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FRAGEN/012: Steuerreformen für eine "grüne" Wirtschaft - Interview mit CEPAL-Chefin Bárcena (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 11. April 2012

Entwicklung: Steuerreformen für eine 'grüne' Wirtschaft - Interview mit CEPAL-Chefin Bárcena

von Rousbeh Legatis


Alicia Bárcena - Bild: © Rousbeh Legatis/IPS

Alicia Bárcena
Bild: © Rousbeh Legatis/IPS


New York, 11. April (IPS) - Von dem bevorstehenden Rio+20-Gipfel erhofft sich die Exekutivsekretärin der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik CEPAL), Alicia Bárcena, wichtige Impulse für die nachhaltige Entwicklung in der Region. Sie rät zu Steuerreformen, um den Übergang zu einem 'grünen' Wirtschaftsmodell zu finanzieren.

Nach dem so genannten verlorenen Jahrzehnt der achtziger Jahre hätten Lateinamerika und der Karibikstaaten eine Zeit voller "Licht und Schatten" erlebt, sagte die Mexikanerin im Interview mit IPS. "Die wahre Fortschritt im sozialen Bereich hat sich im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts eingestellt", meinte Bárcena. Lebten früher 44 Prozent der Lateinamerikaner in Armut, seien es im vergangenen Jahr nur noch 31 Prozent gewesen.

Doch noch immer sind 177 Millionen in der insgesamt 600 Millionen Menschen zählenden Region arm. Im Vorfeld des Gipfeltreffens im Juni haben 19 UN-Organisationen in einer gemeinsamen Untersuchung die Fortschritte und Herausforderungen der vergangenen 20 Jahre unter die Lupe genommen.

Mit IPS sprach die CEPAL-Chefin über die Perspektiven für nachhaltige Entwicklung in ihrer Region, über die historische Chance, auf dem Rio-Gipfel die Strukturen der Weltordnungspolitik zu hinterfragen sowie über die Rolle des Südens bei der Lösung künftiger globaler Probleme.

IPS: Was sind die größten Gefahren für Lateinamerika und den Karibikraum?

Alicia Bárcena: Eines der Alarmzeichen ist der allgemeine Rückgang der Geburtenraten und die Zunahme von Teenager-Schwangerschaften. Diese jungen Mütter sind in der Regel arm. Das ist sehr heikel. Wenn unsere Region nicht in Kinder bis zum Alter von fünf Jahren investiert, wird die Zukunft der Region von Armut bestimmt sein.

Wir haben außerdem untersucht, warum Lateinamerika und die Karibik am anfälligsten für die bis 2050 erwarteten Folgen des Klimawandels sind. Man muss nur extreme Wetterphänomene und Naturkatastrophen wie Hurrikane, Erdbeben und Überschwemmungen als Beispiele nehmen. Am stärksten wird Zentralamerika auf der Atlantikseite betroffen sein, außerdem Mexiko am Karibischen Becken, einige am Pazifik gelegene Gebiete von Ecuador, Peru und Kolumbien sowie die uruguayische Hauptstadt Montevideo und ihr Hafen am Atlantik.

Vom sozialen Gesichtspunkt her haben sich die Armutsraten zwar verbessert. Arbeitslosigkeit bleibt jedoch ein sehr großes Problem in Lateinamerika und der Karibik. Verglichen mit Europa und den USA ist die Rate mit 6,6 Prozent zwar relativ niedrig. Das Problem liegt aber darin, dass es sich oft um Beschäftigung im informellen Sektor handelt, der keine soziale Absicherung bietet. Die Ungleichheit zu verringern ist ebenso wichtig wie die Armut zu reduzieren.

IPS: Die Wirtschaft in der Region stützt sich im Wesentlichen auf den Abbau und den Export von Rohstoffen und anderen natürlichen Ressourcen aus der Landwirtschaft. Die Nachfrage aus Asien lässt das Bruttoinlandsprodukt der lateinamerikanischen Staaten wachsen. Welche Auswirkungen könnte eine 'grüne' Wirtschaft haben?

Bárcena: Der Reichtum an natürlichen Ressourcen muss als Segen betrachtet werden. Der Fluch besteht darin, dass es keine politischen Strategien gibt, um damit umzugehen. Wir müssen die Einnahmen aus der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen in andere Bereiche investieren, um andere Kapital- und Produktivitätsformen für künftige Generationen aufzubauen. Dies sollte mit der geringstmöglichen Belastung für die Umwelt geschehen. Die Einkünfte müssen gerecht verteilt werden, und wir brauchen bessere Mechanismen, um dies zu garantieren.

Wir diskutieren über den Umgang mit natürlichen Ressourcen. Was haben Länder wie Norwegen, Finnland, Australien und Neuseeland getan, um einen solchen Reichtum daran zu haben? Sie haben dank der Einnahmen aus ihren natürlichen Ressourcen den Übergang zu einer mehr an Technologien orientierten Gesellschaft geschafft.

