweiterten politischen Gestaltungsanspruch. Mit diesem neuen Politiktypus verbunden sind verstärkte Steuerungsversuche. Mit einer regelmäßigen Sozialberichterstattung wird über die Verteilung von Armuts- und Reichtumslagen informiert: Soziale Ausgrenzung und Teilhabechancen sollen in der gesamten Stadt, in den Stadtteilen, Ortsteilen und Quartieren sichtbar gemacht werden. Durch politische Vernetzung wird die sozialräumliche und diskursive Entwicklung und Steuerung von Programmen und sozialintegrativen Einzelstrategien forciert. Die Beteiligung der BürgerInnen ist dabei ein zentraler Baustein. Dabei wird versucht, eine größere Zahl von unterschiedlichen Politikpfaden und Strategien zu koordinieren und zu integrieren:

  • eine integrierte Stadtentwicklung und soziale Stadtteilentwicklung
  • die Angebote und Leistungen der dezentralen (lokalen) Sozialpolitik
  • eine kommunale Bildungspolitik (frühkindliche Bildung, Ganztätiges Lernen)
  • spezielle Konzepte zur Armutsprävention, insbesondere gegen Kinderarmut
  • eine soziale Wohnungspolitik (neuer sozialer Wohnungsbau, Mietpreisbremse usw.)
  • eine kommunale Qualifizierungs- und Beschäftigungspolitik (EU-Programme, JobCenter)

Soziale Stadtteilentwicklung und familien- und kinderbezogene Armutsprävention

Die Erhebungen und Analysen verweisen auf zwei strategische Ansätze für stadtteilbezogene Strategien gegen Armut und Benachteiligung:

  • "Soziale Stadtteilentwicklung und quartierbezogene Armutsprävention"
  • "Ausbaus der sozialen Infrastruktur und familien- und kinderbezogene Armutsprävention"

Der erste Strategieansatz basiert auf Impulsen der Europäischen Union und des Bund-Länder-Programms "Die Soziale Stadt". Er zielt v.a. darauf, die Konzentration benachteiligter Bevölkerungsgruppen in bestimmten Ortsteilen und Wohnquartieren zu vermeiden. Verbessert werden sollen die Lebensbedingungen der Bewohnerschaft und zumindest ein weiteres Auseinanderdriften der Lebenslagen zwischen verschiedenen Stadtteilen verhindert werden. Im Rahmen der Sozialen Stadtteilentwicklung wird damit der Verelendung und Ghettoisierung in einzelnen Wohnquartieren vorgebeugt.

Außerdem werden Maßnahmen aus den Bereichen Bildung, Nachbarschaftliches Zusammenleben, Wohnumfeldgestaltung, Kultur, Arbeit und Gesundheit im Rahmen lokaler Projekte umgesetzt. Sie sollen die Teilhabechancen punktuell verbessern und so das Gefühl von Ausgrenzung reduzieren. Damit geht eine Erweiterung der Stadtteilentwicklung um Themenfelder wie Arbeitsmarkt, Kindertagesbetreuung, Bildung, Gesundheit und Armutsprävention einher, wodurch die Komplexität der Steuerung zunimmt. Eine rein investive Stadtteilentwicklungsstrategie, welche durch die Bau- und Wirtschaftsdezernate dominiert wird und welche die genannten sozialen Bereiche nicht mit einbezieht, wird den komplexen Anforderungen der Sozialen Stadtteilentwicklung nicht gerecht. Des Weiteren ist aufgrund der sozialen Spaltung der Stadtgesellschaften und ihrer Ausdifferenzierung innerhalb der verschiedenen Stadt- und Ortsteile eine sozialräumliche Feinsteuerung von Programmen unabdingbar. Evaluationsforschungen haben die positiven Wirkungen der Programme der Sozialen Stadtteilentwicklung bereits frühzeitig bestätigt (z.B. Aehnelt u.a. 2004). Trotz dieser nachgewiesenen Effekte haben sich die "harten" Sozialindikatoren der meisten Fördergebiete im Zeitverlauf kaum verändert. Eine große Anzahl der Quartiere bleibt trotz dieser Interventionen benachteiligt und weist oftmals einen hohen Anteil an Kinderarmut auf. Um den Kreislauf von Armut zu durchbrechen, müssen die bisherigen Quartiersansätze mit übergreifenden, gesamtstädtischen Programmen unterstützt werden (Volkmann, 2012, S. 84).

