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DISKURS/106: Wohlstand jenseits der Wachstumsfrage (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2011

Was ist Fortschritt?
Wohlstand jenseits der Wachstumsfrage

Von Daniela Kolbe


Die Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" soll den Stellenwert von Wachstum in Wirtschaft und Gesellschaft ermitteln, einen ganzheitlichen Wohlstands- und Fortschrittsindikator entwickeln und die Möglichkeiten und Grenzen der Entkopplung von Wachstum, Ressourcenverbrauch und technischem Fortschritt ausloten. Unsere Autorin, Vorsitzende der Kommission, zieht eine Zwischenbilanz.


Die Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" des Deutschen Bundestags tagt seit Anfang des Jahres 2011. Das ist keine Selbstverständlichkeit, denn sie berührt ein Thema von hoher politischer Brisanz, das die Bundesregierung gern klein halten möchte. Die Kommission soll die gesellschaftliche Debatte über Bedingungen und Formen eines neuen gesellschaftlichen Fortschritts in den parlamentarischen Raum übersetzen. Neben ökonomischen spielen dabei auch soziale und ökologische Fragen eine wichtige Rolle. Die schlichte Frage "Wachstum, ja oder nein?" flammt in den Debatten ebenso auf wie eher differenzierte Konzepte über Wachstumsformen, Wachstumsgrenzen und Wachstumszwänge. Bei näherer Betrachtung trifft die binäre Frage nach der Wünschbarkeit wirtschaftlichen Wachstums nicht das entscheidende Problem. Die Konzentration auf die Wachstumsdebatte verstellt den Blick für die wirklich zentrale Frage, nämlich unter welchen Umständen welches Wachstum zu mehr Wohlstand, Lebensqualität und gesellschaftlichem Fortschritt führt. Die Diskussion um einen Neuen Fortschritt sollte sich um die Verwirklichungsbedingungen dieses politischen Zielkatalogs drehen, das Wirtschaftswachstum sollte dabei nur eine dienende Funktion haben.

So weisen beispielsweise viele Ergebnisse der Zufriedenheitsforschung darauf hin, dass die materiellen, objektiven Grundlagen subjektiver Zufriedenheit keineswegs ausschließlich in der Einkommenshöhe liegen. Die Verfügbarkeit und Qualität von Arbeit etwa beeinflussen die Zufriedenheit signifikanter. Der Verlust des Arbeitsplatzes führt (auch jenseits der Einkommenseinbußen) ebenso wie eine dauerhaft entfremdende, gestaltungsarme Tätigkeit fast zwangsläufig zu schmerzvoller Unzufriedenheit. Die in den letzten sieben Jahren um das Neunfache gestiegene Zahl an Fehltagen wegen Burn-out-Erkrankungen sind nur die Spitze dieses Eisbergs.

Zudem hat die Verteilung von Einkommen und Vermögen einen hohen Einfluss darauf, wie befriedigend Menschen das Leben in einer Gesellschaft empfinden. Die Einkommensverteilung wirkt sich stärker auf die Zufriedenheit der Menschen aus als die gesamte Einkommenshöhe. Daher ist es aus Sicht einer wohlstandsmaximierenden Wirtschaftspolitik extrem fragwürdig mehr Ungleichheit für mehr Wachstum zu akzeptieren. Die Zeiten, in denen "gerechte Ungleichheiten" - auch von sozialdemokratischen Akteuren - programmatisch formuliert und teilweise auch politisch-praktisch befördert wurden, müssen deshalb der Vergangenheit angehören. Vielmehr sollten sich die Konsequenzen aus dieser Erkenntnis auch in zukünftigen Konzeptionen der Lohn-, Sozial- und Steuerpolitik niederschlagen. Eine gleichere Einkommens- und Vermögensverteilung muss als politisches Ziel wieder aktiv verfolgt werden. Natürlich gibt es neben Arbeit und Verteilung auch noch weitere Wohlstandsdimensionen, deren Wechselwirkung mit wirtschaftlichem Wachstum komplex ist, etwa Bildung, Gesundheit oder Partizipation. Eben weil Wachstum für viele dieser Wohlstandsaspekte weder automatisch positiv noch negativ ist, haben wir dringenden Bedarf an intelligenten und transparenten Messinstrumenten. Die Multidimensionalität gesellschaftlichen Wohlstands muss sich in einem ganzheitlichen Wohlstandsindikator darstellen.


