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WOHNEN/174: »Wohnungen ausverkauft!« (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 166 - Heft 04/19, 2019
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

»Wohnungen ausverkauft!«
Die BAG Wohnungslosenhilfe fordert eine »Nationale Strategie zur Überwindung von Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit«

Von Sabine Bösing


Die Liste derer, die von der Exklusion am Wohnungsmarkt betroffen sind, wird immer länger. Neben Menschen mit multiplen Problemlagen, Menschen mit Fluchthintergrund oder Sozialleistungsbeziehern sind es auch die medizinische Fachangestellte oder der Rentner, die nachts nicht mehr schlafen können, weil sie die aktuelle Mieterhöhung nicht bezahlen können und nun nicht wissen, wohin. Die BAG Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG W) setzt sich daher vehement für eine Kehrtwende in der Wohnungs- und Mietenpolitik ein und fordert die Politik zum Handeln auf.


Zahl der Wohnungsnotfälle steigt weiter an

Die Forderung der BAG W nach einer bundeseinheitlichen, gesetzlich verpflichtenden und geschlechtsdifferenzierten Wohnungslosenstatistik auf Bundesebene konnte politisch bislang nicht umgesetzt werden. Dabei würden diese Zahlen das große Ausmaß der Wohn- bzw. Nichtwohnmisere veranschaulichen und die Notwendigkeit einer »Nationalen Strategie zur Überwindung von Wohnungsnot« verdeutlichen. Als einziges Bundesland hat NRW eine integrierte Wohnungsnotfallstatistik. »Die Wohnungslosenstatistik NRW 2018 weist aus, dass zum Stichtag 30. Juni 2018 insgesamt 44.434 Personen in Nordrhein-Westfalen von den Kommunen und von Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe in freier Trägerschaft als wohnungslos gemeldet wurden. Die Zahl der erfassten wohnungslosen Personen ist damit gegenüber dem Vorjahr mit plus 37,6 % deutlich gestiegen.«(1) Laut BAG W-Schätzung waren im Jahre 2017 insgesamt 650.000 Menschen in Deutschland ohne Wohnung.(2)

Dimensionen von Armut und sozialer Exklusion

Bei der Wohnungsnotfallproblematik durchdringen sich in der Regel verschiedene Dimensionen von Armut und sozialer Exklusion.(3) Die Wohnung ist ein Schutzort und gehört zu den elementarsten Bedürfnissen, ihr Verlust führt auch zum Wegfall der Teilnahme am gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Leben. Der Verlust der Wohnung bedeutet einen Bruch in jeder Lebensbiografie. Diese hohe psychische Belastung kann bei bestehenden Vorbelastungen zu einer deutlichen Ausprägung psychischer und physischer Erkrankungen führen. Claudia Streckelberg, Professorin für Sozialarbeitswissenschaften, fasst es so zusammen: »Diese Erfahrungen von Verelendung, Gewalt und Ausgrenzung mit ihren weitreichenden Folgen für eine Vielzahl von Lebensbereichen haben - in unterschiedlicher Ausprägung - alle wohnungslosen Adressat_innen der Sozialen Arbeit gemeinsam.«(4)

Menschen - unmittelbar vor oder nach einem Wohnungsverlust - erleben häufig Ausgrenzung in vielen Lebensbereichen. Sie werden vom regulären Mietwohnungsmarkt ausgeschlossen, haben Barrieren bei der Gesundheitsversorgung zu überwinden oder finden den Zugang dazu nicht. Sie stehen vor großen Hürden bei der Integration auf den Arbeitsmarkt und leiden unter Langzeitarbeitslosigkeit. Sie geraten in eine Notversorgung, die oft noch keinen Mindeststandards genügt und menschenunwürdig ist. Sie erleben Diskriminierung in Behörden und gesellschaftlichen Bereichen. Gerade die zunehmende Anzahl von Familien zeigt den hohen Handlungsbedarf.

Eine weitere Form von Benachteiligung und damit einhergehender Belastung lässt sich an der Qualität des Wohnens verdeutlichen. Armutsgefährdete Haushalte leben mit einer deutlich schlechteren Wohnqualität als nichtarmutsgefährdete Haushalte. Sie sind in höherem Maß von Überbelegung, Umweltbelastungen und von unsicheren Wohnquartieren betroffen.(5)

Recht auf Wohnen

»Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztlicher Versorgung [...]«, so lautet Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Doch von der Umsetzung dieses Menschenrechts sind wir weit entfernt; bisher gibt es aber nur einzelne Bundesländer (u.a. Brandenburg), die das Recht auf Wohnen in ihre Landesverfassungen übernommen haben.