Diese Maßnahmen betreffen den Strategieansatz einer familien- und kindbezogenen Armutsprävention. Ausgangspunkte bisheriger Programme waren u.a. die Mängel des deutschen Bildungssystems, die gemeinsame Bildungsberichterstattung des Bundes und der Länder, die Aachener Erklärung des Deutschen Städtetages zur Verantwortung der Städte für Bildung sowie das Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" der ehemaligen rot-grünen Bundesregierung zum Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen in allen 16 Bundesländern (2003-2009). Diese Impulse bewirkten, dass sich Bund und Länder über Förderprogramme zum Ausbau der frühkindlichen Bildung in Kindertagesstätten einigen konnten und dass die Städte eine Steuerungsverantwortung für die Gestaltung kommunaler Bildungslandschaften übernahmen. Infolge von Fällen massiver Kindeswohlgefährdung wurde der Bereich der Frühen Hilfen besser ausgebaut und die Gesundheits- und Jugendhilfe wirksamer verzahnt. Durch diese Ansätze sollen Benachteiligungen reduziert werden, um die Familienstruktur zu stabilisieren, das kindliche Wohlbefinden zu sichern und die Bildungsteilhabe der Kinder zu fördern. Hierfür erweist sich der Ansatz der Betreuungs- oder Präventionsketten als eine geeignete Strategie (Holz 2010). Durch ein Netz von kind- und familienbezogenen Unterstützungssystemen sollen armutsbedingte Benachteiligungen frühzeitig erkannt und kompensiert werden. Hierbei kommt den Frühen Hilfen, der Kindertagesbetreuung, der ganztägigen Bildung und Betreuung in der Schule eine Schlüsselrolle zu. Diese gilt es gerade für benachteiligte Ortsteile bedarfsgerecht und qualitativ hochwertig auszugestalten und miteinander zu verzahnen.


Lokale Handlungsspielräume und die Politik der Länder und des Bundes

Die bisherigen Programme des Finanz- und Entwicklungsausgleichs zwischen den Städten reichen nicht aus, um den Großstädten annähernd gleiche Entwicklungschancen zu verschaffen. Zwar ging die Arbeitslosigkeit in allen Großstädten zurück, aber die prosperierenden Großstädte wachsen schneller, bieten bessere Arbeitsplatzchancen, ziehen mehr Einwohner an, haben weniger soziale Kosten und Probleme und verfügten über eine höhere Finanzkraft. Umgekehrt sind die Großstädte mit geringerem Wachstum und einer schwächeren Wirtschafts- und Finanzkraft, durch weniger gute Arbeitsplatzchancen gekennzeichnet, durch stagnierende oder sinkende Einwohnerzahlen und relativ große soziale Herausforderungen (vgl. TABELLE).

Die konservativ-liberale Bundesregierung hat mit ihrer großstadtfeindlichen, rigiden Finanz-, Steuer- und Arbeitsmarktpolitik den Gestaltungsspielraum der Kommunen und Großstädte weiter eingeschränkt. Gleichzeitig sind die Bundesländer aufgrund ihrer Bildungshoheit vor allem in Fragen der Schulentwicklung gegenüber den Kommunen und Großstädten gefordert. So fördert Nordrhein-Westfalen die Weiterentwicklung der Kindertagesstätten zu Familienzentren, den Ausbau von Ganztagsangeboten im Grundschulbereich, aber auch die Entwicklung kommunaler Präventionsketten gegen Kinderarmut mit eigenen Programmen. Bayern hält sich bei dem Ganztägigen Lernen aus einem konservativen Verständnis von Familie bisher eher zurück, fördert aber gezielt den Unterricht von Kindern mit Migrationshintergrund in der deutschen Sprache. Der Stadtstaat Bremen hat seine Bildungshoheit bisher nicht konsequent genug für die Bekämpfung der besonders verbreiteten Bildungs- und Kinderarmut in den Schulen nutzen können.

