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ARBEIT/1984: Stichwort - Deutsches Beschäftigungswunder? (spw)


spw - Ausgabe 3/2011 - Heft 184
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Stichwort zur Wirtschaftspolitik:
Deutsches Beschäftigungswunder?

von Arne Heise


Krise? Welche Krise? Die deutsche Volkswirtschaft scheint die Weltfinanzkrise nicht nur überwunden zu haben, sondern stärker zu sein als zuvor. Dieser Endruck kann entstehen, wenn die Rekordbeschäftigungszahlen vom Arbeitsmarkt und die hohen Wirtschaftswachstumsraten des letzten Jahres und die positiven Prognosen für dieses Jahr berücksichtigt werden. Und kontrastiert dies nicht mit den weiterhin anhaltenden Krisensituationen in anderen Euroländern wie Griechenland oder Spanien, aber auch mit der deutlich schlechteren Wachstums- und Beschäftigungsentwicklung in den USA oder Großbritannien? Zahlen sich jetzt endlich, vielleicht zu spät für die SPD, die unter Kanzler Schröder eingeleiteten Arbeitsmarktreformen aus, die als Hartz-Gesetzgebung bekannt wurden und bei Wählern und Mitgliedern zu großer Verärgerung geführt haben?

Wir wollen uns zunächst die Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung genauer anschauen: Tatsächlich erlebt Deutschland einen vergleichsweise starken konjunkturellen Aufschwung mit einem BIP-Wachstum von 3,6 Prozent in 2010 und erwarteten 2,8 Prozent in 2011 (vgl. Tabelle) - dies sind Wachstumsraten, wie wir sie in den letzten Jahrzehnten nur selten erlebten, die eine kräftigere Erholung als in früheren Konjunkturzyklen (1993-1995 oder 2003-2005; vgl. Tabelle) anzeigen und gegenwärtig auch von anderen OECD-Ländern kaum übertroffen werden. Allerdings gibt es zwei Wermutstropfen: Einerseits war auch der konjunkturelle Einbruch in 2009 extrem stark. Mit einem Rückgang des BIP von -4,7 Prozent wurden nicht nur historisch einmalige Ausmaße in der Geschichte der Bundesrepublik erreicht, der Einbruch war zugleich stärker als im EU-Durchschnitt mit -4,0 Prozent. Andererseits wird auch mit dem kräftigen Aufschwung in 2011 gerade erst das Vorkrisenniveau wieder erreicht - wir sind also Ende 2011 gerade erst wieder auf dem Einkommensniveau, auf dem wir bereits Mitte 2008 waren. Diese kräftige Konjunkturschwankung ist in erster Linie nachfrageseitig bedingt: die realwirtschaftlichen Auswirkungen der Weltfinanzkrise sind wesentlich auf den Ausfall (2008-2009) und dann das Anziehen (seit 2009) der Nachfrage nach Gütern auf den globalisierten Weltmärkten zurückzuführen. Aufgrund der überdurchschnittlich großen Marktanteile des Vize-Exportweltmeisters Deutschland war der Einbruch ebenso stark, wie nun der Aufschwung besonders ausgeprägt ist. Es deutet sich an, dass das exportorientierte deutsche Wachstumsmodell auch nach der Krise beibehalten werden wird - mit zumindest in der Vergangenheit nur begrenztem Erfolg, mittelfristig aber desaströsen Konsequenzen für die Eurozone, die die entstehenden regionalen Ungleichgewichte dauerhaft nicht vertragen kann.