Um dem Recht auf Wohnen nachzukommen, ergeben sich für die Hilfen im Wohnungsnotfall folgende Handlungsfelder(6):

1. Ressource Wohnraum
Bund, Länder und Kommunen sind verstärkt gefragt, sich für den Bau von geförderten Wohnungen einzusetzen und die Mieterinnen und Mieter mit einem entsprechenden Mietrecht vor unverhältnismäßigen Mieterhöhungen und Modernisierungen zu schützen. Um bezahlbaren Wohnraum dauerhaft zur Verfügung zu stellen, bedarf es entsprechender Sozialbindungen.

Praxisbeispiel »Wohnraumakquise durch Kooperation« in Karlsruhe
Die Stadt Karlsruhe sucht aktiv private Vermieter, gewährt für die leerstehende Wohnung einen Sanierungszuschuss und schließt eine zehnjährige Belegungsvereinbarung nach §§ 14, 26 WoFG (7) inklusive Mietausfallgarantie mit den Eigentümern ab. Die Stadt erwirbt damit das Belegungsrecht für die Wohnung und vergibt an vordringlich Wohnungssuchende. Die Bewohner bekommen im ersten Jahr die Möglichkeit einer sozialarbeiterischen Begleitung und schließen mit der Stadt einen Nutzungsvertrag ab. Nutzungsverträge sind in diesem Zusammenhang die Vorstufe zu Mietverträgen. Treten keine Probleme auf, die Bedenken bezüglich eines Mietverhältnisses rechtfertigen, erhalten die Betroffenen einen eigenen Mietvertrag vom Wohnungseigentümer.(8)

Weitere Steuerungsinstrumente sind aus Sicht der BAG W sowohl preisgebundener Wohnraum für vordringlich Wohnungssuchende als auch eine Quotierung bei Vergabe von Belegungsrechten, die sich nach Notlage und Dringlichkeit orientiert.

Unterschiedliche Gutachten haben gezeigt, dass Bevölkerungsgruppen mit einem Einkommen unterhalb der Armutsgefährdung von hohen Mietbelastungen betroffen sind.(9) Das bedeutet, dass es hier eine Steuerung braucht. Die Richtlinien der Kosten der Unterkunft müssen entsprechend angepasst werden, um für Haushalte im ALG II- oder Sozialhilfebezug den Erhalt und Zugang zur Ressource Wohnraum zu sichern. Kürzungsmöglichkeiten im Rahmen von Sanktionierungen von Pflichtverstößen müssen ersatzlos gestrichen werden.

2. Unterstützung im Wohnraum
Aufgrund von herausfordernden Lebensumständen und/oder gesundheitlichen Problemen ist eine Unterstützung im Wohnraum zu dessen nachhaltiger Sicherung sinnvoll. Hierbei sollen im Rahmen einer zeitlich befristeten Lebens- und Alltagsbegleitung perspektivische Hilfen hinsichtlich einer Stabilisierung und Normalisierung der Lebenslage erschlossen werden. Ambulante Hilfen bieten hierfür die notwendige Fachlichkeit. Sie unterstützen bei der Sicherung der Wohnung und Existenz, zeigen Möglichkeiten für berufliche Weiterentwicklung und Arbeitssuche und vermitteln zu Ärzten, Therapeuten usw. Die Kontakte erfolgen - je nach Erfordernis - überwiegend als Hausbesuche.

