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DISKURS/093: Die Grenzen des Wachstums (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 2/2010
Wohlstand durch Wachstum? Wohlstand ohne Wachstum? Wohlstand statt Wachstum?

Die Grenzen des Wachstums

Die Herausforderung unserer Zeit

Von Michael Müller


Wir erleben einen Epochenwechsel: Immer deutlicher zeigen sich die Grenzen des Wachstums. Das ist der Konflikt, der vom Klimawandel, über die Verknappung der natürlichen Ressourcen bis zur Finanzmarktkrise hinter den Erschütterungen und Krisen unserer Zeit steht. Diese Grenzen sind ein tiefer Einschnitt, der grundlegende Reformen notwendig macht.


Angetrieben von kurzfristigen Verwertungsinteressen liegt die Ursache in den Fehleinschätzungen der Wachstumsmöglichkeiten hoch entwickelter Industriegesellschaften. Die Folgen sind ein gewaltiger Substanzverzehr, denn in der bisherigen Form geht das wirtschaftliche Wachstum immer stärker auf Kosten der Zukunft.

Die Fixierung auf hohes Wachstum ist nicht allein mit dem Kapitalismus und seiner Geld- und Finanzwirtschaft verbunden, der dabei allerdings besonders effizient war. Die kommunistischen Planwirtschaften und die diversen "Dritten Wege" waren nicht weniger wachstumsorientiert.

Dieser Weg geht zu Ende, doch nach wie vor sind nahezu alle wirtschaftlichen und politischen Programme auf hohes Wachstum ausgerichtet. Beispiel Verkehrspolitik: Obwohl das Plateau in der Förderung von Öl erreicht ist und auch andere wichtige Ressourcen knapp werden, sind der Bundesverkehrswegeplan oder der Ausbau der Flughäfen unverändert auf ein hohes Wachstum ausgerichtet. Kurz: Die Grundlagen brechen weg, aber wir machen einfach weiter.

Doch ganz gleich, ob wir es wahr haben wollen oder nicht: Weiter auf hohes Wachstum zu setzen, ist ökologisch nicht möglich, ökonomisch immer weniger machbar und reicht von daher auch nicht mehr aus, die sozialen Aufgaben zu bewältigen. Auch die Beschäftigungsfrage kann mit Wachstum immer weniger beantwortet werden.

Der bisherige Weg, politische Entscheidungen durch die Hoffnung auf Wachstum zu ersetzen, ist zu Ende. Die Demokratie steht vor ihrer größten Bewährungsprobe. Die politische Herausforderung heißt, künftig mit niedrigen und weiter absinkenden Wachstumsraten Beschäftigung, Demokratie und Wohlfahrt zu verwirklichen und die Natur zu schützen.


Ein tiefer Einschnitt

Die Grenzen des Wachstums sind ein Einschnitt, der tiefer kaum sein könnte. Seit der Zeit der Aufklärung (Philosophie der instrumentellen Vernunft) wird mit Naturbeherrschung (Francis Bacon: "Wissen ist Macht") und der Entfaltung der Produktivkräfte (John Loke: "Wachstum bedeutet Emanzipation und Freiheit") gleichgesetzt. Das waren Grundideen der europäischen Moderne.

Seitdem stand im Zentrum politischer Entscheidungen immer stärker die Förderung von Wachstum, um den Verteilungsspielraum zu erweitern - durchaus mit Erfolg: Mehr Teilhabe, soziale Sicherheit und Aufstiegschancen sowie der Ausbau der Gemeinschaftsgüter wurden möglich und waren nicht zuletzt das Ergebnis eines hohen Wachstums.

Wachstum wurde zum Rezept für die Lösung der Probleme der Gegenwart und zum Weg in eine gute Zukunft, zum europäischen Erfolgsmodell für Wohlstand, Chancengleichheit und Demokratie.

Dagegen wurde stagnierende oder sogar sinkende Prosperität mit Schwäche und Niedergang gleichgesetzt: verödete Städte, geschlossene Theater, stillgelegte Buslinien, steigende Arbeitslosigkeit, angeschlagene Unternehmen und eine schwache Wirtschaft.