Am Menschen orientierter Fortschritt

Aber Fortschritt ist nicht nur als ein Mehr an materiellem und immateriellem Wohlstand der Einzelnen zu verstehen. Er beschreibt auch die generelle Vermehrungs- und Steigerungsorientierung einer Gesellschaft vor dem Hintergrund der Idee der Beherrschung und Nutzbarmachung der Natur. Ein nicht-reflexiver Fortschrittsbegriff, der die Ideologie der sich selbst legitimierten Beschleunigung ohne konkretes äußeres Ziel einfach in ein neues Jahrtausend und dessen gesellschaftliche Verhältnisse hinüberretten will, muss scheitern.

Ein zeitgemäßer Fortschritt ist ein am Menschen orientierter Fortschritt, der dem oder der Einzelnen nicht als abstrakter Imperativ gegenübertritt, sondern als konkrete Verbesserung der eigenen Lebenssituation durch und im Einklang mit einem besseren Leben Aller. Die Ausgestaltung eines solchen Fortschrittsbegriffs bedarf einer gesellschaftlichen Debatte auch darüber, wo über die materielle Dimension hinaus Verbesserungen zu erzielen sind. Im Konkreten stellt sich diese Herausforderung beispielsweise bei der Bürgerbeteiligung an Infrastrukturprojekten oder kommunalen Haushalten. Aber auch der Fokus auf Arbeitsproduktivitätsorientierung unserer Gesellschaft muss an dieser Stelle auf den Prüfstand. Diese Fokussierung führt neben potenziellem Wachstum auch zu einer stärkeren Verdichtung von Arbeit.

Welche Folgen leiten sich aus diesem Spannungsverhältnis etwa in der Frage der Zeitsouveränität oder generellen Arbeitszeitverkürzung ab? Wie vertragen sich privates Lebensglück in Familie und Freundeskreis oder ein lebendiges bürgerschaftliches Engagement mit einem entgrenzten Arbeitszeitregime? Die Zeiten, in denen das Fortschrittsverlangen der Menschen allein durch längere Straßennetze, größere Häuser und schnellere Flugzeuge gestillt werden konnte, sind vorbei. Neuer Fortschritt ist nur dann ein erfolgversprechendes Konzept, wenn er diese Dialektik aufnimmt und produktiv umsetzt.

Die Achtung der naturräumlichen Belastungsgrenzen unseres Planeten und der sorgsame und weitsichtige Umgang mit Ressourcen sind zentrale Bestandteile eines solchen Konzepts. Noch immer sind die externen Kosten, die durch Umweltzerstörung und Ressourcenverbauch entstehen, nur unzureichend in den Produktionskosten der Unternehmen internalisiert. Die stärkere Verankerung des Verursacherprinzips wäre aber nicht nur ökologisch sinnvoll, sondern auch wirtschaftlich. Internationaler Wettbewerb wird absehbar stärker auf dem Feld der Ressourcenproduktivität stattfinden. Die hiesigen Unternehmen wären darauf besser vorbereitet, wenn wir die kommenden Steigerungen der Rohstoffpreise antizipieren und steuerlich einpreisen würden, um somit den Wettbewerb im Bereich der Ressourceneffizienz schon heute zu verschärfen. Dabei gehört grundsätzlich auch die Subventionierung energieintensiver Industrien auf den Prüfstand, etwa im Bereich der Ökosteuer. Vor dem Hintergrund möglicher Verlagerungseffekte in Richtung ökologisch und sozial schlechter regulierter Produktionsstandorte ist dabei aber eher das steuerpolitische Skalpell als der Holzhammer gefragt. Neben den Anreizen und Steuern für Unternehmen brauchen wir auch im Konsumentenbereich weitere entsprechende Lenkungsinstrumente.


Eine Zwischenbilanz der Enquete-Kommission

Vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Herausforderungen, die sich mit dem Konzept eines Neuen Fortschritts verbinden, ist die Zwischenbilanz der Enquete-Kommission ermutigend. Obwohl die schriftliche Ausformulierung der Diskussionsergebnisse der einzelnen Projektgruppen noch aussteht, wurde in den bisherigen Debatten schon eines deutlich: Ein traditioneller Wachstumspfad, der auf besinnungslose Anhäufung von Geld und Gütern unbesehen der sozialen und ökologischen Konsequenzen abzielt, ist nicht mehr mehrheitsfähig.

Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise, die derzeit in Gestalt einer Währungskrise wieder aufflammt, hat diesen Erkenntnisprozess ohne Zweifel beschleunigt. Aber auch die immer knapper werdenden Ressourcen, der irreversible Klimawandel und das durch die Fukushima-Katastrophe so dramatisch dokumentierte Ende des Atomzeitalters bezeugen die ökologischen Grenzen unserer gegenwärtigen Wirtschaftsweise und prägen die Debatten der Kommission. Zudem geht auch die demografische Entwicklung in Deutschland und Europa in unsere Erörterungen der Rahmenbedingungen zukünftigen Wohlstands ein. Die Diskussion um das Wachstums- und Wohlstandsverhältnis ist also keineswegs eine rein akademische Debatte, sie ist tief geprägt von den Krisen unserer Zeit, die nach Antworten verlangen.

Natürlich stellt auch die internationale Debatte um die Reform des Wirtschaftsberichtswesens eine wichtige Grundlage unserer Beratungen dar. Die Enquete-Kommission ist ein Beitrag Deutschlands zur "Beyond GDP"-Diskussion, die mittlerweile auch internationale Institutionen wie EU oder OECD und diverse Foren der Zivilgesellschaft erfasst hat. Tatsächlich ist die Kritik an den Schwachstellen des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und insbesondere an dessen missbräuchlicher Verwendung als allgemeiner Maßstab für das Wohlergehen einer Gesellschaft ein weitestgehender Konsens in der Kommission. Das Vorhaben, dem BIP einen oder mehrere Wohlstandsindikatoren zur Seite zu stellen, wird grundsätzlich von allen Enquete-Mitgliedern geteilt. Die zuständigen Sachverständigen und Abgeordneten befinden sich momentan in der Phase einer konstruktiven Auseinandersetzung um das "Wie".

Viele der Kommissionsthemen haben eine hohe politische Brisanz, daher sind Konflikte programmiert. Ein großer Streitpunkt ist das Ausmaß von Kosten und Nutzen des Wachstums. In der eingangs beschriebenen Wachstumsfrage reicht das Spektrum von euphorischen Befürwortern bis annähernd zur Generalkritik. Neben der generellen Wünschbarkeit ist auch die Machbarkeit zukünftigen Wachstums umstritten, etwa im Hinblick auf die Auswirkungen der gesellschaftlichen Alterung. Zudem stehen die Konsequenzen in Frage. Was tun, wenn das Wachstum geringer ausfällt oder gar ausbleibt: verschärfter Konkurrenzkampf, Umverteilung oder allgemeiner Verzicht? Die Möglichkeiten der absoluten Entkopplung des Wachstums von Ressourcenverbrauch und Umweltzerstörung sowie die besten Wege dahin sorgen auch für Zündstoff. Die Frage, ob reine Marktmechanismen genügen, ob diese durch Steuern, Subventionen und Anreizsysteme verstärkt werden sollten oder in welchem Maße auch das klassische Ordnungsrecht erweitert werden muss um Entkopplung zu gewährleisten, ist trotz ähnlich lautender Zielformulierung aller Beteiligten umstritten.


Neue Fortschrittsvision auf einen begrifflichen Nenner bringen

Die Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" ist ein wichtiges, aber nicht das ausschließliche Forum für die Debatte um den Neuen Fortschritt. Eine große Herausforderung besteht in der Koordination und abgestimmten Artikulation der Beiträge in all diesen Foren. Aus Sicht der Sozialdemokratie ist es wünschenswert, die Zielvision konzeptionell und begrifflich klar zu fassen. Mit einer klar formulierten Position lassen sich auch die Differenzen zur politischen Konkurrenz schärfer konturieren. Welcher Begriff sich am besten eignet um ein sozialdemokratisches Konzept reflexiven Fortschritts und ganzheitlichen, nachhaltigen Wohlstands begrifflich zu fassen, steht noch zur Debatte.


Daniela Kolbe (* 1980) MdB, ist Vorsitzende der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" des Deutschen Bundestages.
daniela.kolbe@bundestag.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2011, S. 38-41
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Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. November 2011