3. Prävention
Wohnungslosigkeit als extremste Form von Ausgrenzung muss verhindert werden. Menschen mit gebrochenen Wohnbiografien ist der Zugang zum Wohnungsmarkt gerade in Zeiten des Mangels verschlossen. Daher braucht es flächendeckende Angebote von Fachberatungsstellen zur Verhinderung von Wohnungsverlust. Mit gezielten und frühzeitigen Interventionen lässt sich die Mehrheit von Wohnungsverlusten verhindern.(10)

Praxisbeispiel FAWOS Fachstelle Wohnungssicherung, Ludwigsburg
FAWOS unterstützt und berät Mieterinnen und Mieter in gefährdeten Mietverhältnissen, und das möglichst frühzeitig und durch aktives Zugehen auf die Betroffenen mit Hausbesuchen. Zu den Aufgaben zählen u.a. die Suche nach einer Lösung mit dem Vermieter und Unterstützung beim Kontakt mit Behörden. In den zwei Jahren des Bestehens der FAWOS konnten 145 Fälle abgeschlossen werden, davon 122 mit positivem Ausgang. Das sind 84 Prozent.(11)

Der Weg zu entsprechenden Hilfeangeboten muss möglichst niedrigschwellig sein. Gerade Frauen, die von einem Wohnungsnotfall betroffen sind, brauchen niedrigschwellige Angebote, um frühzeitig Beratung einzuholen.

Praxisbeispiel »RE_StaRT« in der Region Hannover
»RE_StaRT« (Richtig Erreichen, Strukturen transportieren aktiv Richtung Teilhabe) bietet gezielte und niedrigschwellige Beratung und Begleitung der Betroffenen, um den Zugang zu weiterführenden Hilfen und Unterstützungsleistungen zu ermöglichen und nachhaltig zu verbessern. Nach Kontaktaufnahme mit den Mitarbeitenden von »RE_StaRT« erfolgt eine schnellstmögliche Terminvergabe zur Begleitung und Beratung. Es ist auch möglich, sich vor einem Begleittermin im gewünschten Setting (z.B. Café oder Park) kennenzulernen, um erste Barrieren abzubauen. Das Konzept überzeugt: 24 Prozent aller Beratungen sprechen die wichtige Gruppe der 18- bis 25-Jährigen an. Bei 69 Prozent erfolgte die Kontaktaufnahme durch die Person selbst. Während in der Wohnungsnotfallhilfe der Anteil von Frauen bei 27 Prozent und der Männer bei ca. 73 Prozent(12) liegt, konnten bei »RE_StaRT« 41 Prozent Frauen und 59 Prozent Männer angesprochen werden. Das legt den Schluss nahe, dass gerade für Frauen das flexible und anonyme Angebot eine gute Möglichkeit darstellt, Unterstützung in Anspruch zu nehmen.(13)

4. Menschenwürdige Notversorgung
Wenn trotz präventiver Maßnahmen und Bemühungen der Verlust des Wohnraums nicht verhindert werden kann, dann stehen die Ersatzbeschaffung von Wohnraum und/oder die Vermittlung in weiterführende Hilfeangebote im Mittepunkt. Nach wie vor gibt es nicht in jeder Kommune menschenwürdige Unterbringungsmöglichkeiten. Es braucht ordnungsrechtliche Unterbringungen, bei denen in Bezug auf räumliche Ausstattung, Lage, Zugänglichkeit, Sicherheit, Hygiene und personeller Ausstattung die Menschenwürde gewahrt ist. Es handelt sich um eine vorübergehende Mindestversorgung, die keinesfalls den eigenen Wohnraum und weiterführende Hilfen ersetzen. Im Hinblick auf Familien, Frauen, ältere Menschen und Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen braucht es geeignete Unterkünfte, die den Zugang ermöglichen und ausreichend Schutz bieten.(14)

»Wohnungen ausverkauft« - Was bleibt den Menschen, die nicht über die Mittel verfügen, um dem Mietenwahnsinn standzuhalten? »Knete den Reichen und die Straße den Armen« lautete bereits 1993 eine Schlagzeile in der Wochenzeitung »DIE ZEIT«.

Bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, sich für eine gerechte Mieten- und Wohnungspolitik stark zu machen und besonders Wohnraum für wohnungslose Menschen zu akquirieren - alle sind gefragt!(15)


Sabine Bösing, stellv. Geschäftsführerin BAG Wohnungslosenhilfe e.V., Fachreferentin Gesundheit


Anfang Texteinschub
BAG Wohnungslosenhilfe

Unter dem Dach der BAG Wohnungslosenhilfe e.V. sind bundesweit Einrichtungen und soziale Dienste der Wohnungslosenhilfe sowie der verantwortlichen und zuständigen Sozialorganisationen im privaten und öffentlichen Bereich versammelt. Dazu gehören ambulante Fachberatungsstellen, Angebote des Betreuten Wohnens, stationäre Einrichtungen mit Heimen und Wohnhäusern, Projekte für junge Erwachsene, spezifische Angebote für wohnungslose Frauen, medizinische Hilfen für Wohnungslose, Betriebe und Projekte zur beruflichen und beschäftigungsbezogenen Qualifizierung und Integration.
Ende Texteinschub