Kurz: Wachstum wurde zum entscheidenden Maßstab: Börsen und die Rating-Agenturen sprechen ein gnadenloses Urteil, wenn die Wachstumsraten in Unternehmen oder sogar Staaten sinken.

Doch die Gleichsetzung "Wachstum = Fortschritt" ist nicht haltbar. Diese Vorstellung von einem grenzenlosen Wachstum entstand in einer Welt, in der die heutigen Probleme unserer "ungleichen, verschmutzten und überbevölkerten Welt" (Brundtland-Bericht) nicht vorstellbar waren.

Angesichts der nachholenden Industrialisierung bevölkerungsreicher Staaten, der rasant schwindenden Ressourcen, gigantischer ökologischer Gefahren und einer zunehmenden Ungleichheit auf den offenen Märkten haben sich die Rahmenbedingungen grundlegend geändert. Die Fortsetzung dieses Kurses gleicht der Fahrt auf der Titanic.


Harte Wahrheiten

Die Grenzen des traditionellen Wachstumsmodells werden seit den siebziger Jahren deutlich:

• Die ökologischen Warnungen werden spätestens seit den Studien des Club of Rome 1972 verdrängt. Die massive Inwertsetzung der natürlichen Lebensgrundlagen, der den Doppelcharakter der Wirtschaft aus einerseits Reichtumssteigerung und andererseits Ausplünderung der Natur ausmacht, führt immer schneller in den Klimawandel und eröffnet durch die sich zuspitzenden Verteilungskonflikte die reale Gefahr globaler Ressourcenkriege.
• Die Fixierung auf hohes Wachstum führte seit Ende des damaligen Jahrzehnts zur Liberalisierung der Finanzmärkte und schwächte die Demokratie. Die Banken überanspruchen mit dem Ziel überzogener Renditen die Leistungskraft der Realwirtschaft. Statt den Finanzkreislauf zu sichern, wurde die Finanzwirtschaft zum Taktgeber der Wirtschaft (Arbitrage, Briefing, kurzfristige Renditen).
• Unter den Bedingungen offener Märkte führt die Fixierung auf Wachstum zu wachsender Ungleichheit und Desintegration. Weil kein Gleichgewicht geschaffen wird, nehmen die Unterschiede zwischen Arm und Reich zu.

Für die Entwicklungs- und Schwellenländer bedeutet hohes Wachstum Auf- und Einholen. In den entwickelten Industrieländern werden die Wachstumszwänge verschärft durch demografische Verschiebungen und eine langfristige ökonomische Abschwächung.

Mit den Grenzen des Wachstums ist Europa die Zukunft abhanden gekommen. So kommen heute zwei große Herausforderungen zusammen:

• Das Ende der Wachstumsepoche und
• die Schwächung Europas.

Damit bewahrheitet sich die düstere Vorhersage Theodor Adornos, dass der "Weltgeist an andere Völker übergeht". Nur so ist der Aufstieg der neoliberalen Wirtschaftspolitik zu verstehen, die versprach, zu den hohen Wachstumsraten der sechziger Jahre zurückzukehren.

Diese Ideologie wurde zu einem gigantischen Angriff auf die Zukunft, eine Party auf Kosten der Natur, der ärmeren Schichten und der Zukunft. Unter der Regie der Finanzmärkte wurde die Finanzgier zum Treiber der heutigen Probleme: ökologische Megagefahren, soziale Ungleichheiten und ökonomische Instabilitäten.

Die Konsequenzen dieser "falschen Einrichtung der Welt" (Theodor Adorno) hat zuletzt die UN-Konferenz zum Klimawandel in Kopenhagen deutlich gemacht hat. Dort kam die Blockade des Klimaschutzes (mit unterschiedlichen Begründungen) zusammen mit der Neuordnung der Welt. Europa wurde - auch durch eigene Unklarheit und mangelnde Entschlossenheit - an den Rand gedrückt:

Die Demokratie steckt in der Wachstumsfalle. Das 21. Jahrhundert wird entweder ein Jahrhundert der Nachhaltigkeit oder ein Jahrhundert der Ausgrenzung, Gewalt und Verteilungskonflikte.