In den untersuchten Großstädten wird an einer ressortübergreifenden Steuerung gearbeitet. In organisatorischer Hinsicht drückt sich dieser in neuen Organisationseinheiten aus, die der Politikentwicklung und Steuerungsunterstützung dienen. Der aktiven Netzwerkpflege dienen öffentliche Veranstaltungen unter Beteiligung der betroffenen Bürger, der Wohlfahrtsverbände und der freien Träger. Dortmund und Nürnberg führen unter breiter Beteiligung regelmäßige Armutskonferenzen durch. Dieser Steuerungsmodus führt dazu, dass die innerstädtische Konkurrenz zwischen Politikfeldern und Fachbereichen eingeschränkt wird und sich stattdessen im Rahmen der Sozialen Stadtpolitik ein kooperativeres Verhalten der pfadbezogenen Akteure entfalten kann.

In den an der Sozialen Stadtpolitik beteiligten Pfaden werden Politikprogramme umgesetzt, die von einer intensiven Förderung durch die Bundespolitik (z.B. Kindertagesbetreuung, Soziale Stadtteilentwicklung) oder Landespolitik (z.B. Schulentwicklung) abhängig sind. Ein Rückzug oder Kürzungen der Bundes- oder Landespolitik hat für die Großstädte massive Auswirkungen und schränkt ihren lokalen Handlungsspielraum ein. Durch eine aktive Stadtpolitik und eine förderliche Politik des Bundes und der Länder kann er aber auch erweitert werden. Allerdings verfügen die Großstädte im föderalen Bundesstaat der Bundesrepublik Deutschland kaum über Entscheidungsbefugnisse. Lediglich die drei Stadtstaaten können die Interessen der Großstädte in den Bundesrat einbringen. Grundlegende gesamtgesellschaftliche Probleme können nur vom Bund unter Mitwirkung der Länder geregelt werden. Diese Themen gehören auf die Bühne der Bundespolitik. Eine zukünftige Bundesregierung ist gefordert, die Rahmenbedingungen für eine Soziale Stadtpolitik wieder zu verbessern, um den lokalen Handlungsspielraum auch der Großstädte zu erweitern. Erforderlich sind:

  • die Verbesserung der Finanzausstattung der Kommunen, Großstädte und Bundesländer
  • spezielle Hilfen zur Entschuldung von Ländern und Kommunen
  • die Flankierung der "Wiederbelebung" des SozialenWohnungsbaus in den Großstädten
  • die Rücknahme der Kürzung und weitere Verbesserung der finanziellen Ausstattung (v. a. mit konsumtiven Mitteln) des Bund-Länder-Programms "Die Soziale Stadt"
  • die weitere Förderung des Ausbaus der sozialen Infrastruktur für Kinder und Familien in den Großstädten (Kindertagesbetreuung, Ganztagsschulen, Sprachförderung)
  • die Förderung von Menschen in Langzeitarbeitslosigkeit z. B. durch Programme zur Qualifizierung und durch einen sozialen Arbeitsmarkt ("Qualifizieren statt Aktivieren").