Anmerkungen

1) www.mags.nrw/sites/default/files/asset/document/mags_pe_27-06-2019_anlage_3_kurzanalyse_wnb_2018.pdf (letzter Zugriff: 06.08.2019)

2) www.bagw.de/de/presse/index~169.html (letzter Zugriff: 06.08.2019)

3) Vgl. BAG Wohnungslosenhilfe e.V. (Hrsg.) (2014) Aufruf zu einer Nationalen Strategie zur Überwindung von Wohnungsnot und Armut in Deutschland;
https://www.bagw.de/de/nat_strat/ (letzter Zugriff: 06.08.2019)

4) Steckelberg, Claudia (2018) Wohnungslosigkeit als heterogenes Phänomen. Soziale Arbeit und ihre Adressat_innen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte; Wohnungslosigkeit, 68. Jg., 25-26/2018, Berlin

5) Deckl, Silvia (2010) Leben in Europa 2007 und 2008. Bundesergebnisse für Sozialindikatoren über Einkommen, Armut und Lebensbedingungen. In: Statistisches Bundesamt (Hrsg.) Wirtschaft und Statistik, Heft 1, S. 74-84

6) Vgl. Rosenke, Werena (2017) Wohnen. In: Specht, Thomas et al. (2017) Handbuch der Hilfen in Wohnungsnotfällen. Entwicklung lokaler Hilfesysteme und lebenslagenbezogener Hilfeansätze. Düsseldorf/Berlin: BAG W-Verlag, S. 137-169

7) Wohnraumförderungsgesetz

8) Lenz, Martin; Heibrock, Martina (2017) Inklusion am lokalen Wohnungsmarkt kann mit Belegungssteuerung erreicht werden - trotz Wohnraumknappheit! In: Reader zu Fachtagung (2017) Die Rückkehr der Wohnungsfrage. Ansätze und Herausforderungen lokaler Politik. Darmstadt, S. 87

9) Vgl. Junker, Stephan (2018) Wohnverhältnisse in Deutschland; Mietbelastung, soziale Ungleichheit und Armut. Kurzgutachten im Auftrag des Sozialverbands Deutschland e.V., Berlin

10) Lebhuhn, Henrick; Holm, Andrej; Junker, Stephan; Neitzel, Kevin (2017) Wohnverhältnisse in Deutschland - eine Analyse der sozialen Lage in 77 Großstädten. Bericht aus dem Forschungsprojekt »Sozialer Wohnversorgungsbedarf«, Hans-Böckler-Stiftung, Berlin

11) Präsentation Knodel, Heinrich (2018) XI Präventionstagung der BAG W;
https://www.bagw.de/de/tagungen/prvtg_basis/praev_xi.html (letzter Zugriff: 06.08.2019)

12) Vgl. Statistikberichte der BAG W;
https://www.bagw.de/de/themen/statistik_und_dokumentation/statistikberichte/index.html (letzter Zugriff: 06.08.2019)

13) Vgl. Sell, Sabine (2019) Ein Neustart, der ankommt: »RE_StaRT« - vom Projekt zum Regelangebot. In: wohnungslos. Aktuelles aus Theorie und Praxis zur Armut und Wohnungslosigkeit, Jg. 61, 1, 10-12

14) BAG Wohnungslosenhilfe e.V. (2013) Integriertes Notversorgungskonzept: Ordnungsrechtliche Unterbringung und Notversorgung; https://www.bagw.de/de/publikationen/pos-pap/position_notversorgung.html (letzter Zugriff: 06.08.2019)

15) Vgl. BAG Wohnungslosenhilfe e.V. (2017) Bezahlbaren Wohnraum schaffen, Wohnraum für wohnungslose Menschen akquirieren;
https://www.bagw.de/de/publikationen/pos-pap/position_wohnen.html (letzter Zugriff: 06.08.2019)

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 166 - Heft 04/19, 2019, Seite 12 - 14
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. März 2020

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