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UN-REPORT/080: UN-Bericht warnt vor humanitären Versorgungslücken im Fall einer Atombombenexplosion (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 17. September 2014

Abrüstung: UN-Bericht warnt vor humanitären Versorgungslücken im Fall einer Atombombenexplosion

von Jamshed Baruah


Bild: © UNIDIR

UNIDIR-Plakat
Bild: © UNIDIR

Berlin, 17. September (IPS/IDN*) - Etwa 70 Jahre nach den Atombombenanschlag auf Hiroshima und Nagasaki wird die Menschheit nach neuen Zahlen des UN-Büros für Abrüstungsfragen (UNODA) von 22.000 Atomwaffen bedroht. Die Zahl der bisher durchgeführten Atomtests gibt die Organisation mit mehr als 2.000 an. Dabei wäre die Welt schon im Fall einer kleineren Detonation, geschweige denn im Fall eines richtigen Atomkriegs, gar nicht in der Lage, angemessen zu reagieren.

Mit dieser Warnung wartet ein neuer Bericht des UN-Instituts für Abrüstungsforschung (UNIDIR) und des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) im Vorfeld des ersten Internationalen Tages für die Abschaffung von Atomwaffen am 26. September auf. Demnach haben Interviews mit humanitären Helfern verschiedener UN-Hilfsorganisationen ergeben, dass die Einsatzkräfte im Fall einer Atombombenexplosion in Siedlungsgebieten völlig überfordert wären.

In ihrer Untersuchung 'An Illusion of Safety: Challenges of Nuclear Weapon Detonations for United Nations Humanitarian Coordination and Response' ('Eine Illusion von Sicherheit: Herausforderungen von Atombombenexplosionen für die humanitäre Koordination und Reaktion der Vereinten Nationen') haben die UNIDIR-Experten John Borrie und Tim Caughley die Ergebnisse der ersten internationalen Konferenz über die humanitären Folgen von Atomwaffen in Oslo im März 2013 zusammengefasst.


Angemessene Reaktion unwahrscheinlich

"Es ist unwahrscheinlich, dass ein Staat oder eine internationale Organisation auf die unmittelbare humanitäre Notlage, die durch eine Atomwaffenexplosion entstehen würde, angemessen reagieren und den Betroffenen die erforderliche Hilfe zukommen lassen könnte. Selbst wenn man wollte, könnte es unmöglich sein, diese Kapazitäten zu schaffen."

Ausgehend vom Szenario einer Atombombenexplosion kommen Borrie und Caughley zu dem Schluss: "Die unmittelbaren Auswirkungen eines solchen Ereignisses - Druckwelle, Wärmestrahlung und sofortige Verstrahlung durch die Explosion einer oder mehrerer Atombomben - würden viele Menschenleben fordern und die Infrastruktur größtenteils zerstören. Es käme zu Panik und Chaos, aufgrund derer die Menschen ihre normalen Verhaltensweisen ändern und dadurch die Folgen des Zusammenbruchs verschlimmern würden (indem sie zum Beispiel aus Angst vor einer Verstrahlung ihre Wohnungen verlassen und die ohnehin überlasteten Krankenhäuser aufsuchen würden.). Generell würde jede Reaktion per se unangemessen sein, weil der unmittelbare Schaden bereits angerichtet wäre."

Dem Bericht zufolge sind sich die meisten Experten offenbar darin einig, dass die lokalen und nationalen Behörden für die unmittelbaren Bedürfnisse der Opfer zuständig wären. "In einem dichtbesiedelten Gebiet wären die humanitären Anforderungen riesig, vor allem was die Versorgung der Menschen anginge, die ernsthafte Verbrennungen oder Verletzungen davongetragen hätten (von denen viele sterben würden)." Ein Großteil der Fachliteratur legt nahe, dass die Hilfe Tage oder noch länger auf sich warten lassen würde - gar nicht zu reden von internationaler Hilfe.

Der Bericht betont ferner, dass trotz internationaler Übungen in der jüngsten Vergangenheit, die auf Szenarien wie einem möglichen Einsatz radiologischer beziehungsweise 'schmutziger' Bomben oder Chemiewaffen abheben, wurden keine äquivalenten Übungen durchgeführt, um die Herausforderungen zu verstehen, mit denen sich das Hilfssystem im Fall einer Atomwaffendetonation in dichtbesiedelten Gebieten konfrontiert sähe.

Ferner fehlt die Bezugsgröße innerhalb des humanitären Systems für eine systematische Planung in Reaktion auf eine mögliche Atombombenexplosion. Zudem sieht es nicht danach aus, als seien internationalen Agenturen oder humanitären Partnern besondere Zuständigkeiten wie Strahlungskontrollen und Dekontaminationsaktivitäten auf Feldebene zur Unterstützung humanitärer Operationen im Fall von Atomwaffenexplosionen zugewiesen worden.