Schlussfolgerungen und Fragen nach der Bundestagswahl 2013

Die Soziale Stadtpolitik ist eine politische Strategie für mehr Chancengerechtigkeit breiter Bevölkerungsschichten in den Großstädten, mit der die SPD Wahlen gewinnen kann. Dazu müssen jedoch die (Spitzen-) Kandidaten/innen, das Programm und die Partei vor Ort ein stimmiges "Gemeinsames" schaffen. Die dargestellten Erfolge in den Großstädten und vielen Bundesländern waren möglich, obwohl in den Stadtteilen und Wohnquartieren, in denen viele Menschen mit geringen Einkommen leben, die Wahlbeteiligung vergleichsweise niedrig ist. Trotzdem besitzt die SPD in diesen Gebieten noch immer "Hochburgen". Sehr ernst nehmen müssen die Sozialdemokraten jedoch die Schwierigkeit, dass es trotz der politischen Erfolge in vielen der betrachteten 15 Großstädte bis heute keine Oberbürgermeisterin gibt. Auch in den Bundesländern gibt es neben Hannelore Kraft keine weitere Ministerpräsidentin. Doch gerade für zentrale Themen einer fortschrittlichen Sozialen Stadtpolitik (Kindertagesbetreuung, Bildungspolitik, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Lohngerechtigkeit) sind geschlechterpolitische Aspekte von grundlegender Bedeutung. Dabei handelt es sich durchaus nicht um eine wiederum rollenspezifische Festschreibung zwischen Männern und Frauen in der Politik. Denn die genannten Themen müssen vom politischen Personal nicht allein thematisch vertreten, sondern tatsächlich verkörpert werden. Es ist ein politisches Alarmzeichen, wenn der SPD bei der Bundestagswahl 2013 lediglich 24 Prozent der Wählerinnen ihre Stimme gaben (im Durchschnitt 25,7 Prozent), aber 44 Prozent der CDU (im Durchschnitt 41,5 Prozent). Noch geringer war die Zustimmung bei den jüngeren Frauen zwischen 18 und 44 Jahren mit lediglich 22 Prozent (Forschungsgruppe Wahlen 22.09.2013, S. 3).

Relativierend muss darauf hingewiesen werden, dass in den fünfzehn größten deutschen Städten lediglich knapp 17 Prozent der deutschen Bevölkerung leben. In allen deutschen Großstädten ist es ungefähr ein Drittel der Bevölkerung. Politische Mehrheiten sind mit einer großstadtfreundlichen Politik allein nicht zu erreichen. Denn die WählerInnen verhalten sich bei ihrer Stimmabgabe sehr strategisch je nach der entsprechenden Kommunal-, Kreis-, Landtags- oder Bundestagswahl. 2013 erhielt die SPD in einer Reihe von Großstädten bei der aktuellen Bundestagswahl erheblich weniger Stimmen als bei vorangegangenen Kommunal- oder Bürgermeister- und Landtagswahlen. Sie konnte außerdem bei der Bundestagswahl 2009 und 2013 in keiner der 15 Großstädte auch nur annähernd wieder Ergebnisse wie bei Bundestagswahl 2005 erreichen. Ihre Mobilisierungsfähigkeit hat auch in den modernen großstädtischen Milieus erheblich gelitten. Auch sollten sich die Sozialdemokraten nicht mit der verbreiteten Auffassung beruhigen, dass die Union nicht Großstadt kann. Denn die CDU konnte bei der Bundestagswahl 2013 in 13 der 15 Großstädte ihre Stimmenanteile gegenüber 2005 und 2009 zum Teil erheblich steigern, mit Ausnahme von Leipzig und Nürnberg. Dieses Wählerverhalten deutet daraufhin, dass es der SPD vor allem bei den letzten beiden Bundestagswahlen nicht gelungen ist, ihren historischen Markenkern als soziale und demokratische Partei glaubwürdig und auch verkörpert im Kanzlerkandidaten zu präsentieren. Dissonanzen zwischen (Spitzen-)Kandidaten/innen, Programmen und den agierenden Parteigliederungen werden im heutigen Parteienwettbewerb und der von den Medien bestimmten politischen Öffentlichkeit bestraft. Es reicht nicht, wenn die SPD sich auf der Kommunal- und Landesebene partiell als Partei der Chancengerechtigkeit profilieren kann. Diese Aufgabe stellt sich weiterhin auch für die Bundespolitik und die Bundespartei, und zwar auch zwischen den Wahlterminen.

ANMERKUNGEN:
(1) In Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg, Köln, Stuttgart, Dresden, Duisburg, Essen.
(2) In Berlin, Bremen, Hannover, München, Nürnberg, Dortmund, Leipzig.