Die Beschäftigungsentwicklung zeigt seit 2009 ein sehr erstaunliches Bild (vgl. Tabelle): Trotz des schweren Wachstumseinbruchs und einem kräftigen Rückgang des Arbeitsvolumens (AV) ist die Erwerbstätigkeit in 2009 nicht gesunken, die Arbeitslosigkeit nur deshalb leicht gestiegen, weil das Arbeitsangebot geringfügig gewachsen ist. Dieses einmalige Phänomen lässt sich nur durch die starke Verkürzung der Arbeitszeit (je Erwerbstätigen) und die Reduktion der Arbeitsproduktivität (pro Erwerbstätigenstunde) erklären: Hierfür waren arbeitsmarktpolitische Instrumente (Kurzarbeit), der Abbau von Überstunden und tarifliche vereinbarte Arbeitsflexibilität (Abbau von Arbeitszeitkonten, Verkürzung der regulären Arbeitszeit) verantwortlich. Es konnten also quasi Arbeitnehmer in den Unternehmen gehortet werden - ein besonders in Wirtschaftsmodellen sehr sinnvolles Verfahren, in dem die Unternehmen auf betriebsspezifische Qualifikationen setzen, die bei Entlassungen verloren gehen und auch im folgenden Aufschwung im Zweifel nicht wieder zurückgewonnen werden können. Diese 'interne' Arbeitsmarktflexibilität hat dann allerdings im Aufschwung ihren Preis, weil nun selbst ein kräftiges BIP- und AV-Wachstum wie 2010 kaum neue Beschäftigung schafft, sondern zunächst Kurzarbeit ab- und Arbeitszeitkonten wieder aufgebaut werden. Wenn dennoch gerade in 2011 ein relativ kräftiger Beschäftigungsauf- und Arbeitslosigkeitsabbau stattfindet, dann allenfalls weil die Instrumente der befristeten und Leiharbeit den Beschäftigungsaufbau zeitlich etwas beschleunigen (ohne zu einem höheren Beschäftigungsniveau im Durchschnitt des Konjunkturzyklus zu führen!) und der seit 2010 einsetzende Rückgang des Arbeitskräfteangebots den Arbeitsmarkt demografisch entlastet.

Hat diese Entwicklung irgendetwas mit den Arbeitsmarktreformen der letzten Jahre zu tun? Offensichtlich nicht, denn die Wirtschaftsentwicklung in Deutschland ist wesentlich von weltmarktbedingten Nachfrageeffekten getrieben - es gibt keine Anhaltspunkte für angebotsseitige Effekte. Die Instrumente, die das 'Arbeitskräftehorten' in der Krise ermöglichten, haben nichts mit der Hartz-Gesetzgebung zu tun, sondern sind bewährte Maßnahmen der deutschen Arbeitsmarktpolitik und zeigen die Flexibilität der korporatistischen Tarifpartner an.

Die Beschäftigungs- und Arbeitslosigkeitsentwicklung seit 2010 ist ohne Zweifel positiv zu bewerten, eine offiziell registrierte Arbeitslosigkeit von 7 Prozent (bei einer 'stillen Reserve' - nicht-registrierter Arbeitslosigkeit - von mindestens weiteren 3 Prozent) ist aber weit von Vollbeschäftigung entfernt. Auch der häufig an die Wand gemalte Fachkräftemangel ist vor diesem Hintergrund unwahrscheinlich und wird auch vom Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit nirgends gesehen.

Das exportorientierte Wachstumsmodell der Bundesrepublik, das die Entwicklung der Binnennachfrage (durch entprechende Makro- und Tarifpolitik) zugunsten unterdurchschnittlich wachsender Lohnstückkosten vernachlässigt, wird einerseits nicht ausreichen, das Wirtschaftswachstum dauerhaft auf jenem Niveau zu halten, das für Vollbeschäftigung nötig ware. Gleichzeitig verschärft es die Spannungen innerhalb der Europäischen Währungsunion (EWU). Ein Umdenken in der Wirtschaftspolitik, wie ja mittlerweile auch mehr oder weniger offen von den europäischen Partnern in der EWU gefordert, ist deshalb erforderlich und dank der gegenwärtig guten Konjunkturaussichten auch machbar, wenn sich nicht die Steuersenkungsforderungen in der Regierungskoalition durchsetzen.


TABELLE: Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum in Deutschland 
 (Veränderung in Prozent)

1993
1994
1995
2003
2004
2005
2009
2010
2011
BIP              
Erw.
AV
AZ
AP
ALR*
-0,8
-1,3
  
  
  
7,6
2,7
-0,1
  
  
  
8,2
1,9
0,2
  
  
  
8,0
-0,2
-0,9
-1,4
-0,4
1,2
9,3
1,2
0,4
0,6
0,2
0,6
9,8
0,8
-0,1
-0,6
-0,5
1,4
10,7
-4,7
0,0
-2,5
-2,5
-2,2
8,2
3,6
0,5
2,6
2,1
1,0
7,7
2,8
0,9
1,6
0,7
1,2
7,0

ANMERKUNGEN: AV=Arbeitsvolumen; AZ=Arbeitszeit je Erwerbstätiger;
AP=Stundenproduktivität; * Arbeitslosenquote
Quelle: Europäische Wirtschaft, Stat. Anhang, 2010; AB-Kurzbericht 7/2011; eigene Berechnungen


Dr. Arne Heise ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg.


*


Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 3/2011, Heft 184, Seite 54-55
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. September 2011