Frage der Zuständigkeitsbereiche ungeklärt

Eines der wichtigsten Ergebnisse der Studie ist, dass einige spezialisierte Agenturen der Meinung sind, ausschließlich für zivile Verstrahlungssituationen zuständig zu sein und nicht in Fällen, in denen Kernwaffen eingesetzt werden oder es zu von Staaten oder Terroristen verursachten Atombombenexplosionen beziehungsweise zu atomaren 'Unfällen' kommt.

Die Autoren des Berichts betonen ferner, dass es keine Arrangements für eine Zusammenarbeit zwischen den humanitären UN-Agenturen und den relevanten nationalen Behörden im Fall einer Atombombenexplosion gibt, obwohl dies von etlichen Fachorganisationen befürwortet wird.

"Auch wenn wir keinen Zweifel daran haben, dass das humanitäre System schnellstmöglich aktiv werden würde, wäre es nicht ideal, erst dann mit solchen Arrangements zu beginnen. Dadurch würde wichtige Zeit vertan und die Gefahr einer Verwirrung und Fehlinterpretation könnte zeitnahe und wirksame Handlungsweisen verhindern", warnt die Studie.

Eine weitere Schlussfolgerung der Untersuchung geht dahin, dass die Gefahr oder die Angst vor weiteren Atombombenexplosionen die Entscheidungsfindung über Art und Ausmaß der humanitären Koordinierung und Reaktion verkomplizieren würden. In den Stunden, Tagen oder sogar Wochen nach einer Atomwaffenexplosion könnte der Ursprung oder die Identität derjenigen, die dafür verantwortlich wären, im Dunklen bleiben. Solche Unsicherheiten könnten automatisch weitere Atomkrisen verursachen.

"Zudem könnten die humanitären Helfer (einschließlich die UN-Agenturen) in Sachen Risikomanagement die Gefahr für zu hoch erachten, den Betroffenen humanitäre Hilfe zu leisten. Wiederum könnte der betroffene Staat (oder die betroffenen Staaten) etwas gegen Hilfsleistungen haben, solange das Umfeld noch nicht 'sicher' ist."

Diejenigen Staaten, die in der Lage wären, die vom humanitären System koordinierte Hilfe bereitzustellen, könnten abwinken, sollten sie weitere Atombombenanschläge für möglich halten. Dies wiederum könnte das Leid der direkt Betroffenen oder Vertriebenen erhöhen, warnt der Bericht.

Unabhängig davon, dass Prävention die beste Wahl wäre, um Atombombenexplosionen zu verhindern, sind die Autoren des Berichts der Meinung, dass im Voraus unternommene Überlegungen und Planungen das humanitäre Leid der Opfer im Fall von Atombombenexplosionen deutlich verringern könnten, auch wenn es nicht viel gäbe, was sich unmittelbar danach tun ließe.

Die Kapazitäten für eine Reaktion zu schaffen, wie inadäquat sie auch sein mag, ist nicht allein eine Frage verantwortungsvoller Vorsorge, organisatorischer Kohäsion und der Bereitwilligkeit, die humanitären Erwartungen der Öffentlichkeit zu erfüllen. Es handelt sich um einen Beitrag, Leben zu retten.


Vorausblickend planen

Im Grunde, so die Schlussfolgerung des Reports, ist ein systemischer Prozess der Entscheidungsfindung erforderlich, der im Voraus festgelegt wird und klar die Voraussetzungen für eine konkrete Mobilisierung schafft, die auf der Bewertung der anfallenden Risiken, des Ausmaßes der Kontaminierung und anderer Risiken beruhen, die bei dem Einsatz des Hilfspersonals berücksichtigt würden.

Nach Meinung von Valerie Amos, UN-Nothilfe-Koordinatorin und Untergeneralsekretärin für humanitäre Angelegenheiten, und der UNDP-Administratorin Helen Clark, "erinnert die Untersuchung uns alle daran, dass in einer Welt mit Atomwaffen diese auch weiterhin eine Gefahr mit katastrophalen Folgen für die Menschheit darstellen" - egal, was die Vereinten Nationen und ihre humanitären Partner unternehmen, um im Fall der Fälle die Situation wieder zu normalisieren. (Ende/IPS/kb/2014)

* IDN-InDepthNews ist Kooperationspartner von IPS Deutschland


Link:

http://www.indepthnews.info/index.php/global-issues/2244-un-report-faults-humanitarian-vigilance-in-response-to-nuke-detonations

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 17. September 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. September 2014