Rolf Prigge ist Forschungsleiter am Institut Arbeit und Wirtschaft (IAW) an der Universität Bremen.

René Böhme ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Arbeit und Wirtschaft der Universität Bremen.

Thomas Schwarzer ist Referent für kommunale Sozialpolitik bei der Arbeitnehmerkammer Bremen.


Quellen:

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Die Soziale Stadt. Ergebnisse der Zwischenevaluierung: Bewertung des Bund-Länder-Programms Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf die soziale Stadt nach vier Jahren Programmlaufzeit. Berlin: BMVBS.

- BBSR (Hrsg.) (2012):
Wachsende und schrumpfende Städte und Gemeinden.
http://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/Raumbeobachtung/AktuelleErgebnisse/2012/Gemeinden/wachsend__schrumpfend.html
(Zugriff: 12. Oktober 2012).

- Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) (2012>:

Entwicklung der Kinderarmut. http://www.keck-atlas.de/,
(Zugriff: 08. Oktober 2013).

- Bodenschatz, H., Laible, U. (2008):
Großstädte von Morgen. Internationale Strategien des Stadtumbaus.

- Dohnke, J., Seidel-Schulze, A., Häußermann, H. (2012):
Segregation, Konzentration, Polarisierung - sozialräumliche Entwicklung in deutschen Städten 2007-2009. Berlin: DIfU.

- Döll, S., Stiller, S. (2011):
Deutsche Großstädte im Vergleich. In: Vhw FWS 5/2011, S. 269-272.

- Hanesch, W. (2011):
Soziale Spaltung und Armut in den Kommunen und die Zukunft des lokalen Sozialstaats. In: Hanesch, W. (Hrsg.): Die Zukunft der Sozialen Stadt: Strategien gegen die soziale Spaltung und Armut in den Kommunen. Wiesbaden: VS, 7-46.

- Häußermann, H., Läpple, D., Siebel, W. (2008):

Stadtpolitik. Frankfurt am Main: Suhrkamp

- Holz, G. (2010):
Kindbezogene Armutsprävention als struktureller Präventionsansatz. In: Holz, G., Richter-Kornweitz, A. (Hrsg.): Kinderarmut und ihre Folge: Wie kann Prävention gelingen? München: Ernst Reinhardt, 109-125.

- Prigge, R., Böhme, R. (2013a):
Soziale Stadtpolitik in Dortmund, Bremen und Nürnberg - Soziale Spaltung, Armutsprävention und Chancengerechtigkeit als politische Herausforderungen! Bremen: Kellner.

- Prigge, R., Böhme, R. (2013b):
Die Soziale Stadtpolitik deutscher Großstädte. In: vhw FWS 1/2013, S. 33-37.

- Prigge, R., von Rittern, R. (2010):
Bremen kann sozialer werden! Strategien und Regelungsstrukturen für eine soziale Stadtpolitik, Bremen: Kellner

- Prigge, R., Schwarzer, T. (2007):
Lokale Sozialpolitik in Bremen und Hannover, Bremen: Kellner

- Seils, E., Meyer, D. (2012):
Die Armut steigt und konzentriert sich in den Metropolen. WSI-Report 08, November 2012.

- Siedentop, S. (2008):
Die Rückkehr der Städte? Zur Plausibilität der Reurbanisierungshypothese. In: Informationen zur Raumentwicklung, Heft 3/4, S. 193-210.

- Speer, A. (2009):
Frankfurt für Alle. Handlungsperspektiven für die internationale Bürgerstadt Frankfurt am Main. Frankfurt.

- Statistische Ämter des Bundes und der Länder (Hrsg.) (2012):
Armutsgefährdungsquoten,
http://www.amtliche-sozialberichterstattung.de/armutsgefaehrdungsquoten.html,
(Zugriff: 08. Oktober 2013)

- Volkmann, A. (2012):
Quartierseffekte in der Stadtforschung und in der sozialen Stadtpolitik. Die Rolle des Raumes bei der Reproduktion sozialer Ungleichheit. Berlin.

*

Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 5/2013, Heft 198, Seite 16-22
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Dezember 2013