IPS: Die Erfahrungen mit einer 'grünen' Wirtschaft beschränken sich bisher auf Fallstudien. Wie können Regierungen Freiräume finden, um Steuer- und Subventionssysteme zu reformieren?

Bárcena: In unserer Region wird über den Begriff 'grüne' Wirtschaft heftig gestritten. Darin wird ein Trend gesehen, der uns von den Industriestaaten im Norden aufgezwungen wird, ohne dass auch entsprechende Mechanismen und eine Finanzierung für den Übergang empfohlen werden. Zudem bleibt die Frage unbeantwortet, wer für den Übergang zu dieser neuen Wirtschaftsform zahlen wird. Auch die Furcht vor Protektionismus spielt eine Rolle.

Was können Regierungen tun? Ich glaube an eine Steuerreform, mit der ein starkes Signal gegeben werden kann. Um Erfolg zu haben, muss eine solche Reform durch einen Konsens erreicht werden. So etwas kann von uns nicht vorgeschrieben werden. In der internen Diskussion muss nun geklärt werden, was die Gesellschaft für diesen Übergang zu zahlen bereit ist.

IPS: Welche Lösungen können gefunden werden?

Bárcena: Wir versuchen den Regierungen zu erklären, dass sie vor allem in Bereiche investieren sollten, die für die Bevölkerung essentiell sind. Dazu gehören Strom, Trinkwasser, Breitband-Internetzugang, öffentliche Verkehrsmittel und intelligente Baumethoden.

Warum sollten wir nicht Häuser bauen, in die Solarzellen, Klimaanlagen und Beleuchtung bereits integriert sind? In Lateinamerika und in der Karibik haben wir den Raum, Dinge zu verbessern.

Auch Cash-Transfer-Programme wie 'Bolsa Familia' in Brasilien haben großen Erfolg gehabt. Diesem Programm ist es zu verdanken, dass 20 Millionen Brasilianer in den vergangenen zehn Jahren einen Weg aus der Armut gefunden haben. Wenn solche Programme über die Bereiche Bildung und Gesundheit hinaus erweitert werden, können Nachhaltigkeitsmaßnahmen eingeschlossen werden. Man sagt dann den Menschen: "Wir geben euch Geld, aber dafür müsst ihr die Böden schützen."

IPS: In dem UN-Bericht schreiben Sie, dass Industrieländer ihren Verpflichtungen, für eine Finanzierung zu sorgen und eine Führungsposition einzunehmen, nicht nachkommen. Können Sie das genauer erklären?

Bárcena: Die Industrieländer haben sich dazu verpflichtet, 0,7 Prozent ihres Bruttonationaleinkommens für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (ODA) bereitzustellen, um dem Süden Finanzmittel zur Entwicklung bereitzustellen. Zurzeit beträgt der Anteil erst 0,33 Prozent, das entspricht der Hälfte der zugesagten Unterstützung.

Angesichts der Finanzkrise ist dieses Ziel sicherlich nur sehr schwer in kurzer Zeit zu erreichen. Dennoch muss man sich vor Augen halten, dass die traditionellen Industriestaaten ihren Fortschritt durch einen hohen Konsum von Energie und Ressourcen unseres Planeten erreicht haben. Den Entwicklungsländern nun Vorschriften zu machen, ist unfair und kostspielig.

Der Nord-Süd-Transfer ließe sich auch durch die gemeinsame Nutzung von Know-how und Technologien erreichen. Deswegen sind wir davon überzeugt, dass Patente, Fortbildungen und der freie Wissensaustausch nützlich sein könnten. Auch Investitionen in Wissenschaft, Technologie und Innovationen sind ausschlaggebend für den Übergang zu einer nachhaltigen Entwicklung.

IPS: Was sollte sinnvollerweise bei dem Rio+20-Gipfel herauskommen?

Bárcena: Eine Einigung über die Ziele der nachhaltigen Entwicklung. Alle Institutionen und die Allgemeinheit stehen unter Druck, diese Ziele zu erreichen. Wir schlagen außerdem vor, dass die Tobin-Steuer auf finanzielle Transaktionen der nachhaltigen Entwicklung zugute kommen sollte. Mit einer Steuer von 0,0005 Prozent könnten wir einen guten Geldbetrag zusammenbringen, um der Welt einen Übergang zu ermöglichen.

Außerdem brauchen wir eindeutige Finanzierungsinstrumente und Mechanismen für den Technologietransfer sowie funktionierende Institutionen. Unserer Ansicht nach sollte überdies der UN-Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSO) gestärkt werden. (Ende/IPS/ck/2012)

Links:
http://www.eclac.cl/publicaciones/xml/8/46098/2012-66_RIO+20-INGLES-WEB.pdf
http://www.uncsd2012.org/rio20/index.html
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=107296

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 11. April 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. April 2012