Diese Herausforderung richtet sich in erster Linie an den alten Kontinent. Von Europa ist die Fortschrittsidee ausgegangen, von hier muss auch die Erneuerung ausgehen.

Vom Wachstum zur Nachhaltigkeit Die Alternative heißt Nachhaltigkeit. Dabei geht es nicht um Wachstum ja oder nein, denn die Demokratie braucht eine Veränderungsdynamik, um Wirtschaft und Gesellschaft gestalten zu können. Alain Touraine nennt das die Fähigkeit zur Selbstproduktion der Gesellschaft.

Notwendig ist jedoch eine Entwicklung, die nicht länger die Regenerationsfähigkeit der Natur und die Leistungskraft der Realwirtschaft übersteigt.

Die große Leitidee der nachhaltigen Entwicklung verbindet dauerhaft Innovationen mit sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Verträglichkeit. Sie beendet den Wachstumszwang und hebt die wirtschaftliche Entwicklung auf eine sozial und ökologisch verträgliche Ebene.

Nachhaltigkeit muss jedoch sehr viel konkreter ausgestaltet werden. Das stellt nicht nur die Frage nach der Messung und Bewertung des Wachstums neu, sondern erfordert auch die Demokratisierung der Wirtschaft, eine schnelle Überwindung des fossilen Zeitalters und eine gerechte Verteilung der Lasten in Wirtschaft und Gesellschaft - national wie international.

Die wesentlichen Bedingungen für eine Neuordnung sind

• Sozialbindung und Naturverantwortung des Eigentums;
• Regulierung der Finanzmärkte;
• nachhaltiger Wettbewerb in einer reproduktiven Wirtschaft;
• Verteilungsgerechtigkeit und Wohlfahrtsorientierung;
• Umstieg auf eine postfossile Ökonomie und Kreislaufwirtschaft;
• Ökologische Wissensgesellschaft;
• außenwirtschaftliches Gleichgewicht;
• europäische Strategie zur Sicherung und Fortentwicklung der sozialen Demokratie.,

Das wird nur zu erreichen sein, wenn es zu einer Stärkung der Demokratie kommt. Historisch hat vor allem die Arbeiterbewegung auf Wachstum gesetzt, um zu einer Vorwärtsbewegung der Gesellschaft und zur sozialen Emanzipation der Menschen zu kommen. Das war die Kultur des "Mit uns zieht die neue Zeit", die vor allem die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts geprägt hat.

Die Grenzen des Wachstums heißen nicht, dass das Ziel der "sozialen Demokratie" (Emanzipation, Freiheit und Gerechtigkeit) überholt ist. Im Gegenteil: Der Umbau in eine nachhaltige Entwicklung wird ohne soziale Demokratie und mehr Gerechtigkeit nicht möglich werden. Aber der Weg dahin muss grundlegend erneuert werden.

Die wichtigste Aufgabe der Politik ist, zu einer nachhaltigen Entwicklung zu kommen. Produktion und Dienstleistungen müssen in den Grenzen des Substanzerhalts wachsen, nicht nachhaltige Produkte, Technologien und Angebote müssen schnell und sozialverträglich schrumpfen. Das wird nur gelingen, wenn Wirtschaftswachstum nicht mehr das zentrale Ziel der Wirtschaft und das unbedingte Mittel der Politik ist.


Der Autor ist Bundesvorsitzender der Naturfreunde und Mitglied im Präsidium des DNR. Er leitet den Gesprächskreis Wachstum.


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NRO in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V. Diese Publikation wurde vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) offiziell gefördert. Der Inhalt gibt nicht unbedingt die Meinung des BMZ wieder.

Der Rundbrief des Forums Umwelt & Entwicklung, erscheint vierteljährlich, zu beziehen gegen eine Spende für das Forum.


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Quelle:
Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 2/2010, S. 5-6
Herausgeber: Projektstelle Umwelt & Entwicklung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. August 2010